Gerechter Lohn

Von Florian Felix Weyh |
Wir bezahlen Arbeit ständig falsch, nämlich auf der Basis von Zeiteinheiten, statt die Produktivität des Einzelnen zu betrachten. Unten, bei den einfachen Jobs, wird dann gerne gespart, oben, an der Spitze der Einkommenspyramide, dagegen draufgesattelt.
Eine Baustelle, irgendwo draußen auf dem Lande. Zwei Männer heben eine Grube aus. Leicht zu erkennen, dass ein dritter Mann die Sache beschleunigen würde. Den gibt es auch! Er sitzt in einem Mercedes am Rand des Grundstücks, hört Musik aus dem Autoradio und schaut den beiden zu. Ungerührt, ohne ihnen zur Hand zu gehen, denn er ist Unternehmer.

Eine verantwortungsvolle Figur, die den Männern in der Baugrube erst ihre Arbeit gibt. Dank seiner unermüdlichen Akquisitionstätigkeit haben sie wenigstens einen Job für ein paar Euro die Stunde. Zugegeben: Zu den Großen der Branche zählt er nicht. Im Gegenteil, er ist einer jener Kleinstunternehmer, deren Aufstieg und Untergang sich im Rhythmus der Steuerquartale vollzieht: Ein missratener Auftrag, schon klopft das Insolvenzgericht an die Tür.

Unternehmer sind wichtig! Ohne sie geht in einer gesunden Volkswirtschaft gar nichts, weswegen man sie hegen und pflegen sollte. Dennoch lässt dieser Fall stutzen: Aus welchem Topf wird eigentlich der Müßiggänger im Mercedes bezahlt? Gemessen an der Aufgabe – Ausheben einer Baugrube – sitzt er seine Zeit unproduktiv ab. Natürlich wird er vom Pauschalhonorar entlohnt, das der Bauherr für die Grube zahlt. Weil aber nur zwei statt drei Menschen wirklich daran arbeiten, muss der untätige Dritte zu Lasten der Fleißigen durchgefüttert werden. In der Sprache der Ökonomie ist das eine Art Transfer. Der Tausch „Leistung gegen Geld“ wird mit Abgaben an jemanden belastet, der mit der Erfüllung der Aufgabe wenig zu tun hat.

Nichts Neues in der Geschichte der Menschheit. Doch in ihrer schieren Massenhaftigkeit wirft diese Bauernschläue erhebliche gesellschaftliche Probleme auf. Wir bezahlen Arbeit ständig falsch, nämlich auf der Basis von Zeiteinheiten, statt die Produktivität des Einzelnen zu betrachten. Unten, bei den einfachen Jobs, wird dann gerne gespart, oben, an der Spitze der Einkommenspyramide, dagegen draufgesattelt.

Schon gemessen an den üblichen Gehältern von Geschäftsführern mittlerer Unternehmen (ganz zu schweigen von den Leitern großer Konzerne), müsste der Anteil der Manager an der betrieblichen Produktivität irgendwo nahe der 100 Prozent liegen. Doch gerade an der Spitze lässt sich überhaupt nicht sagen, wie groß der persönliche Erfolgsanteil ist; dafür sitzen die Manager viel zu weit weg vom Geschehen an die Fließbändern. Nein, es sieht so aus, als würde unten eine Wertschöpfungssteuer abgezogen, um sie ganz oben als Prämie wieder aufzuschlagen.

Gerechter Lohn kann das nicht sein – unten wie oben! Zum Glück gibt es den Ethikverband der Deutschen Wirtschaft, gegründet vom Jesuitenpater Rupert Lay und dem Unternehmensberater Ulf D. Posé. Er macht sich seine Gedanken und findet eine plausible Antwort: Gerechter Lohn setzt sich ‚aus zwei Komponenten zusammen: erstens durch den Beitrag zur betrieblichen Wertschöpfung und zweitens durch den Marktwert.‘ Diese kleine Ergänzung ist wichtig, denn ein Unternehmen muss seine Produkte auch verkaufen können. ‚Ist das Produkt unverkäuflich, ist der Wert des Produktes gleich null.‘ Gerechter Lohn muss also beide Komponenten so in Beziehung zueinander setzen, dass keine beteiligte Partei übermäßig viel vom Kuchen an eine andere abzutreten hat.

Am Beispiel der Bauarbeiter lässt sich leicht erkennen, welch schlechte Karten sie im herrschenden System haben: Der Radio hörende Unternehmer im Mercedes, der das Produkt „marktfähig“ macht – eine Sache von zwei Stunden – profitiert übermäßig, während diejenigen, die über Tage hinweg harte, körperliche Arbeit leisten, das Nachsehen haben. Ein Außenstehender wundert sich freilich, dass die Bauarbeiter nicht irgendwann mit der Schaufel am Mercedes anklopfen: „Hey Boss, entweder du arbeitest mit, oder wir kriegen mehr Geld!“

Gerechter Lohn ist die Frage der Zeit – nicht das überkommene Tarifsystem, über das seit Wochen verbissen gestritten wird. Innerhalb dessen Gemarkungen findet zu viel undurchsichtige und ungerechte Umverteilung statt, nicht zuletzt von den Gewerkschaftsmitgliedern in die Taschen der Gewerkschaftsfunktionäre.

Je länger wir uns um diese Differenzierungsarbeit drücken – die mit Abschlägen ganz oben und Zuschlägen ganz unten verbunden sein wird –, desto krasser öffnet sich die Schere zwischen reichen und armen Beschäftigten, bis hin zum paradoxen Umstand, dass man heutzutage trotz Arbeit arm sein kann. Bei gerechtem Lohn wäre so etwas ökonomisch unmöglich: Tätigkeiten, die so wenig produktiv oder so marktfern sind, dass sie jämmerliche Löhne versprechen, könnte es nicht geben, da sich ihre wirtschaftliche Unsinnigkeit sofort erwiese. Wenn umgekehrt manche Branchen im bestehenden System jämmerliche Löhne zahlen, heißt das überhaupt nicht, dass dort kein Geld verdient wird; bei Lebensmitteldiscountern etwa werden Multimillionäre produziert.

Nicht an den Registrierkassen, versteht sich. Sondern an der Firmenspitze.


Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyhsheiten.de zu finden.