Geschichte der ungesühnten Verbrechen

03.05.2012
In seinem ersten Buch schrieb Wolfgang Kaleck über die Verbrechen der argentinischen Militärjunta. In seinem zweiten Werk, "Mit zweierlei Maß", fasst der Strafverteidiger das Thema weiter, indem er den beschwerlichen Weg zur internationalen Gerichtsbarkeit nachzeichnet.
So verheißungsvoll die neuere Geschichte des Völkerstrafrechts in Nürnberg begann, so wenig blieb nach 1949 von den Verheißungen – aus politischen Gründen. Denn nach den Völkermordverbrechen im Nationalsozialismus wurden zwar menschenrechtliche Prinzipien und Normen formuliert, aber im Kalten Krieg stockte der Kampf gegen die Menschenrechtsverbrechen, gegen Völkermord, gegen Folter und Vertreibung.

Eine Internationale Strafgerichtsbarkeit, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit überall auf der Welt ahnden sollte, blieb über Jahrzehnte ein unerfüllter Traum. 2002 trat endlich das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag in Kraft. Warum das so lange dauerte, erklärt Wolfgang Kaleck in seinem Buch auf sehr anschauliche, differenzierte und überaus kenntnisreiche Weise.

Die Geschichte des Internationalen Strafrechts ist vor allem eine Geschichte der ungesühnten Verbrechen. Die meisten Kriegsverbrechen wurden nie vor Gericht gebracht, weder die in den Kolonien des Westens noch die im Vietnam-Krieg, aber auch nicht die der Chinesen in Tibet oder die der Sowjetunion unter Stalin und seinen Nachfolgern. Vor allem dauerte es bis in die heutige Zeit, dass Vergewaltigungen im Krieg endlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft wurden.

Erst in den 90er Jahren, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, ging es weiter auf dem beschwerlichen Weg zur Internationalen Strafgerichtsbarkeit. Die ad hoc-Tribunale für das frühere Jugoslawien und für Ruanda waren wichtige Marksteine. Aber sie waren vom UN-Sicherheitsrat eingesetzt worden. Erst der ständig arbeitende Internationale Gerichtshof in den Den Haag beruhte auf dem freien Willen der internationalen Gemeinschaft, auf dem Statut von Rom, das jedoch von mächtigen Ländern nicht ratifiziert worden ist: Russland, China, Pakistan, Indien und vor allem USA.

In den 10 Jahren seiner Existenz hat der Gerichtshof erst einen einzigen Angeklagten verurteilt, Thomas Lubanga, weil er im Kongo Kindersoldaten rekrutiert und eingesetzt hat. Kongo, Uganda, Zentralafrikanische Republik, Kenia, Sudan/ Darfur und Libyen - dass ausschließlich afrikanische Situationen vor dem Internationalen Strafgerichtshof verhandelt werden, wird dem Gericht und seiner Anklagebehörde oft als Voreingenommenheit angekreidet, als Zeichen einer neo-kolonialistischen oder neoimperialistischen Haltung. Das allerdings sieht Wolfgang Kaleck anders. Schließlich wurden von sieben Ermittlungsverfahren zwei vom UN-Sicherheitsrat an den Gerichtshof überwiesen, drei haben die afrikanischen Länder dem Gericht selbst angetragen. Trotz aller Unzulänglichkeiten bleibt für Kaleck die Errichtung des Gerichtshofs ein historischer Schritt.

Das Buch hat nur 144 Seiten, umso erstaunlicher, welche Informationsfülle Wolfgang Kaleck hier unterbringt. Aber nicht etwa in einer bloßen Aneinanderreihung von Fakten, er bilanziert und analysiert, immer auch aus der Sicht des Menschenrechtsaktivisten, was bisher im Internationalen Völkerstrafrecht erreicht wurde und - vor allem - was noch zu tun ist. Solange das Internationale Strafrecht politisch selektiv und überwiegend gegen schwache, gefallene und besiegte Potentaten und Generäle angewandt wird, bleibt es ein Strafrecht "mit zweierlei Maß". Kaleck berichtet aber auch von den Bemühungen sozialer Bewegungen und von Juristinnen und Juristen, die Menschenrechtsverletzer aus mächtigen Staaten vor Gericht zu bringen. Das Buch endet in der Hoffnung, dass die Strafprozesse zur Vergangenheitsbewältigung beitragen können. Die Ursachen von Verbrechen zu erforschen, hilft vielleicht sogar, künftige Gewaltverbrechen zu vermeiden.

Besprochen von Annette Wilmes

Wolfgang Kaleck: Mit zweierlei Maß - Der Westen und das Völkerstrafrecht
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012, 144 Seiten, 15,90 Euro

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Tod im Atlantik - Wolfgang Kaleck: Kampf gegen Straflosigkeit. Argentiniens Militärs vor Gericht
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