Geschichte der Todesmärsche

Hitlerjungen, Volkssturm und Beamte halfen der SS

Gedenktafel "Todesmarsch" veranschaulicht die Strecke des Marsches der Häftlinge des ehemaligen KZs Sachsenhausen.
Gedenktafel "Todesmarsch" veranschaulicht die Strecke des Marsches der Häftlinge des ehemaligen KZs Sachsenhausen. © Imago / Schöning
Von Jochen Stöckmann · 14.04.2015
Nach der NS-Zeit bemühten sich die Alliierten, die Leichen würdig zu bestatten: Tausende KZ-Häftlinge starben auf den "Todesmärschen". Zum 70. Jahrestag der Befreiung dokumentieren die Gedenkstätten Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen mit einer gemeinsamen Ausstellung die Geschehnisse - "Zwischen Harz und Heide".
Anita Lasker-Wallfisch: "Drei Wochen waren wir ohne Wasser, die Menschen sind verdurstet. Heute früh ist noch eine Kameradin von mir gestorben, angesichts der Befreiung. Meine Eltern sind auch dabei kaputtgegangen. Aber wir blicken jetzt vorwärts, hoffentlich werden wir doch noch irgendwelche Verwandte wiedersehen."
Anita Lasker-Wallfisch berichtete am 15. April 1945, noch am Tag der Befreiung, über ihre Lagerhaft in Bergen-Belsen. Im November 1944 war sie mit einem "Räumungstransport" aus Auschwitz gekommen. Die SS hatte, um ihre Verbrechen vor den heranrückenden Alliierten zu vertuschen, Zehntausende von Häftlingen in offenen Güterwaggons, später dann auf mörderischen Fußmärschen in die letzten noch verbliebenen Lager gebracht. Darunter Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide und Mittelbau-Dora am Harz. Diese beiden Gedenkstätten zeigen nun mit einer Ausstellung, dass die touristisch so gut erschlossene Landschaft "Zwischen Harz und Heide" auch durch Spuren unvorstellbarer Gewaltverbrechen gezeichnet ist. Allein durch diesen schmalen Korridor wurden im April 1945 an die 60.000 Häftlinge getrieben. Auf einem regelrechten "Todesmarsch", wie in einem ausgestellten Dokument vom März 1949 der Gemeindedirektor des Dorfes Lerbach feststellt:
Zitat (Gemeindedirektor von Lerbach): "Häftlinge, welche vor Hunger und Entkräftung nicht imstande waren, weiterzumarschieren, wurden sofort von den Wachmannschaften erschossen. Es kam aber auch vor, dass menschlich veranlagte Wachleute Häftlinge dadurch, wenigstens vorläufig, vor dem Tode bewahrten, dass sie die Zusammengebrochenen hochrissen und sie zum Weitermarschieren zwangen. Es wurden sechs Häftlinge an sechs verschiedenen Stellen erschossen."
"Wer weiß von Gräbern ehemaliger KZ-Häftlinge" wurde 1946 in einem öffentliche Aufruf die Bevölkerung des Landkreises Celle gefragt. Die Mehrheit blieb eine Antwort schuldig. Noch bis in die jüngste Zeit waren es Zufallsfunde, die zu Exhumierungen von Massengräbern oder einzeln verscharrter Opfer führten. Dabei wurde im Frühjahr 1945 in aller Öffentlichkeit gemordet, nicht mehr nur hinter Stacheldraht. Aber der Blick blieb fixiert auf einige strikt umgrenzte Orte des Grauens, wie etwa Bergen-Belsen, und auf wenige Fotos – eine Herausforderung für Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte.
Thomas Rahe: "Von diesen Bildern ist das Bild des Bulldozers, der die nackten, abgemagerten Leichen in die Massengräber schiebt sicherlich das Eindrücklichste. Und wir haben versucht, eben diese Erwartungshaltung auch ein Stück weit zu brechen. Es war uns immer klar, dass die Art und Weise, in der die Opfer Bergen-Belsens auf diesen Bildern den Betrachtern heute begegnen, hoch problematisch ist, denn ich kann in ihnen keine individuellen Menschen mehr erkennen."
Verbrechen in Tagebüchern und Notizen der Häftlinge überliefert
Auf die Zeugnisse eben dieser, im Katalog mit individuellen Biographien gewürdigten Menschen stützt sich nun die Ausstellung über die "Todesmärsche". Von einer in Auflösung geratenen SS-Bürokratie kaum noch erfasst, sind die Verbrechen in Tagebüchern und Notizen der Häftlinge überliefert. Eindrucksvoll wirken vor allem deren Zeichnungen: Wenige Tage nach der der Befreiung aus dem Gedächtnis rekonstruiert, ganz selten nur – wie vom elsässischen Maler Léon Delarbre – als Momentaufnahme heimlich auf einem Fetzen Papier skizziert. Jetzt – nach 70 Jahren – sind viele dieser Bilder zum ersten Mal zu sehen. Und sie rütteln auf, mehr noch als jene Filmaufnahmen, mit denen das deutsche Publikum im Juni 1945 in einer Wochenschau konfrontiert wurde:
Aus der Wochenschau: "Gardelegen: dieser Schuppen birgt 150 Menschen. Sie sind tot. Als die alliierten Armeen heranrückten, schichteten die SS-Wachen Stroh auf dem Boden, begossen es mit Benzin und sperrten die Gefangenen in den Schuppen. Dann zündeten sie den Schuppen an."
Solche Massaker wären ohne aktive Beteiligung der Bevölkerung, ohne die Hilfe von Hitlerjungen, Volkssturm und städtischen Angestellten kaum möglich gewesen. Das hat Daniel Blatman 2011 in seiner ersten umfassenden Studie über "Die Todesmärsche 1944/45" nachgewiesen. Und der israelische Historiker kam in Gardelegen, mit Blick auf Gedenktafeln aus der DDR-Zeit, zu dem Schluss:
David Blatman: "Man darf es nicht bewenden lassen bei diesem 'offiziellen', behördlich abgesegneten Gedenken, wo die grauenhaften Verbrechen immer nur der SS zugeschoben werden. Wer es ehrlich meint, der muss sich mit der Beteiligung der zivilen Gesellschaft auseinandersetzen – mit denen, die damals an diesen Orten lebten."
Dazu gibt es mittlerweile Ansätze, initiiert durch Gedenkstätten wie Mittelbau-Dora: Deren Leiter, Stefan Hördler, kann darauf verweisen, dass ein Verein "Jugend für Dora", unterstützt durch die jeweiligen Gemeinden, mit "Fahnen der Erinnerung" zahlreiche Orte des Verbrechens kenntlich macht. Denn das Lagersystem war weit verzweigt, war überall, nicht nur zwischen Harz und Heide.

Ausstellungsdaten
in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora: 13.4.-9.9.2015,
in der Gedenkstätte Bergen-Belsen: 24.4.-15.6.2015
Katalog im Wallstein Verlag Göttingen.

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