Geschichte eines Charakters

09.07.2009
Rudolf Bultmann war der bedeutendste deutsche Vertreter der protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert. Jetzt, mehr als 30 Jahre nach seinem Tod im Jahr 1976, legt Konrad Hammann die erste umfassende Biographie dieses Denkers unter dem Titel "Rudolf Bultmann. Eine Biographie" vor.
Konrad Hammann ist Theologe der Universität Münster. Die von ihm verfasste Biographie führt den Leser in eine untergegangene Welt. Denn Bultmann, der 1884 als Kind einer norddeutschen Pfarrersfamilie geboren wurde, wuchs auf in einer Zeit, in der es noch eine bedeutende protestantische Intellektualität gab. Die Theologen galten etwas an den Universitäten und beim bürgerlichen Publikum. Für die Selbstverständigung der Nation war es nicht gleichgültig, was vom Neuen Testament gesagt wurde. Und der Widerstreit von Glauben und Wissen, von überlieferter Selbstauslegung des Menschen und moderner Gesellschaft war noch nicht eindeutig zugunsten der letzteren entschieden.

Konrad Hammann hat eine umfassende, akribisch recherchierte, gut lesbare und klug gegliederte Biographie dieses Gelehrtenlebens geschrieben. Denn das war es, das Leben eines Gelehrten, für den die große Krise seiner Epoche keine politische, wirtschaftliche oder soziale war, sondern der Widerspruch zwischen der historischen Erkenntnis und dem Glauben. Man wusste seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu viel über die Geschichte des Frühchristentums, um einfach naiv weiter am Zeugnischarakter der Jesusgeschichten hängen zu können. Die Religion drohte in die Vergangenheit zu verschwinden wie jener Scheinriese aus dem Kinderbuch, der umso kleiner wurde, je mehr man sich ihm näherte.

Bultmann setzte dem zweierlei entgegen. Zum einen die Entmythologisierung der heiligen Schriften, deren Bildwelt strikt auf ihre Verständlichkeit für den modernen Menschen zu prüfen sei. "Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen", formulierte Bultmann, "und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben". Zum anderen gehe es darum, den religiösen Zeugnissen zu entnehmen, welches Verständnis menschlicher Existenz sich in ihnen und im Glauben an Gott ausspreche. In Marburg, wo er fast Zeit seines Lebens lehrte, war Bultmann 1924 dem Philosophen Martin Heidegger begegnet, und dessen Lehre vom Wesen Mensch, dem es in seinem Dasein um dieses Dasein selbst geht, prägte Bultmanns Theologie tief.

Anders als Heidegger aber, das zeigt Hamann gut, zog der Theologe aus dieser Lehre und ihrer Vorstellung von einem "eigentlichen Dasein" kein Ressentiment gegen die eigene Zeit. Die Sündhaftigkeit der Existenz war für den Protestanten kein Anlaß zu expressionistischen Gesten des Ausbruchs und Aufbruchs. Anders als Heidegger war Bultmann darum auch keine Sekunde lang von der nationalsozialistischen Versuchung gefährdet, man könne in einer Art Amoklauf zur Utopie den Durchbruch zum eigentlichen Leben erzwingen. Zu den bewegendsten Passagen dieser Biographie gehört die Schilderung von Bultmann während der NS-Zeit: integer ohne Widerstandspathos, insistent, bockig. Das Beste des deutschen Gelehrtenstandes zeigte sich in diesem Professor. Man liest insofern in diesem herausragenden Buch nicht nur die Geschichte eines Problems, der Vereinbarkeit von historischer Aufgeklärtheit nämlich und religiösem Bekenntnis, sondern auch die Geschichte eines Charakters.

Besprochen von Jürgen Kaube

Konrad Hammann: Rudolf Bultmann. Eine Biographie
Mohr Siebeck, Tübingen 2009
582 Seiten, 49 Euro