Geschichte eines Außenseiters

Keine Angst, obwohl Jacques Roubaud bis heute der 1960 gegründeten Gruppe Oulipo angehört, hat sein Roman "Der verlorene letzte Ball" nichts mit der experimentellen Literatur jener Jahre zu tun. Er ist kein Exempel des handlungsarmen "Nouveau Roman" oder strukturalistischer Sprachexerzitien, wie sie damals en vogue waren. Was er erzählt, ist eine geradezu biblisch schlichte wie psychologisch hochkomplexe Geschichte von großer Überzeugungskraft.
Der Roman handelt von einer Jungenfreundschaft in der französischen Provinz der 40er-Jahre und davon, wie Leichtfertigkeit und Verrat in dieses Leben einbrechen, um es für immer aus der Bahn zu werfen. Die elfjährigen Knaben Laurent und Norbert, genannt NO, sind ein Herz und eine Seele. Ihre Kindheit ist ein bürgerliches Idyll zwischen Sommerfrische, gediegenen Villen und dem Golfplatz, wo sie, um ihr Taschengeld aufzubessern, als Balljungen arbeiten. Als während der deutschen Besatzung ein Treffen der Résistance, der Laurents Vater angehört, verraten wird, bittet dieser seinen Freund, den Vater zu warnen. Der wünscht sich als Gegenleistung eine Absurdität, nämlich 55.555 Bälle, und zwar weder gekaufte, noch geschenkte, noch gestohlene, sondern nur solche, die auf Golfplätzen eingesammelt würden. Nach der Lebensdevise seines Vaters ("Ein Gentleman hält sein Wort") erfüllt Laurent dies Versprechen, auch wenn es ihn am Ende alles kostet, Liebe, Beruf und sogar das Augenlicht.

Hinter der herzzerreißenden Geschichte eines Außenseiters, der die Treue zu seinem Prinzip erhebt, während der andere, den er für seinen Freund hält, längst zu seinem Gegenspieler geworden ist, erzählt Roubaud Zeitgeschichte und Daseinsverfehlungen von abgründiger Wucht. Eindringlich schildert er, wie Opportunismus und alte Rechnungen, die man miteinander offen hat, der Denunziation Vorschub leisten, wie die Kollaboration Freundschaften entzweit und selbst in Kinderseelen Einzug hält. Lakonisch im Ton, die Zeitebenen kunstvoll ineinander verwoben, durchmisst er die Geschichte bis ins Jahr 1996. Ohne je den Zeigefinger zu heben, verweist er in seiner schönen Parabel einmal mehr darauf, dass sich die Grande Nation dieser verhängnisvollen Etappe in ihrer Geschichte bis heute nicht gestellt hat.

Natürlich ist dem Roman, der 2003 schon einmal, allerdings unter dem Titel "55.555 Bälle" erschienen war, auch anzumerken, dass sein Autor ein "Oulipien" ist, ein literarischer Spieler. Das oberste Gebot der Poetik dieser Gruppe besteht darin, dass man die literarische Produktion einer selbst auferlegten Regel unterwirft. Allerdings geht Roubaud nicht so weit wie sein Kollege Georges Perec, der einmal einen Roman (La disparition, 1969) schrieb, in dem der Buchstabe "e" nicht vorkommt. Für Roubaud, der einst an der Sorbonne Mathematik gelehrt hat, liegt die Regel in den Zahlen, die immer wieder im Text auftauchen und bis in den Aufbau der Kapitel hinein ein Gerüst von mathematischer Präzision bilden. Doch man muss kein Kenner numerischer Systeme sein und man muss sie als solche auch nicht identifizieren, um den Roman als höchstgelungenes Gleichnis über die fatalen Folgen einer sich verselbständigenden, weil fremdbestimmten Beschränkung zu lesen.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Jacques Roubaud: Der verlorene letzte Ball
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009
120 Seiten, 14,90 Euro