Geschichte einer Entfremdung

Ein kleiner Ort in den Rocky Mountains, Mitte der 1950er-Jahre: Zwei Schwestern wachsen erst bei der Großmutter, dann bei der Tante auf. Sie erleben unverbrüchliche Nähe, entwicklen sich dann aber doch auseinander.
Dieser Roman erschien vor knapp 30 Jahren zum ersten Mal auf Deutsch, wurde aber nicht weiter beachtet, die 1943 geborene Autorin ist bei uns nicht bekannt. Dass sich das nun hoffentlich ändert, das ist das Verdienst der 'edition fünf', die regelmäßig vergessene, nicht beachtete Literatur von Frauen neu verlegt.

Das titelgebende "Haus ohne Halt" wurde einst vom Großvater der Erzählerin erbaut und ausgestattet. Hier lebte der eigenbrötlerische Mann mit seiner Frau und seinen drei Töchtern, die sich nach seinem Tod einrichten und am Rand der Dorfgemeinschaft bleiben. Es braucht nur wenige Seiten, um das Leben einer stillen gläubigen Frau und ihrer unauffälligen Töchter zu entwerfen, drei Mädchen, die jedoch – kaum erwachsen - die Mutter überraschend und rücksichtslos verlassen, aufbrechen in die Welt, sich nicht kümmern um Haus und Herkunft.

Eine Tochter kehrt nur einmal zurück, um ihre beiden Kinder bei der Mutter abzugeben, sie setzt sie auf die Terrasse, fährt wieder davon - und begeht Selbstmord. Eines dieser beiden verlassenen Mädchen ist die Ich-Erzählerin dieses ungewöhnlichen Romans, in dem es um Abweichung und Einsamkeit, um die Sehnsucht nach Anpassung und um Verweigerung geht. Nach dem Tod der Großmutter kommt eine der Tanten zurück, eine Streunerin, eine Frau ohne festen Wohnsitz, die sich bemüht den Kindern ein Zuhause zu geben, - und die – im Sinne ihrer ordentlichen Nachbarn – daran scheitert.

Marilynne Robinson erzählt von der unverbrüchlichen Nähe zweier Schwestern, die sich mit der beginnenden Pubertät jedoch auseinander entwickeln. Die eine will sein wie alle, die andere will das auf keinen Fall. Sie wird wie ihre Tante, die das Haus mit Müll vollstopft und sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder aufzubrechen, als Hobo durch die Welt zu ziehen.

Die Autorin entwirft kantige Figuren, die in ihrem abweichenden Charakter und Benehmen eine beeindruckende Würde und Verletzlichkeit haben. Sie erzählt von Träumen, die genauso real sind wie die Wirklichkeit, wenn man nur an sie glaubt.

Während man diese Geschichte einer Entfremdung liest, erwartet man, dass sich die an ihre Kindheit erinnernde Ich-Erzählerin am Ende in einer reifen und gewöhnlichen Erwachsenenwelt eingerichtet haben wird. Dass und wie die Autorin diese Erwartung konterkariert, das ist überraschend und von großer literarischer Stärke: Sie hält ein Plädoyer für das – nicht nur literarische – Außenseitertum.

Besprochen von Manuela Reichart

Marilynne Robinson: Haus ohne Halt
Roman.Aus dem Englischen von Sabine Reinhardt-Jost
Band 13 der edition fünf
Editon Nautilus 2012
256 Seiten, 19,90 Euro