Geschichte eines Abwesenden
Hans-Ulrich Treichel erzählt in seinem Buch „Menschenflug“ die Geschichte eines Verschwundenen. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges gibt eine Mutter ihren Sohn an eine unbekannte Frau. Und obwohl es erst Jahrzehnte später gelingt, den Jungen wieder aufzuspüren, bestimmt er in seiner Abwesenheit das Leben in der Familie.
Mit der 1998 erschienenen Erzählung „Der Verlorene“ hatte Hans-Ulrich Treichel national wie auch international enormen Erfolg. Im Zentrum der Geschichte steht ein Abwesender. Denn 1945 übergibt die Mutter des Erzählers während einer bedrohlichen Situation ihren Sohn einer unbekannten Frau, ohne ihr auch nur den Namen des Kindes nennen zu können.
Der Zweitgeborene erfährt von der Geschichte nach dem Krieg, aber was wirklich passiert ist, erzählt man ihm nur in Raten und Wichtiges – so wird sich später herausstellen – verschweigen ihm die Eltern. Zunächst erfährt er, dass sein Bruder auf der Flucht verhungert ist, dann glauben die Eltern, die den Verlorenen durch das Rote Kreuz suchen lassen, er lebt in einem Kinderheim. Aber die Hoffnungen, den Verlorenen wieder in den Kreis der Familie aufnehmen zu können, zerschlagen sich. Von diesem Schicksalsschlag des vermissten Bruders ist aber auch die Kindheit des Anwesenden ist überschattet. Denn in seiner Abwesenheit ist der Fehlende so präsent, das er einen festen Platz in der Familie hat und den Anwesenden zu verdrängen droht.
Diese Geschichte eines Verschwundenen, der dennoch existent ist, erzählt Hans-Ulrich Treichel in seinem Roman „Menschenflug“ weiter. Während die Erzählung „Der Verlorene“ damit endet, dass der elfjährige Erzähler seinen vermeintlichen Bruder in einem Fleischerladen sieht und eine erstaunliche, ihn geradezu erschreckende Ähnlichkeit feststellt, setzt der Roman etwa vierzig Jahre später ein. Der namenlose Erzähler von einst heißt nun Stephan und steht kurz vor seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag. Zwar hat der akademische Rat ein Buch über seinen vermissten Bruder geschrieben, aber die Geschichte des Verlorenen holt ihn immer wieder ein. Weitere Fragen stellen sich und eine erneute Suche nach dem vermissten Bruder setzt ein. Doch inzwischen – die Eltern sind verstorben – ist zunächst nur Stephan daran interessiert, den Bruder in die Familie zu integrieren. Eher reserviert wird das Vorhaben wegen der Erbschaftsansprüche von den beiden Schwestern Stephans beobachtet.
Während die frühe Erzählung damit endet, dass die Mutter des Erzählers ihren Sohn verloren geben muss, weil ein anthropologisches Gutachten davon ausgeht, dass es sich bei dem Findelkind trotz äußerlicher Ähnlichkeit nicht um ihren Sohn handelt, wird in „Menschenflug“ der Verlorene zwar gefunden, aber es besteht kein ernsthaftes Interesse mehr daran, die Familie wieder zusammen zu bringen – man hat sich mit dem Verlust arrangiert. Schließlich kauft sich Stephans Frau für die Erbschaftssumme, die dem Verlorenen hätte ausgezahlt werden müssen, zwei kostbare Teppiche. Die erweisen sich als großflächig genug, um die tragischen Momente einer Familiegeschichte, die unaufgeklärt bleiben wird, endgültig darunter verschwinden zu lassen.
Hans-Ulrich Treichel: Menschenflug
Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2005
234 Seiten. 17,80 Euro
Der Zweitgeborene erfährt von der Geschichte nach dem Krieg, aber was wirklich passiert ist, erzählt man ihm nur in Raten und Wichtiges – so wird sich später herausstellen – verschweigen ihm die Eltern. Zunächst erfährt er, dass sein Bruder auf der Flucht verhungert ist, dann glauben die Eltern, die den Verlorenen durch das Rote Kreuz suchen lassen, er lebt in einem Kinderheim. Aber die Hoffnungen, den Verlorenen wieder in den Kreis der Familie aufnehmen zu können, zerschlagen sich. Von diesem Schicksalsschlag des vermissten Bruders ist aber auch die Kindheit des Anwesenden ist überschattet. Denn in seiner Abwesenheit ist der Fehlende so präsent, das er einen festen Platz in der Familie hat und den Anwesenden zu verdrängen droht.
Diese Geschichte eines Verschwundenen, der dennoch existent ist, erzählt Hans-Ulrich Treichel in seinem Roman „Menschenflug“ weiter. Während die Erzählung „Der Verlorene“ damit endet, dass der elfjährige Erzähler seinen vermeintlichen Bruder in einem Fleischerladen sieht und eine erstaunliche, ihn geradezu erschreckende Ähnlichkeit feststellt, setzt der Roman etwa vierzig Jahre später ein. Der namenlose Erzähler von einst heißt nun Stephan und steht kurz vor seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag. Zwar hat der akademische Rat ein Buch über seinen vermissten Bruder geschrieben, aber die Geschichte des Verlorenen holt ihn immer wieder ein. Weitere Fragen stellen sich und eine erneute Suche nach dem vermissten Bruder setzt ein. Doch inzwischen – die Eltern sind verstorben – ist zunächst nur Stephan daran interessiert, den Bruder in die Familie zu integrieren. Eher reserviert wird das Vorhaben wegen der Erbschaftsansprüche von den beiden Schwestern Stephans beobachtet.
Während die frühe Erzählung damit endet, dass die Mutter des Erzählers ihren Sohn verloren geben muss, weil ein anthropologisches Gutachten davon ausgeht, dass es sich bei dem Findelkind trotz äußerlicher Ähnlichkeit nicht um ihren Sohn handelt, wird in „Menschenflug“ der Verlorene zwar gefunden, aber es besteht kein ernsthaftes Interesse mehr daran, die Familie wieder zusammen zu bringen – man hat sich mit dem Verlust arrangiert. Schließlich kauft sich Stephans Frau für die Erbschaftssumme, die dem Verlorenen hätte ausgezahlt werden müssen, zwei kostbare Teppiche. Die erweisen sich als großflächig genug, um die tragischen Momente einer Familiegeschichte, die unaufgeklärt bleiben wird, endgültig darunter verschwinden zu lassen.
Hans-Ulrich Treichel: Menschenflug
Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2005
234 Seiten. 17,80 Euro