Gert Loschütz: "Besichtigung eines Unglücks"

Schicksal, Liebe, Lebenslügen

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Buchcover zu Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks
Rekonstruiert eines der größten Zugunglücke deutscher Geschichte: "Besichtigung eines Unglücks" von Gert Loschütz. © Deutschlandradio / Schöffling & Co.
Von Dorothea Westphal · 20.07.2021
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1939 geschah eines der schlimmsten Zugunglücke in der deutschen Geschichte. Der Erzähler, ein Journalist, recherchiert dazu und entdeckt eine Verbindung zu sich selbst. Gert Loschütz verwebt in seinem Roman Fakt und Fiktion auf kunstvolle Weise.
Dezember 1939, drei Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs: In einer eiskalten Nacht kurz vor Weihnachten prallen vor dem Bahnhof Genthin zwei Züge aufeinander. Zahlreiche Menschen sterben, Hunderte werden verletzt. An diesem schlimmsten Zugunglück in der deutschen Geschichte blieb trotz der Ermittlungen so manches ungeklärt.
Der Ich-Erzähler Thomas Vandersee ist Journalist und stellt Recherchen über das Unglück an. Vor allem die Frage "Was wäre wenn?" lässt ihn dabei nicht los. Eben war es noch so, im nächsten Augenblick ist alles anders.

Tragische Liebesgeschichte der Mutter

"Nicht deine Zeit", sagt Vandersees Geliebte, als sie die Akten auf seinem Schreibtisch sieht. "Aber doch an meine Zeit heranreichend", erwidert er und erinnert sich an eine traumatische Begebenheit aus seiner Kindheit, ebenfalls am Bahnhof von Genthin: Bei ihrer Flucht aus der DDR hatte die Mutter den Jungen durch ein Fenster des überfüllten Zuges gehoben, vermutlich, um sich ohne ihn schneller durch die Menge kämpfen zu können. Seine Angst, der Zug würde ohne sie abfahren, war groß.
In einem der Unglückszüge von 1939 saß Carla Finck, die schwer verletzt überlebte. Zwischen ihr, so ahnt der Ich-Erzähler, und seiner Mutter scheint es eine Verbindung zu geben. Carla, selbst Tochter eines jüdischen Elternteils, war mit einem Juden verlobt, im Zug aber mit einem Italiener namens Giuseppe Buonomo unterwegs, der bei dem Unglück ums Leben kam. Warum Carla sich im Krankenhaus als dessen Frau ausgibt, versucht Vandersee zu ergründen und erzählt parallel dazu die tragische Liebesgeschichte der Mutter zu einem Musiker.

Beruht auf akribischer Recherche

Vorlage des Romans ist ein Hörspiel, das Loschütz vor 20 Jahren geschrieben hat. In fünf Kapiteln rekonstruiert er das Zugunglück, erzählt von Carla und seiner eigenen Familie und verwebt Fakten und Fiktion auf kunstvolle Weise, ohne alles bis ins Letzte aufzulösen.
Auch wenn die Namen des an dem Unglück beteiligten Bahnhofspersonals frei erfunden sind, wie Loschütz in einer Nachbemerkung schreibt, so beruht die bis ins kleinste Detail präzise rekonstruierte Geschichte doch auf einer akribischen Recherche. Mit großer Spannung folgt man ihr und hofft auf eine Erklärung für die Ursache des Zugunglücks sowie für Carlas Verhalten. Die wird noch im Krankenhaus von der Gestapo verhört und versichert, die Verbindung mit ihrem jüdischen Verlobten Richard gelöst zu haben.

Beiläufig wird eine Erkenntnis enthüllt

Vandersee findet letztlich keine Antwort auf die Frage, warum Lokführer und Heizer des D 180 mehrere Signale überfahren haben. Auch über Carlas Motiv kann er nur Vermutungen anstellen. Am Schluss aber wird fast beiläufig eine Erkenntnis enthüllt, die zeigt, dass Carla den Verrat an ihrem Verlobten nie verwunden hat. Das hat eine Wucht, die an den überraschenden Schluss von Loschütz‘ Roman "Ein schönes Paar" erinnert.
Schicksal, Schuld, Liebe und Lebenslügen – das sind die Themen dieses meisterlich erzählten Romans und sie haben auch Vandersees Leben geprägt. Für manches gibt es eben keine einfache Erklärung, so die Erkenntnis. Auf elegante Weise spannt sich so der Bogen in die Gegenwart.

Gert Loschütz: "Besichtigung eines Unglücks"
Schöffling, 2021
336 Seiten, 24 Euro

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