Geschichte einer psychischen Krise

Von Andrea Gerk · 15.02.2013
Die britische Regisseurin Katie Mitchell bringt an der Berliner Schaubühne den Text der Frauenrechtlerin Charlotte Perkins Gilman von 1892 auf die Bühne. In "Die gelbe Tapete" wird eine Frau von ihrem Mann in ein Landhaus gebracht, um sich von depressiven Zuständen zu erholen. Die Tapete löst immer stärkere Wahnvorstellungen bei ihr aus.
Die britische Regisseurin Katie Mitchell verfolgt seit Jahren ein hochinteressantes Theaterkonzept: Wie in einem Ästhetik-Labor zerlegt sie sämtliche theatralen Ebenen in Einzelbestandteile. Auch in Mitchells neuer Arbeit gibt es einen Raum (Bühne: Giles Cadle), in dem die Schauspieler leibhaftig auftreten, und in dem sie gleichzeitig ein Kamerateam begleitet, und das Bühnengeschehen auch als Film auf eine zentrale Leinwand übertragen wird.

Close Ups, Überblendungen u.ä. schaffen Perspektiven, die ein zentral angelegtes Bühnengeschehen normalerweise nicht ermöglicht. Darüber hinaus wird auch die Textebene aufgesplittet – während die Hauptfigur (Judith Engel) meist nur dumpf, wie bei einem zu leise eingestellten Radio oder Fernseher, zu hören ist, spielt eine zweite Schauspielerin (Ursina Lardi), die sich in einer verglasten Sprecherkabine aufhält, ihren gesamten Text. Auch die Geräusche werden von einer Geräuschemacherin, in einer weiteren verglasten Kabine, produziert und zugespielt.

Judith Engel /Ursina Lardi spielen einen inneren Monolog, der sich an der Erzählung "Die gelbe Tapete" orientiert, den die britische Frauenrechtlerin Charlotte Perkins Gilman 1892 veröffentlicht hat. Sie erzählt darin, die Geschichte einer psychischen Krise: eine Frau wird von ihrem Mann in ein Landhaus gebracht, um sich von Erschöpfung und depressiven Zuständen zu erholen. Der fürsorglich erscheinende Gatte verordnet absolute Ruhe, komplette Untätigkeit und verfrachtet seine Frau in ein Dachzimmer, dessen gelb-gemusterte Tapete in ihr immer stärkere Wahnvorstellungen auslöst, bis zum völligen Zusammenbruch.

Während in Gilmans Text (den die Autorin ausdrücklich als eine Art Pamphlet für eine andere Behandlung von Geisteskranken verstanden wissen wollte) vieles uneindeutig bleibt, man nicht weiß, was die Krise der Frau ausgelöst hat, und was am Ende tatsächlich geschieht, vereinfacht die von Mitchell verwendete Textfassung (Lyndsey Turner) vieles. Nicht nur, dass die Handlung im Jetzt spielt, irgendwo in Brandenburg, der Mann mit seinem Auto zurück in die Stadt fährt, wo er in einer Agentur arbeitet, es wird auch nahegelegt, dass die Frau an einer postnatalen Depression leidet. Am Ende tötet sie sich mit dem Fön in der Badewanne.

Durch diese Interpretation gewinnt die Vorlage keine neue oder weiterführende Perspektive, der Text wird schlichter als er einmal war. Dennoch gelingen Katie Mitchell mit ihrer speziellen Erzählweise überraschende und bewegende Momente: Durch die Kamera kommt man dem Gesicht der leidenden Frau unglaublich nah, die Judith Engel sehr vielschichtig und überzeugend darstellt. Man spürt förmlich, wie sie immer mehr den Bezug zur Realität verliert, in eine andere Welt rutscht, zu der niemand mehr Zugang findet – eine enorme schauspielerische Leistung, bei der kein einziger Moment verrutscht.

Auch Ursina Lardi trifft in jedem Moment den Ton dieser gequälten Seele: höchst facettenreich gibt sie den eindringlichen Bildern eine berührende Sprache. Trotz dieser schauspielerischen Höchstleistungen bleibt etwas bloße Behauptung an diesem Abend und die verschiedenen Ebenen finden nicht wirklich zusammen. Womöglich ist vor allem die Textfassung zu schlicht, für die so überaus differenzierte Darstellung.

"Die gelbe Tapete" an der Berliner Schaubühne

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