Geschichte einer Frau im 20.Jahrhundert

Von Kerstin Zilm · 27.09.2005
Die amerikanische Autorin Angela Thompson begibt sich nach dem Tod ihrer Mutter in Deutschland auf die Suche nach den Stationen ihres Lebens. In "Bleib immer neben mir" hat sie sie festgehalten. Es ist ein einzigartiges und gleichzeitig exemplarisches Leben für viele deutsche Frauen im vergangenen Jahrhundert.
"Irgendwo muss ich anfangen, sage ich mir drei Monate nach ihrem Tod, und lasse alles mit der Hochzeit meiner Eltern beginnen." So - fast lapidar - beginnt Angela Thompson ihr Buch: "Bleib immer neben mir". Die Geschichte über das Leben ihrer Mutter: Elfriede Richter. Eine Frau aus gutbürgerlichen Verhältnissen, die in Dresden eine typische Kriegshochzeit erlebt, in der Bombennacht am 13. Februar 1945 ihre Mutter und zwei Kleinkindern durch die Flammen in Sicherheit bringt, zweimal danach ein neues Leben aufbaut: erst im Osten Deutschlands, dann noch einmal im Westen.

Angela Thompson: " Wenn ich meine Mutter beschreiben würde, dann müsste ich sagen, dass meine Mutter eine sehr schöne, sehr sensible und eigentlich eine sexy Frau ist. Ich wusste auch, dass meine Mutter alles kann, was sie beginnt. Sie konnte gut nähen, war sehr gebildet, hat viel gelesen und sie hat uns alles genäht, für sich alles genäht, war Maßschneiderin. Konnte unwahrscheinlich gut kochen und backen, hat den Haushalt toll geführt. Ich hab immer gedacht, dass meine Mutter es noch ganz anders hätte schaffen können als Frau, weil sie so talentiert war."

Dem Buch hat Angela Thompson Gotthold Ephraim Lessings Duplik aus dem Jahr 1778 vorangestellt. "Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen", steht dort.

Angela Thompson hat versucht die Wahrheit zu finden, warum ihre Mutter es nicht "noch ganz anders geschafft" hat. Sondern sich mit Alkohol und Tabletten betäubte und als Hausfrau bei ihrem Mann blieb, der ihr nicht erlaubte, den Führerschein zu machen, der sie emotional und körperlich misshandelte. "Ein deutsches Frauenleben" heißt Thompsons Buch im Untertitel. Einzigartig war das Leben ihrer Mutter und gleichzeitig exemplarisch für das, was viele deutsche Frauen im vergangenen Jahrhundert erlebten.

Angela Thompson: " Was sie alles von Anfang bis Ende in diesem Jahrhundert durchgemacht hat: die Anfänge Hitlers, ihr Vater war Beamter in Dresden, da ging es der Familie sehr viel besser. Sie hat in Dresden immer unter der Angst eines Bombenangriffs gelebt. Zwei Kinder bekommen, geheiratet, die Familie aus dem Inferno geholt und danach von vorne angefangen. Dann kam der Mann früh aus der Gefangenschaft. Sie haben gesehen, dass es in der DDR nicht gut voranging und dann der schwere Anfang in Westdeutschland, wo sie noch mal ihr Können beweisen musste. Dann kamen die Probleme in der Familie, die immer sichtbarer wurden, wo sie dann angefangen hat zu trinken. Und dann hat sie es nicht mehr geschafft, noch diesen letzten Kraftakt anzugehen und für sich zu arbeiten und vielleicht von dem Mann wegzugehen."

Angela Thompson schreibt aus zwei Ich-Perspektiven. Da ist zuerst die Autorin selbst, die in den USA lebt und beim letzten Besuch ihrer sterbenden Mutter in Deutschland beschließt, sich auf die Suche zu machen, nach den wichtigen Stationen dieses Frauenlebens, die diese Suche beschreibt und sich erinnert: zum Beispiel an die Bombennacht in Dresden, die Rückkehr des Vaters aus der Gefangenschaft, der Selbstmordversuch der Mutter.

Ganz oft hören wir beim Lesen die Stimme der Mutter. Thompson wechselt in die zweite Ich-Perspektive; schreibt auf, wie Elfriede Richter immer wieder die Geschichten ihres Lebens erzählte. "Mit einem Telegramm aus Frankreich, das der Bote an einem Montagmorgen brachte, fing es an" – führt Thompson ihre Leser unmittelbar in den Erzählstrom der Mutter über ihre Hochzeit.

"Am Abend vor meiner Reise hatte ich mich nach langem Hin und Her entschieden, allein mit der Straßenbahn zum Bahnhof zu fahren, obwohl die Omi mitkommen wollte", beginnt die Geschichte von der unglaublichen Reise nach Königsberg im August 1944.

Und der Auftakt zur alles zerstörenden Feuernacht von Dresden ist: "Auch am 13. Februar gingen wir in den Großen Garten. Es war Fastnachtsdienstag und einer der kältesten Tage in diesem ohnehin bitterkalten Winter."

Angela Thompson: " Und als ich dann, als sie starb, gedacht hab: Jetzt muss ich das wirklich schreiben, denn ich hab ihre Stimme immer noch in meinem Kopf gehört und diese Stimme wollte ich – ich wusste, dass die eines Tages leiser wird, und da hab ich mich hingesetzt und hab diese großen Geschichten aufgeschrieben und dann gedacht: daraus muss jetzt mehr werden. Jetzt schreibe ich die Geschichte einer Frau im 20. Jahrhundert und der Verlag hat das dann "ein deutsches Frauenleben" genannt."

Angela Thompson ist über diesen Untertitel sehr glücklich. Überhaupt, sagt die 1941 geborene energiegeladene Autorin mit strahlenden Augen und einem fast mädchenhaften Lachen: "Ich hab soviel Glück gehabt." Damit meint sie, dass sie es geschafft hat, sich ihr Studium in den USA zu finanzieren, dass sie promoviert hat – mit einer Doktorarbeit über Eichendorff -, dass sie als Lektorin und Übersetzerin mit interessanten Persönlichkeiten zusammenarbeitet, dass sie leitende akademische Positionen erreicht hat, ihren zwei Söhnen und Enkel Michael einen festen Boden unter den Füßen schaffen konnte. Und: dass sie in Kalifornien, in der interessanten Stadt Los Angeles lebt. Im eigenen Haus, nur sieben Kilometer entfernt vom Strand. Sie hat viel dafür gearbeitet. Und aus dem Leben ihrer Mutter gelernt:

" Ich glaube, dass ich in vielem genauso talentiert bin wie meine Mutter das war. Ich muss von mir sagen: Was immer ich mache, es wird immer gut. Da meine Mutter mit 40 Jahren aufgehört hat und diesen Weg nicht weiter gegangen ist, habe ich für mich gemerkt, dass ich die Aufgabe habe, das weiterzugeben. Ich bin keine religiöse Frau, aber das war für mich immer ein spiritueller Gedanke, dass ich mich von niemandem aufhalten lasse. Weder von der Gesellschaft noch von irgendwelchen Menschen, dass ich diese Verantwortung für mich habe. "

Einer, der immer wieder versucht hat, sie aufzuhalten, war ihr Vater. Das Verhältnis zu ihm ist noch immer schwierig. Es war nicht einfach für Angela Thompson darüber zu schreiben, wie der Vater ihre Mutter misshandelte und über ihre Selbstmordversuche. Doch es gehört zur Wahrheit dazu. Die Autorin beschreibt die Situationen eindringlich wie die Kriegserlebnisse. Es ist auch ein Versuch, Frauen, die ähnliches erleben, zu ermutigen, darüber zu sprechen:

" Am Ende hab ich gedacht: Ich muss das schreiben. Ich will das alles aufschreiben, weil ich einerseits meiner Mutter und Frauen wie ihr ein Denkmal setzen wollte. Ich wollte den Frauen meines Alters, ihren Kindern sagen: Ja, so war das damals. Ich wollte auch für die nächste Generation das aufschreiben und den Frauen die Kraft geben, darüber zu sprechen und denen zu zeigen: Diese ganze Kraft ist da, wir machen ein neues Leben."

An das Ende ihres Buches hat Angela Thompsons Andreas Gryphius Gedicht über die Vergänglichkeit "Es ist alles eitel" gestellt. In den Worten "Wo itzund Städte stehn wird eine Wiese seyn/ Auff der ein Schäfers Kind wird spilen mit den Herden" sieht sie eine fast surreale Prophezeiung dessen, was in Dresden passiert ist. Für die Autorin ist der Gedanke, dass alles vergeht gleichzeitig die ermutigende Aufforderung, das Beste aus dem Leben zu machen, das uns gegeben ist.

" Ich muss sagen, dass ich sehr optimistisch bin, auch wenn das Buch eher ein schweres Buch ist. ich bin sehr optimistisch, sehr glücklich, sehr zufrieden mit meinem Leben. Es hätte eigentlich gar nicht besser gehen können."

Momentan arbeitet Angela Thompson an der englischen Übersetzung von "Bleib immer neben mir". Im Computer gespeichert sind schon Gedanken und Geschichten für ihr zweites Buch. Eines über eine selbstbewusste Frau, die ihren Weg schafft zu einem ausgefüllten, erfolgreichen Leben.

Angela Thompson: "Bleib immer neben mir - Ein deutsches Frauenleben", Rowohlt Verlag, 19,90 Euro