Geschichte eines Habenichts

09.01.2013
Die Erzählung des Schriftstellers Jean Paul um den ärmlichen, aber erfinderischen Dorfschulmeister Wutz wurde zu einem Lieblingsbuch des 19. Jahrhunderts. Für heutige Leser ist die komplexe Sprache eine Herausforderung. Dennoch hat Pauls Werk seine Reize.
Maria Wutz ist ein Habenichts und Armeleute-Sohn. Nach dem frühen Tod des Vaters wird er an dessen Stelle selbst zum noch jugendlichen Dorfschulmeister. Nur im Winter unterrichtet er allerdings; im Sommer, wenn die Kinder auf den Feldern mitarbeiten, schnitzt er Kochlöffel.

Bei dem frohgemuten Wutz ist das Bett der Rückzugsort, der ihm auch an "Hatztagen" immer sicher ist, wenn die ganze Erde ein "Hatzhaus" ist: "Abends lieg' ich auf alle Fälle, sie mögen mich den ganzen Tag zwicken und hetzen, wie sie wollen, unter meiner warmen Zudeck und drücke die Nase ruhig ans Kopfkissen..."

Die Idylle ist stets gefährdet, wie die Durchblicke auf das prekäre Landschulmeister-Milieu zeigen. Der bibliophile Wutz ist so arm, dass er sich keine Bücher kaufen kann. Die wichtigen Neuerscheinungen wie Lavaters "Physiognomische Fragmente", Kants Kritiken oder Schillers "Räuber" schreibt er sich einfach selbst, will sagen: Er schreibt sie nicht ab, sondern erfindet sie nach Gusto selbst, sodass aus Werthers "Leiden" schon mal "Freuden" werden. Weil er die Welt nicht gesehen hat, kann er auch Cooks Reisebeschreibungen verfassen, denn das Wichtigste sei auch bei der Sachliteratur die produktive Imagination: "Woll' er mithin etwas Gescheites lesen, zum Beispiel aus der praktischen Arzneikunde und aus der Kranken-Universalhistorie: so müss' er sich an seinen triefenden Fensterstock setzen und den Bettel ersinnen." Der "Wutz" funkelt von solchen genialisch-gewitzten Formulierungen.

Der alte Vorwurf der Vergoldung des Elends und der Preisung des kleinen Glücks im Winkel trifft dieses kuriose Erzählwerk nicht. Zu exzentrisch, fantastisch und sonderlingshaft kommt die Hauptfigur daher. Not und Tod bilden den düsteren Horizont, vor dem die besondere Wutzische Lebenskunst zur Wirkung kommt. Seine Techniken der Vorfreude und des retrospektiven Glücks werden vor allem anhand zweier Abschnitte seines Lebens geschildert: den acht strahlenden Frühlingswochen, die seiner Hochzeit mit Justina vorausgehen, sowie den Tagen des Sterbens und der finalen Kindheitserinnerungen.

Auch die Hochzeit ist von Mangelwirtschaft und Improvisation geprägt. Aber für Wutz wird die Vorbereitungszeit zu einem geradezu psychedelischen Fest der Vorfreude, voller Entzücken, Blumenduft und Vogelsang. Von der Ehe selbst ist in der Lebensbeschreibung nicht die Rede. Vier Jahrzehnte werden übersprungen; auf die Hochzeit folgt schon der Tod. Der Erzähler ist ins Haus des vom Schlag getroffenen Dorflehrers gekommen, um dessen kuriose Bibliothek in Augenschein zu nehmen - soweit der äußere Erzählanlass. Bei der Sterbeszene packt den Erzähler ein Gefühl durchdringender Nichtigkeit.

Der "Wutz" wurde zu einem Lieblingsbuch des 19. Jahrhunderts. Für heutige Leser ist es eine Herausforderung. Die komplexen Sätze voller Anspielungen und Metaphern, die Assoziationswildnisse erschließen sich nur bei konzentriertem Lesen. Jean Pauls überbordende Schreibweise mit ihrem Höhenflug des Enthusiasmus widerspricht allen heutigen Stil-Idealen der Knappheit, Lakonie, Zurückgenommenheit, Verständlichkeit. Aber das Ungewöhnliche hat seine Reize: Der "Wutz" wartet auf mit anmutigem und geistreichem Tonfall-Zauber, mit ebenso liebenswürdigem wie abgründigem Humor. Beatrix Langner spricht im Nachwort von einer "Ästhetik im Kirschkern" - die Weiten des Jean Paulschen Erzählwerks liegen im "Wutz" gleichsam schon eingefaltet.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Jean Paul: Leben des vergnügten Schulmeisterleins Maria Wutz in Auenthal. Eine Art Idylle.
C.H. Beck, München 2012
96 Seiten, 14,95 Euro