Geschichte des Grauens
In seinem Buch "Erde und Blut" untersucht der Historiker Ben Kiernan die Ursachen für Genozide. Neben den Massenmorden Hitlers, Stalins und der Roten Khmer geht er auch auf die Massaker des Hutu-Regimes in Ruanda ein - und findet überall ähnliche ideologische Obsessionen.
Völkermord, Genozid - da denken wir heute zuerst an den Holocaust von sechs Millionen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland. Aber genozidale Gewalt gibt es seit Jahrtausenden in allen Weltteilen. Darauf macht der Historiker Ben Kiernan aufmerksam, der seit 15 Jahren an der Universität Yale über Völkermorde forscht. Er glaubt, dass vier ideologische Obsessionen beim Genozid eine Rolle spielen: Rassismus, Expansionismus, eine Verklärung des bäuerlichen Lebens und die Sehnsucht nach einer verlorenen, idealisierten Vergangenheit.
Auf fast tausend Seiten quer durch die Weltgeschichte sucht Kiernan diese vier Obsessionen bei allen Genoziden nachzuweisen. Sein Begriff des Genozids hält sich an die Definition der UN-Konvention von 1948:
"Die Konvention definiert den Genozid als eine von mehreren Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören."
Kiernan legt den Schwerpunkt seines Buchs auf das 16. bis 20. Jahrhundert. Man sieht, dass die christlich-europäischen Welteroberer bei ihren Feldzügen gegen die Ureinwohner Amerikas, Afrikas und Australiens antiken Vorbildern nacheiferten: den Römern, die Karthago zerstörten; den Israeliten, die laut Bibel auf Gottes Befehl die Bewohner des "gelobten Landes" auszurotten hatten:
"In den Städten dieser Völker, die dir der Herr, dein Gott, zum Erbe geben wird, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat. (...) Du wirst alle Völker verzehren, die dir der Herr, dein Gott, geben wird."
Massenmorde lassen sich seit der Jungsteinzeit nachweisen, schreibt Kiernan. Sie werden im Lauf der Jahrtausende umso monströser, je größer die technischen Möglichkeiten der Menschenvernichtung werden.
In der jüngsten Geschichte untersucht Kiernan eingehend den Stammeskonflikt zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda, der 1994 aufgrund rassistischen Wahns zum Völkermord geführt hat. Das Hutu-Regime rief seine Stammesgenossen zur Liquidierung der Tutsi-Minderheit auf, erklärte die Tutsi zu "Kakerlaken" und verkündete im Nazi-Jargon die "Endlösung" dieses Problems. Innerhalb weniger Monate wurden dann 800.000 Tutsi von den Hutu mit Macheten niedergemacht. Ein überlebender Tutsi klagt, dass seine Frau und seine zwei Kinder vor seinen Augen abgeschlachtet wurden:
Mann: "Die Kinder waren ganz klein, drei Jahre das erste, das zweite war zwei Monate alt."
Reporter: "Deine Kinder haben wir umgebracht, Deine Frau auch, aber Dich lassen wir leben. Das ist für eine Tutsi-Kakerlake die beste Strafe, höhnten die Milizen."
Mann "Man kann sich das nicht vorstellen. Ich konnte das nicht glauben. Ich war gleich tot auch."
Die internationale Rechtsprechung wertet neuerdings auch Massenvergewaltigungen, wie sie in Ruanda vorkamen, als "genozidale Handlungen", schreibt Kiernan. Er zeigt, dass bei Genoziden die Täter ihre Opfer regelmäßig als rechtlose Nicht-Menschen betrachten. So auch die jungtürkische Regierung von 1915 bei ihrem Völkermord an den Armeniern. Man diffamierte die ethnisch-religiöse Minderheit der Armenier als "Tuberkelbazillen" und ordnete an:
"Alle Männer unter 50, alle Priester und Lehrer sind zu vertilgen, Mädchen und Kinder zu islamisieren. In geeigneter Weise sind alle Armenier in der Armee niederzumachen."
Als sich 2005 in Eriwan zum Gedenken an den Genozid eineinhalb Millionen Menschen versammelten, sagte der armenische Außenminister Oskanian:
"Das ist eine symbolische Zahl, denn so viele Menschen sind vor 90 Jahren ums Leben gekommen. Die Menschen kommen aber auch zusammen mit dem Ziel, um über die Grenzen hinaus die Forderung der Armenier deutlich zu machen: Nur durch die Anerkennung des Völkermords und seine Verurteilung kann verhindert werden, dass sich ein ähnlicher Genozid im 21. Jahrhundert wiederholt."
Unter der Überschrift "Genozid im 20. Jahrhundert" handelt Kiernan neben den Massenmorden Hitlers, Stalins und der Roten Khmer auch den ganz anders gearteten Terrorismus der Al-Quaida mit ab. Das ist methodisch etwas fragwürdig und geht nur, weil Kiernan den Begriff des Genozids hier um den Begriff des "religiös motivierten Massakers" erweitert.
Insgesamt aber ist Kiernans Buch ein bedeutendes Werk, das einen Beitrag leisten will zur Früherkennung von genozidalen Entwicklungen jetzt und in der Zukunft. Es ist zu wünschen, dass es rund um den Globus von vielen gelesen wird, besonders von Politikern, Lehrern und Journalisten.
Besprochen von Nikolaus German
Ben Kiernan: Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009
912 Seiten, 49,95 Euro
Auf fast tausend Seiten quer durch die Weltgeschichte sucht Kiernan diese vier Obsessionen bei allen Genoziden nachzuweisen. Sein Begriff des Genozids hält sich an die Definition der UN-Konvention von 1948:
"Die Konvention definiert den Genozid als eine von mehreren Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören."
Kiernan legt den Schwerpunkt seines Buchs auf das 16. bis 20. Jahrhundert. Man sieht, dass die christlich-europäischen Welteroberer bei ihren Feldzügen gegen die Ureinwohner Amerikas, Afrikas und Australiens antiken Vorbildern nacheiferten: den Römern, die Karthago zerstörten; den Israeliten, die laut Bibel auf Gottes Befehl die Bewohner des "gelobten Landes" auszurotten hatten:
"In den Städten dieser Völker, die dir der Herr, dein Gott, zum Erbe geben wird, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat. (...) Du wirst alle Völker verzehren, die dir der Herr, dein Gott, geben wird."
Massenmorde lassen sich seit der Jungsteinzeit nachweisen, schreibt Kiernan. Sie werden im Lauf der Jahrtausende umso monströser, je größer die technischen Möglichkeiten der Menschenvernichtung werden.
In der jüngsten Geschichte untersucht Kiernan eingehend den Stammeskonflikt zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda, der 1994 aufgrund rassistischen Wahns zum Völkermord geführt hat. Das Hutu-Regime rief seine Stammesgenossen zur Liquidierung der Tutsi-Minderheit auf, erklärte die Tutsi zu "Kakerlaken" und verkündete im Nazi-Jargon die "Endlösung" dieses Problems. Innerhalb weniger Monate wurden dann 800.000 Tutsi von den Hutu mit Macheten niedergemacht. Ein überlebender Tutsi klagt, dass seine Frau und seine zwei Kinder vor seinen Augen abgeschlachtet wurden:
Mann: "Die Kinder waren ganz klein, drei Jahre das erste, das zweite war zwei Monate alt."
Reporter: "Deine Kinder haben wir umgebracht, Deine Frau auch, aber Dich lassen wir leben. Das ist für eine Tutsi-Kakerlake die beste Strafe, höhnten die Milizen."
Mann "Man kann sich das nicht vorstellen. Ich konnte das nicht glauben. Ich war gleich tot auch."
Die internationale Rechtsprechung wertet neuerdings auch Massenvergewaltigungen, wie sie in Ruanda vorkamen, als "genozidale Handlungen", schreibt Kiernan. Er zeigt, dass bei Genoziden die Täter ihre Opfer regelmäßig als rechtlose Nicht-Menschen betrachten. So auch die jungtürkische Regierung von 1915 bei ihrem Völkermord an den Armeniern. Man diffamierte die ethnisch-religiöse Minderheit der Armenier als "Tuberkelbazillen" und ordnete an:
"Alle Männer unter 50, alle Priester und Lehrer sind zu vertilgen, Mädchen und Kinder zu islamisieren. In geeigneter Weise sind alle Armenier in der Armee niederzumachen."
Als sich 2005 in Eriwan zum Gedenken an den Genozid eineinhalb Millionen Menschen versammelten, sagte der armenische Außenminister Oskanian:
"Das ist eine symbolische Zahl, denn so viele Menschen sind vor 90 Jahren ums Leben gekommen. Die Menschen kommen aber auch zusammen mit dem Ziel, um über die Grenzen hinaus die Forderung der Armenier deutlich zu machen: Nur durch die Anerkennung des Völkermords und seine Verurteilung kann verhindert werden, dass sich ein ähnlicher Genozid im 21. Jahrhundert wiederholt."
Unter der Überschrift "Genozid im 20. Jahrhundert" handelt Kiernan neben den Massenmorden Hitlers, Stalins und der Roten Khmer auch den ganz anders gearteten Terrorismus der Al-Quaida mit ab. Das ist methodisch etwas fragwürdig und geht nur, weil Kiernan den Begriff des Genozids hier um den Begriff des "religiös motivierten Massakers" erweitert.
Insgesamt aber ist Kiernans Buch ein bedeutendes Werk, das einen Beitrag leisten will zur Früherkennung von genozidalen Entwicklungen jetzt und in der Zukunft. Es ist zu wünschen, dass es rund um den Globus von vielen gelesen wird, besonders von Politikern, Lehrern und Journalisten.
Besprochen von Nikolaus German
Ben Kiernan: Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009
912 Seiten, 49,95 Euro