Geschichte eines epochalen Werkes

Rezensiert von Paul Stänner · 25.08.2005
Philipp Blom hat die Geschichte dieses epochalen Werkes nachgezeichnet, das Denis Diderot und seine Mitstreiter verfasst hatten. Diderot hatte darin die Arbeit beschrieben, die ihn 25 Jahre lang mit dem damals wohl monströsesten literarischen Projekt verbunden hatte - der Encyclopédie.
Tatsächlich zielt eine Enzyklopädie darauf ab, die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse zu sammeln, ...damit unsere Enkel nicht nur gebildeter, sondern zugleich auch tugendhafter und glücklicher werden, und damit wir nicht sterben, ohne uns um die Menschheit verdient gemacht zu haben.

Denis Diderot hat diesen Lexikoneintrag verfasst und damit die Arbeit beschrieben, die ihn 25 Jahre lang mit dem damals wohl monströsesten literarischen Projekt verbunden hatte - der Encylopédie.

Philipp Blom, ein in Hamburg geborener, in Paris lebender, englisch schreibender Historiker und Romancier (Globalisierung wohin man blickt!) hat die Geschichte dieses epochalen Werkes von Denis Diderot und seinen Mitstreitern nachgezeichnet.

Die Encyclopédie von 1745 war freilich nicht das erste Projekt seiner Art. Die Geschichte einiger thematisch mehr oder weniger eingeschränkter Vorläufer kann man bei Blom auf wenigen Seiten nachlesen. Eigentlich sollte die französische Encyclopédie, so die Spekulation der auftraggebenden Buchhändler, nur die Übersetzung eines englischen Wörterbuches sein. Dafür waren der Philosoph Diderot und der Mathematiker d'Alembert angeheuert worden. Um diese beiden sammelte sich eine Gruppe von Autoren, die das Projekt vorantrieben. Jean-Jacques Rousseau gehörte eine Zeit lang dazu, aber auch zwei Deutsche, Melchior Grimm und der Baron d'Holberg.

Dass dieses Nachschlagewerk ein Vehikel der Aufklärung war - und damit der Kirche, namentlich den Jesuiten verhasst - zeigt der Eintrag über den Philosophen, den vermutlich ebenfalls Diderot geschrieben hat:

"Die anderen Menschen lassen sich durch ihre Leidenschaften hinreißen... wogegen der Philosoph immer, auch in seinen Leidenschaften, erst aufgrund einer Überlegung handelt. Er sucht den Weg in der Nacht, aber ihm leuchtet eine Fackel voraus."

Das Licht, das die Dunkelheit der religiösen Dumpfheit erhellt, ist ein beliebtes Bild für das Wirken der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Das wussten auch die Gegner der Enzyklopädie, die das Unternehmen nach besten Kräften zu vereiteln trachteten.

Kein Mensch hat von der Natur das Recht erhalten, den anderen zu gebieten.

Ein solcher Satz unter der Rubrik "Naturrecht" war nicht eben eine Freude der Mächtigen. Doch der Zufall wollte es, dass der königliche Zensor, der über die Enzyklopädisten wachte, innerlich wohl eher die Seiten gewechselt hatte - er war ein heimlicher Förderer des Unternehmens.

Blom stellt uns die treibenden Kräfte der Enzyklopädie vor. Und es zeigt sich, dass hinter diesem grauen Werk der Wissenssammlung ein Haufen farbiger Figuren steckt. Diderot mit seiner nörgelnden Frau in einer schrecklichen Ehe, mit seiner Geliebten und deren auch recht liebevoller Schwester; Melchior Grimm im Koma seines Liebesunglücks und die späte Heilung, überhaupt das erotische Durcheinander einer moralisch recht zackig geordneten Gesellschaft; Jean-Jacques Rousseau mit Blasenproblemen und zunehmendem Verfolgungswahn, der gastfreie Baron d'Holberg und der trockene, unermüdliche Chevalier de Jaucourt, der auf eigene Kosten ein ganzes Büro anstellte, um die Unmenge seiner Lexikonbeiträge verfassen zu können: 17 266 Artikel.


Er verdiente nichts, opferte große Teile seines Vermögens und beförderte das Werk auch dann, wenn die eigentlichen Herausgeber gerade mit Eskapaden beschäftigt waren. Man spürt in jedem Kapitel, welche Freude es dem Historiker und Romancier Blom gemacht hat, diesen Pariser Kosmos des 18. Jahrhunderts zu schildern – ausgestattet mit umfassender Quellenkenntnis und einer wunderbar britischen Lust am Erzählen.

Erstes Beispiel: Diderot hatte in einem frühen Werk die Kirche angegriffen. Das Buch wurde dazu verurteilt, vom Henker zerrissen und verbrannt zu werden. Dazu Blom:

"Bücherverbrennungen waren damals eine gängige Praxis und immer noch besser als die Verbrennung der Autoren."

Was einerseits die Wahrheit trifft und andererseits hübsch britisch-humorvoll formuliert ist. Über Diderots Kompagnon d’Alembert ist zu lesen:

"Als Mademoiselle Lespinasse 1776 erkrankte und starb (ihre unsterblichen letzten Worte lauteten: "Lebe ich noch?") verfiel er in tiefe Trauer."

Was vermutlich nicht der Fall gewesen wäre, hätte ihm Philipp Blom die Todesnachricht überbracht. Am Ende steht die Abrechnung - buchhalterisch genau werden Ausgaben und Einnahmen aufgelistet, Gewinne verteilt, Lebensläufe zu Ende geführt und Bilanz gezogen:

"Die große Encyclopédie von Diderot und d’Alembert markiert einen Wendepunkt in der Geschichte: Den Augenblick, da neue Ideen den Sieg über Frömmelei und Rechtgläubigkeit davontrugen. Die Enzyklopädisten hätten sich kein schöneres Denkmal wünschen können."


Philipp Blom: "Das vernünftige Ungeheuer. Diderot, d’Alembert, de Jaucourt und die Große Enzyklopädie". Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Die Andere Bibliothek, Band 243, Eichborn Verlag Frankfurt/Main 2005, 465 Seiten, 30,- €