Geschichte aus muslimischer Sicht
Der Mittelpunkt der Welt ist immer das, was man vor Augen hat. Der in Kabul geborene und in San Francisco lebende Autor Tamim Ansary ermöglicht uns einen erweiterten Blick. Er hat eine Weltgeschichte verfasst, in deren Mittelpunkt der Islam steht.
Ur-, Vor- und Frühgeschichte, das klassische Altertum der Griechen und Römer, finsteres Mittelalter, Renaissance und Reformation, Aufklärung, Französische und Industrielle Revolution, die Moderne des 20. Jahrhunderts: Das sind üblicherweise die Stationen der Weltgeschichte aus westlicher Sicht. Die Geschichte der islamischen Welt ist in dieser Tradition nur ein Unterkapitel der eigentlichen, der europäisch geprägten Geschichte. Im Zuge der Globalisierung wachsen aber auch bei westlichen Historikern die Zweifel. Vor diesem Hintergrund ist der Versuch des in Kabul geborenen, heute in San Francisco lebenden Autors Tamim Ansary interessant, eine Globalgeschichte als "Konkurrenzerzählung" zur herkömmlichen westlichen Weltsicht zu verfassen.
Wie zwei getrennte Universen hätten westliche und islamische Welt lange nebeneinander existiert und erst im 17. Jahrhundert begonnen, sich zu überschneiden. Zuvor lebte die islamische Welt in dem Bewusstsein, Zivilisation und Hochkultur zu verkörpern, während nördlich des Mittelmeers die Barbaren ihr Dasein fristeten. Infolge der machtvollen Entfaltung westlicher Zivilisation und Kultur sei dann die islamische Erzählung unterdrückt worden. Doch sie existiere bis heute, betont der Autor. Auf gut 350 Seiten schildert er nun "eine Geschichte der Welt aus islamischer Sicht". Ansary ist kein etablierter Historiker, sondern ein Autor, der Geschichte als Erzählung betrachtet und sie "als menschliches Drama" präsentiert.
Das erste von 17 Kapiteln beginnt mit den Sumern und Akkadern, Persern und Parthern, einer Beschreibung der "Mitte der Welt" – die Ansary dort verortet, wo wir üblicherweise vom "Nahen Osten" sprechen. Den Hauptteil seines Buches nimmt die Entwicklung in der Region nach Erscheinen Mohammeds ein. Er erläutert die Entstehung des Islam, des Kalifats, die Spaltung von Sunniten und Schiiten, beschreibt die Herrschaft der Umayaden und Abbasiden – den Aufstieg des Islam zur Zivilisation und zum politischen Großreich. Ansary macht deutlich: Von Anfang an begreift sich der Islam zugleich als Religion und gesellschaftliches Projekt.
Ansary beendet seine Betrachtungen mit dem 11. September 2001 – für ihn die Widerlegung der These Fukuyamas vom Ende der Geschichte. An diesem Tag, betont Ansary, sei deutlich geworden, dass es nach wie vor nicht nur eine, sondern zwei Geschichten gebe. Der Autor stellt hier vor allem diejenige der islamischen Welt dar, die keineswegs als Geschichte von "Entwicklungsländern" zu lesen sei, er erläutert die Gründe für den Niedergang des islamischen Weltreichs, den schwindenden Einfluss laizistischer Reformer im 20. Jahrhundert und den Aufstieg panislamistischer Ideologien.
Maßgebliche Ereignisse der westlichen Welt wie die Kreuzzüge, die Reformation oder das Entstehen von Nationalstaaten werden in Ansarys Geschichtserzählung ebenfalls gewürdigt - vor allem hinsichtlich ihrer Bedeutung für die islamische Welt. Sein Buch ist keine umfassende Globalgeschichte, auch keine fachwissenschaftliche Abhandlung, aber es vermittelt, "was nach Vorstellung der Muslime passiert ist". Das heißt: Es illustriert, wie sich die "Weltgeschichte" verändert, wenn man den Standort wechselt, von dem aus sie betrachtet wird. Eine anregende Geschichtserzählung.
Tamim Ansary: Geboren 1948 in Kabul als Sohn eines afghanischen Hochschullehrers. Seine amerikanische Mutter unterrichtete Englisch an der ersten afghanischen Mädchenschule. Sie war die erste Amerikanerin, die einen Afghanen heiratete und in Afghanistan lebte. Ab 1964 besuchte Ansary mit einem Stipendium eine High School in den USA. Nach seinem Studium tauchte er in die amerikanische Subkultur ein, lebte in Kommunen, schrieb für die alternative Wochenzeitung "The Portland Scribe", versuchte sich als Autor experimenteller Prosa. Er arbeitete als Herausgeber und Redakteur für den Verlag Harcourt Brace Jovanovich sowie einer Zeitschrift über asiatische Politik und Kultur. Er verfasste Kinderbücher, pädagogische Comics, einen historischen Roman und eine literarische AutoBiografie. Ansary hält Vorträge zu Literatur und Zeitgeschichte an zahlreichen amerikanischen Hochschulen.
Besprochen von Carsten Hueck
Tamim Ansary: Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht.
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer.
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2010, 367 Seiten, 24,90 Euro
Wie zwei getrennte Universen hätten westliche und islamische Welt lange nebeneinander existiert und erst im 17. Jahrhundert begonnen, sich zu überschneiden. Zuvor lebte die islamische Welt in dem Bewusstsein, Zivilisation und Hochkultur zu verkörpern, während nördlich des Mittelmeers die Barbaren ihr Dasein fristeten. Infolge der machtvollen Entfaltung westlicher Zivilisation und Kultur sei dann die islamische Erzählung unterdrückt worden. Doch sie existiere bis heute, betont der Autor. Auf gut 350 Seiten schildert er nun "eine Geschichte der Welt aus islamischer Sicht". Ansary ist kein etablierter Historiker, sondern ein Autor, der Geschichte als Erzählung betrachtet und sie "als menschliches Drama" präsentiert.
Das erste von 17 Kapiteln beginnt mit den Sumern und Akkadern, Persern und Parthern, einer Beschreibung der "Mitte der Welt" – die Ansary dort verortet, wo wir üblicherweise vom "Nahen Osten" sprechen. Den Hauptteil seines Buches nimmt die Entwicklung in der Region nach Erscheinen Mohammeds ein. Er erläutert die Entstehung des Islam, des Kalifats, die Spaltung von Sunniten und Schiiten, beschreibt die Herrschaft der Umayaden und Abbasiden – den Aufstieg des Islam zur Zivilisation und zum politischen Großreich. Ansary macht deutlich: Von Anfang an begreift sich der Islam zugleich als Religion und gesellschaftliches Projekt.
Ansary beendet seine Betrachtungen mit dem 11. September 2001 – für ihn die Widerlegung der These Fukuyamas vom Ende der Geschichte. An diesem Tag, betont Ansary, sei deutlich geworden, dass es nach wie vor nicht nur eine, sondern zwei Geschichten gebe. Der Autor stellt hier vor allem diejenige der islamischen Welt dar, die keineswegs als Geschichte von "Entwicklungsländern" zu lesen sei, er erläutert die Gründe für den Niedergang des islamischen Weltreichs, den schwindenden Einfluss laizistischer Reformer im 20. Jahrhundert und den Aufstieg panislamistischer Ideologien.
Maßgebliche Ereignisse der westlichen Welt wie die Kreuzzüge, die Reformation oder das Entstehen von Nationalstaaten werden in Ansarys Geschichtserzählung ebenfalls gewürdigt - vor allem hinsichtlich ihrer Bedeutung für die islamische Welt. Sein Buch ist keine umfassende Globalgeschichte, auch keine fachwissenschaftliche Abhandlung, aber es vermittelt, "was nach Vorstellung der Muslime passiert ist". Das heißt: Es illustriert, wie sich die "Weltgeschichte" verändert, wenn man den Standort wechselt, von dem aus sie betrachtet wird. Eine anregende Geschichtserzählung.
Tamim Ansary: Geboren 1948 in Kabul als Sohn eines afghanischen Hochschullehrers. Seine amerikanische Mutter unterrichtete Englisch an der ersten afghanischen Mädchenschule. Sie war die erste Amerikanerin, die einen Afghanen heiratete und in Afghanistan lebte. Ab 1964 besuchte Ansary mit einem Stipendium eine High School in den USA. Nach seinem Studium tauchte er in die amerikanische Subkultur ein, lebte in Kommunen, schrieb für die alternative Wochenzeitung "The Portland Scribe", versuchte sich als Autor experimenteller Prosa. Er arbeitete als Herausgeber und Redakteur für den Verlag Harcourt Brace Jovanovich sowie einer Zeitschrift über asiatische Politik und Kultur. Er verfasste Kinderbücher, pädagogische Comics, einen historischen Roman und eine literarische AutoBiografie. Ansary hält Vorträge zu Literatur und Zeitgeschichte an zahlreichen amerikanischen Hochschulen.
Besprochen von Carsten Hueck
Tamim Ansary: Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht.
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer.
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2010, 367 Seiten, 24,90 Euro