Gescheiterte Flucht aus der Provinz

13.07.2009
In seinem Debütroman "Kein schöner Land" erzählt Patrick Findeis von vier jungen Männern, die der württembergischen Provinz entkommen wollen, sich aber nicht von der Vergangenheit lösen können. Mit einem Auszug aus dem Text gewann der Autor 2008 den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Literaturwettbewerb in Klagenfurt.
Auf den ersten Blick ist der Debütroman des süddeutschen Autors Patrick Findeis, Jahrgang 1975, eine Adoleszenz-Geschichte über das Aufwachsen in der süddeutschen Provinz in den 1980er- und 1990er-Jahren: Jugendfreundschaften, Jugendstreiche, erste Liebe, erster Sex. Im Hintergrund läuft der soziale Wandel auf dem Dorf mit: Dörfer veröden, Dorfkneipen gehen ein, Bauernhöfe werden stillgelegt, die Dorf-Jugend wandert ab.

Dies ist auch vordergründig das Thema des Romans: Die Flucht aus der Provinz, aus einem stillen und properen Winkel Württembergs, erzählt am Beispiel von vier Jungen: zwei Unternehmersöhne aus einer Schlosserei in der Kreisstadt, ein Kneipensohn und ein Bauernsohn aus dem fiktiven Dorf Rottensol, alle vier Kindergarten- oder Grundschulgefährten. Doch die Fluchten der vier Jungen sind ganz unterschiedlich motiviert, so dass auch andere Themen zum Vorschein kommen: Es geht um den Streit zwischen Vätern und Söhnen, um die Geschichte zweier feindlicher Brüder und vor allem: um die Geschichte einer zerbrochenen Jugendfreundschaft.

"Kein schöner Land" zeigt, dass dies für alle, die dort leben, kein schönes Land ist. Die Provinz erscheint in jeder Hinsicht als finster und unheilvoll. Es herrschen Engstirnigkeit, Unfreiheit, Lebenslügen und soziale Kälte. Es herrscht auch große Lieblosigkeit innerhalb der drei Familien, die den Roman dominieren: Zwist und Hass zwischen Eltern und Söhnen, Ehe-Unglück zwischen den Eltern, Hass und Neid unter Brüdern.

Allen vier Jungen wird das Bleiben daheim verleidet. Die Eltern sind es, die herrschsüchtigen Väter und engstirnigen Mütter, die sie in die Flucht geschlagen haben. Alle vier Jungen suchen das Weite – aber sie finden es nicht. Es treibt sie fort von daheim, aber sie kommen nicht los. Halb freiwillig, halb unfreiwillig kehren sie zurück in ihre Elternhäuser, wo ihre Kinderzimmer wie Museumsstücke gehütet werden. Sie wollen mit der Vergangenheit zu Rande kommen, die Vergangenheit endlich abschließen.

Darum geht es letztlich in "Kein schöner Land": Es geht um die Deutung der Vergangenheit. In der Gegenwartsebene des Romans, um das Jahr 2000 herum, wollen einige heimgekehrte junge Männer untereinander und mit den Eltern einige Schuldfragen klären. Jede Figur im Roman hat sich ihren eigenen Reim auf das Geschehene gemacht, aber diese Interpretationen widersprechen einander. Reihum erfolgen nun die Schuldzuweisungen. Viele Versionen kommen zur Sprache, aber welche ist die wahre?

Ungeklärt ist beispielsweise der Brand vor zehn Jahren in der Schlosserei in der Kreisstadt. War es Fahrlässigkeit oder Brandstiftung? Hat einer der vier Jungen, damals Schlosser-Lehrling, den Brand fahrlässig verschuldet? Oder hat der ältere Sohn die Firma des Vaters abgefackelt und ist danach zur Fremdenlegion abgehauen? Oder ist das nur eine Verleumdung, die der gehässige jüngere Bruder in die Welt gesetzt hat?

Die widersprüchlichen Deutungen der Vergangenheit betreffen vor allem den einzigen Toten unter den Jungen: den Kneipensohn Uwe. Er ist die Hauptfigur, der Sympathieträger des Romans, der einzige Unschuldige, eine zutiefst tragische Gestalt: ein unglücklicher Liebender, der nicht zurückgeliebt wird.

Dabei ist Uwe der Einzige, der in der Heimat bleiben möchte und von einem Leben in Sesshaftigkeit und Lebensfreundschaft träumt. Doch das wird ihm verwehrt, sein Vater treibt ihn, das Kuckuckskind, aus dem Haus. Ungelitten zu Hause, geht Uwe als Zimmermann auf die Walz, doch er kommt nicht weit: Mit einer Lüge lockt ihn seine egoistische Mutter – in ihrer Verlogenheit die schlimmste Hassfigur von allen – zurück ins Dorf, wo Uwe einen elenden Drogentod sterben wird.

Patrick Findeis erzählt seine Geschichte in scheinbar beiläufigen, aber ungemein dicht gearbeiteten, einprägsamen Bildern und in raffinierten Zeitsprüngen, die jedoch ganz zwanglos gefügt erscheinen. In den wortkargen Dialogen schwingt das Ungesagte immer bedrohlich mit. Dem Leser wird keine Deutung oktroyiert: Er muss sich schon seine eigene Lesart dieses schmerzlich intensiven Romans erarbeiten.

Besprochen von Sigrid Löffler

Patrick Findeis: Kein schöner Land
Roman
Deutsche Verlagsanstalt DVA, München 2009
202 Seiten, 18,95 Euro