Geschichte eines Einzelgängers

Rezensentin: Edelgard Abenstein · 18.07.2005
Voller Wärme und vor deutlich autobiographischem Hintergrund erzählt Maarten’t Hart in "Die Jakobsleiter" die Geschichte eines Einzelgängers von der Pubertät bis zum Erwachsenwerden. Die schöne Landschaft in der Provinz kontrastiert allerdings mit der strengen Sprache der Gesetze, die sich die Menschen auferlegt haben.
Als 1997 Maarten't Harts Thriller "Das Wüten der ganzen Welt" in deutscher Übersetzung erschien, waren sich die Kritiker in ihrem Lob einig. Auch die folgenden Romane "Die Netzflickerin", "Die schwarzen Vögel" sowie "In unnütz toller Wut" wurden nicht nur hierzulande zu Bestsellern. Seither nimmt der Autor einen festen Platz in der ersten Reihe niederländischer Autoren ein, neben Cees Nooteboom, Harry Mulisch und Leon de Winter. Mehr als eine Million Exemplare seiner Bücher verkauften sich mittlerweile allein in Deutschland. Jetzt wurde mit dem 1986 entstandenen Roman "Die Jakobsleiter" eines seiner Frühwerke für den hiesigen Markt entdeckt. Auch hier geht es um biblische Themen wie Schuld und Sühne, Verdammnis und Versöhnung. Auch dieser Roman spielt in den 50er Jahren in dem kleinen Ort Maassluis, wo Maarten't Hart 1944 geboren wurde und als Sohn eines Totengräbers in einem strenggläubigen calvinistischen Milieu aufgewachsen ist.

"Ich fühlte mich für etwas schuldig, das ich nie würde gutmachen können." Der elfjährige Adriaan sieht sich mit einem Schlag in einer ausweglosen Situation, die jahrelang sein Leben bestimmen wird: Ein Junge fällt am Anleger zwischen Kaimauer und Schiff und gerät in die Schiffsschraube. Ein dramatischer Vorfall, bei dem man Adriaan zunächst selbst für den Toten hält. Er hatte den Tag jedoch mit der jungen Klaske verbracht. Auch diese Begegnung wird sein Leben prägen.

Voller Wärme und vor deutlich autobiographischem Hintergrund erzählt Maarten’t Hart die Geschichte eines Einzelgängers von der Pubertät bis zum Erwachsenwerden. Die schöne, schwelgerisch geschilderte Landschaft in der Provinz kontrastiert aufs Heftigste mit der strengen Sprache der Gesetze, die sich die Menschen auferlegt haben. Wo die Unnachgiebigkeit der christlichen Orthodoxie herrscht, ist der Glaube nicht froh, sondern bitter. Aus der Perspektive des Jugendlichen nimmt sich diese Variante der Religion wie eine Groteske aus, besonders als in der Gemeinde ein Streit ausbricht zwischen Alt- und Neu-Reformierten, Pfingstlern und Lutheranern. Manche sind dabei "noch orthodoxer als der liebe Gott". Dabei geht es keineswegs betulich oder verstaubt zu. Immer findet sich Platz für Witz und Spott. Unwiderstehlich ist die Beschreibung der drei Jungen, die einen Bibelcode erfinden, um während endloser Predigten unerkannt Blindschach zu spielen.

Maarten't Hart ist ein Autor, der seinen Hauptfiguren gerne persönliche Ticks, Aversionen, ja Wahnvorstellungen mitgibt - Seitenhiebe gegen die Borniertheit und die sektiererische Religiosität in den Niederlanden. Wie in seinen späteren Büchern dient ihm auch in diesem frühen der Plot als Vorwand. Statt die Handlung voranzutreiben, lässt er sich Zeit und verweilt in Nebenepisoden, die der eigentliche Reiz des Buches sind. Genuss bereiten Charaktere und Situationen, die auf das Anschaulichste und mit ausgeprägter Lust am Skurrilen geschildert werden - etwa die Begegnungen zwischen dem Pubertierenden und seinem altersweisen, kecken Großvater.

Der Titel "Die Jakobsleiter" spielt auf eine Vision aus dem Alten Testament an. Jakob, der Stammvater Israels, hat sich den Segen seines blinden Vaters mithilfe eines Tricks erschlichen. Als er vor dem Zorn seines Zwillingsbruders Esau flieht, dem dieser Segen eigentlich zugeständen hätte, erscheint ihm im Traum eine Leiter, die direkt in den Himmel und zu Gott führt. Bei Maarten't Hart ist die Jakobsleiter natürlich eine Metapher der komfortablen Erlösung. Aber sie ist auch ein Weg zu allerlei Erfahrungen und Erkenntnissen. So führt sie, wie es sich gehört für einen ordentlichen Bildungsroman, vom Dunklen ins Offene, von den Behinderungen durch ein bigottes, religiös-eiferndes Milieu in ein freies selbstbestimmtes Leben. Selbst eine vermeintliche Panne der Vorsehung, so die leichthändig formulierte Botschaft des Romans, schließt ein glücklich-komisches Ende nicht aus.

Maarten ’t Hart, Die Jakobsleiter. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Piper-Verlag. München 2005. 349 Seiten. 13 Euro.