Gesamtbild der deutschen Nachkriegsgeschichte

Im wohltuenden Gegensatz zum Gebhardt-Vergleichsband von 1976 und den wenigen Seiten über die Nachkriegszeit der 8. Auflage von 1958 räumt der neue Gebhardt nicht nur mit vielen Mythen der sogenannten "Stunde Null" auf; er bringt einen wesentlich wirklichkeitsnäheren, in weiten Teilen entideologisierten Ansatz ins Spiel, der die Denkmuster des Kalten Krieges überwindet.
Die noch im Vorgängerband pauschale Aburteilung der kommunistischen DDR weicht hier einer differenzierten Sicht der Entwicklung der SBZ, der Sowjetisch Besetzen Zone, die zunächst konsequent mit dem Faschismus zu brechen versuchte und einen "demokratischen Neuanfang" anstrebte. Wie in den Westzonen wurde dann aber auch in der DDR in der Aufbauphase der Wirtschaft und der Verwaltung mit dem Gros der alten Nazis de facto ein Pakt geschlossen, der die alten Widerstandskämpfer, die unter dem Hitlerregime gelitten hatten, desillusionierte.

Wer den neuen Gebhardt aufmerksam liest, kann nachvollziehen, wie mühsam es auf beiden Seiten für Reformer war, den ursprünglichen Idealismus der "Stunde Null" umzusetzen beziehungsweise nicht aus dem Auge zu verlieren. Durch den umfassenden Geschichtsbegriff des neuen Gebhardt, der neben Politik und Wirtschaft auch soziale und kulturelle Aspekte mit einbezieht, ergibt sich jetzt ein lebendiges Gesamtbild von zwei Staatsgebilden, die sich mehr oder weniger erfolgreich ihren Problemen stellten.

Neue Erkenntnisse aus bisher unzugänglichen Quellen werden allgemein verständlich ins Handbuchformat destilliert. Dass Frauen in der Politik eine zentrale Rolle spielen, würdigt der neue Gebhardt genauso, wie die Bedeutung der Kultur für das Benennen und Aufarbeiten der verdrängten deutschen Horrorgeschichte von 1933 bis 1945. So kam es erst durch Rolf Hochhuths papstkritisches Theaterstück "Der Stellvertreter" ab 1963 in Westdeutschland zu einer breiten Diskussion über die Verantwortung der alten Machteliten – nicht nur in der katholischen Kirche. Im Gebhardt der 9. Auflage von 1976 war dagegen die katholische Kirche noch uneingeschränkt für ihren angeblich beispielhaften Widerstand gegen den Nationalsozialismus gelobt worden.
Klar arbeitet der neue Gebhardt heraus, dass die deutschen Nachkriegspolitiker prinzipiell die Vorgaben der Alliierten umzusetzen hatten. Wichtig war jedoch, dass die Alliierten die erste juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen selbst durchführten: denn die Art und Weise, wie die westdeutsche Nachkriegsjustiz mit den für die Naziverbrechen Mitverantwortlichen umging, belegt, wie fatal es gewesen wäre, wenn die Deutschen selbst in Nürnberg versucht hätten, Recht zu sprechen. Kaum bekannt sein dürfte, dass gegen starken westdeutschen Widerstand die englische Siegermacht in den Westzonen den am BBC-Modell orientierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk durchgesetzt hat. Und dass die vielfach verklärte Einführung der D-Mark und ihr Umtauschmodus schon seit 1946 in den USA vorbereitet wurde und dann im Herbst 1947 in New York und Washington die Geldscheine gedruckt wurden, steht bisher in keinem Handbuch.
Ein Verdienst des neuen Gebhardt ist auch, dass er uns die unmittelbare Nachkriegsgeschichte der beiden deutschen Teilgebilde anschaulich als das Produkt der "Anpassungsbereitschaft der Deutschen an die jeweilige Obrigkeit" ungeschminkt vor Augen führt. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs bemühten sich die von den Siegermächten autorisierten Musterknaben – Damen waren kaum vertreten – die jeweilig aktuellen Vorgaben des Kalten Krieges zu erfüllen. Der Band 22 des Gebhardt zeigt aber auch im Detail auf, wie die DDR-Führung mit den sich periodisch ändernden Vorstellungen Moskaus nicht immer zurecht kam, bis dann die SED-Oberen schließlich völlig aus dem Tritt gerieten, als mit sowjetischer Zustimmung das Ende der DDR friedlich eingeläutet wurde.

Im Gegensatz zur 9. Auflage des Gebhardt gelingt den beiden Autoren der 10. Auflage ein Quantensprung, da ihr Handbuch die deutsche Nachkriegsgeschichte erstaunlich unemotional als einen verwickelten historischen Prozess porträtiert, in dem sich das durch Hitler im Mark beschädigte Deutschland langsam wieder aufrappelte zu einem aktionsfähigen Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft.
Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr

Wolfgang Benz, Michael F. Scholz: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949. Die DDR 1949-1990
Band 22, 10. Auflage
Klett-Cotta, Stuttgart 2009
686 Seiten, 42 Euro