Geraubte Präsenz in Kunst und Sport

Wir wollen das Original zurück!

Leeres Fritz-Walter-Stadion. Fußball: 3. Liga, 1. FC Kaiserslautern - 1. FC Saarbrücken. Transparente hängen auf der leeren Westtribüne.
Keine Erfahrung - irgendwo: So auch im leeren Fritz-Walter-Stadion des 1. FC Kaiserslautern. © picture alliance / dpa / Uwe Anspach
Horst Bredekamp und Gunter Gebauer im Gespräch · 12.06.2021
Leere Stadien, gestreamte Konzerte, virtuelle Ausstellungen: Seit Beginn der Coronapandemie haben wir Kultur meist nur indirekt beigewohnt, statt in leiblicher Präsenz. Was geht dabei verloren? Und wie verändert es die Ereignisse selbst?
Die Coronapandemie hat unsere Teilnahme am öffentlichen Leben, an Sport- und Kulturveranstaltungen stark verändert. Immerhin wurden zwar weiterhin Fußballspiele ausgetragen, Theaterstücke aufgeführt, Vorträge organisiert und sogar Ausstellungen eröffnet, aber meist ohne leibhaftig anwesendes Publikum. Während zumindest in der Gastronomie nach Monaten des Lockdowns langsam wieder Leben einkehrt und sogar erste Konzerte mit Publikum stattfinden, wird die anstehende Fußball-Europameisterschaft an vielen Orten vor weitgehend leeren Rängen stattfinden.
"Man kann die Pandemie als eine Art Labor nehmen, in dem erprobt wird, inwieweit die digitale Welt die reale Welt ersetzen kann", glaubt der Kunstwissenschaftler Horst Bredekamp. "Zu großen Teilen hat sie das getan und wird es weiter tun. Aber unabdingbar zeigt sich zugleich, dass die Sehnsucht nach dem Analogen, nach dem Plastischen, nach dem Dreidimensionalen umso größer wird. Beides muss leben können. Das eine geht nicht auf Kosten des anderen."
Auch der Philosoph und Sportwissenschaftler Gunter Gebauer ist der Ansicht, dass die "außergewöhnlichen, existenziellen Momente, die man im Sport durchlebt", durch die virtuelle Teilnahme nicht ersetzbar sind. Aber was ist es, das die leibliche Präsenz so unabdingbar für ein umfassendes Erleben von Sport und Kultur macht? Was geht verloren, wenn sie ausbleibt? Darüber unterhalten sich Gunter Gebauer und Horst Bredekamp in der Langen Nacht.

Kunsterfahrung braucht den Körper

Zwar steht beim Erleben bildender Kunst zunächst der Sehsinn im Vordergrund, so Bredekamp. Aber: "Zum Sehen kommt immer eine körperliche Erfahrung hinzu, um ein Kunstwerk vollgültig wahrnehmen und bewerten zu können und sich von ihm beeindrucken zu lassen. Das ist die Originalerfahrung."
Eine griechische Statue im Vatikan:Myron, ein Diskuswerfer. 5. Jh.v.Chr. Um 450 v.Chr. Marmor. Römische Kopie nach Bronzestandbild des Myron. Rom, Vatikanische Museen.
Einladung zum Nachempfinden: Die Plastik "Myron der Diskuswerfer"© picture-alliance / akg-images
Das gilt auch für zweidimensionale Gemälde, die innerhalb eines Ausstellungsraums ihre Wirkung entfalten. Besonders deutlich ist das in der Architektur oder der Plastik als genuin räumliche, also multiperspektivische Kunstformen, so Bredekamp. Gerade plastisch dargestellte Körper werden in ihrer Dynamik von Spannung und Entspannung nicht nur betrachtet, sondern auch nachgefühlt, wie Gebauer ergänzt.
Dabei kann unter Umständen die Skulptur regelrecht zum Leben erwachen, wie Gebauer am Beispiel des Diskuswerfers des Myron verdeutlicht: "Der Wurf wird in der Vorstellungskraft schon vorbereitet. Lessing hat diese Potenzialität der Plastik den 'fruchtbaren Augenblick' genannt. Mit diesem Ausdruck macht er darauf aufmerksam, dass die Präsenz des gegenwärtigen Moments in der Kunst mehr enthält als das, was faktisch gezeigt wird. Dies geschieht dadurch, dass der Körper des Betrachters mit seinen Bewegungserfahrungen die zukünftige Bewegung vorwegnimmt."
Laokoon-Gruppe, Vatikanische Museen, Vatikanstadt, Vatikan, Rom, Italien.
Das Original ist unverzichtbar: Beispielsweise die "Laokoon-Gruppe".© picture alliance / dpa / imagebroker
Solche leiblichen Erfahrungen von Kunst lassen sich oft nur schwer in Worte fassen, unterstreicht Bredekamp, etwa mit Blick auf die berühmte Laokoon-Gruppe: "Es geht, aber es geht an der Grenze der Sprache, die Simultaneität, die Ambivalenz, die Multiperspektivität, die in diesem Marmor steckt, sprachlich einzuholen. Das ist es, was das Original unablässig unverzichtbar macht."

Das Publikum spielt mit

Diese Grenzen des sprachlichen Ausdrucks erkennt Gebauer auch mit Blick auf die Erfahrung von Sportereignissen: "Wir nehmen sie mit allen Sinnen auf, können aber nur oberflächlich beschreiben, was dabei mit uns geschieht. Die begriffliche Sprache reicht dafür nicht aus. Das ist es, was in Kunst und Sport ähnlich wirkt."
Eine Besonderheit beim Sport ist die leibliche Kommunikation zwischen Spielern und Publikum, so Gebauer: "Was in der 'eigenen' Mannschaft durch die Körper kommuniziert wird, greift auch auf die Zuschauer über."
Einen ähnlichen Effekt vermutet Gebauer bei großen Reden oder auch im Theater: "Das Publikum beteiligt sich emotional, kognitiv und körperlich am Spiel." Beispielhaft erinnert er eine Erfahrung bei einer Box-Weltmeisterschaft in der Berliner Deutschland-Halle. Dabei habe er selbst "direkt hinter zwölf alten Boxern gesessen", die sich offenbar stark mit einem der beiden Kontrahenten identifizierten:
"Sie saßen während des ganzen Kampfes in Verteidigungshaltung, bewegten die Fäuste vor dem Körper, als würden sie die Schläge seines Angreifers abwehren – alle zwölf Boxer mit ähnlichen Bewegungen." Ebenso lässt sich im Fußball beobachten, "dass die Zuschauer ihre Füße heftig bewegen, wenn sie wollen, dass der Spieler aufs Tor schießt".
Auch die körperliche Präsenz der Fans hat einen direkten Einfluss auf die Sportler: So hat sich während der Geisterspiele etwa erwiesen, dass der Heimvorteil gastgebender Mannschaften zurückgeht. Das zeigt, "welchen Einfluss die Fans auf 'ihre' Mannschaft haben, wenn zigtausend Menschen im Stadion ihre Mannschaft anfeuern. Sie geben dieser Mannschaft wirklich Kraft."
Bei Geisterspielen im leeren Stadion fehlt diese Kraftquelle, weshalb sich die Spieler viel stärker selbst motivieren müssen, wie etwa der Ex-Fußballer Jorge Valdano in einem Interview unterstreicht: Ohne Publikum müssten die Spieler ihrem Spiel ständig selbst einen bestimmten Sinn geben.
"Von der Präsenz der Zuschauer werden sie immer wieder daran erinnert, dass alles, was sie tun, Auswirkungen auf das Spiel hat", ergänzt Gebauer. "Dafür ist das Publikum da: Es kommentiert, bewertet, lenkt wichtige Spielzüge, entweder durch Beifall oder durch Missfallenskundgebungen."
In der Erfahrung der Geisterspiele liegt für Bredekamp aber auch etwas Heilsames: "Ich erinnere mich genau, wie es irgendwann in der Mitte der Neunziger einen Artikel gab, in dem behauptet wurde: In Zukunft werden Zuschauer dafür bezahlt werden, dass sie in das Stadion gehen, weil die Spiele selbstverständlich virtuell sein werden. Ich habe damals gedacht: Was für ein Irrtum! Dieser Irrtum ist durch die Pandemie bewiesen."

Arenen bringen das Blut in Wallung

Die besondere sinnliche Intensität von Arenaerfahrungen ist schon früh beschrieben worden, bemerkt Bredekamp, nämlich von Augustinus, der großer Fan der Gladiatorenkämpfe war. Ein Freund von ihm verabscheute sie hingegen und war überzeugt, bei einem Kampf die Augen geschlossen halten zu können. Die Geräuschkulisse aber habe ihn schließlich überwältigt, berichtet Augustinus.
Tatsächlich weiß man heute, dass solche Stadiongefühle nicht nur durch die Geräusche vermittelt werden, sondern "dass man diese ganze Erregung auch über die Haut aufnimmt", so Gebauer. "Wie bei der Furcht oder beim Gruseln, die umgebenden zitternden Körper senden Vibrationen aus, die eine Erhöhung der Leitfähigkeit der Haut hervorrufen, die beträchtliche Wirkungen auf das Angstzentrum im Gehirn haben."
Eine Gruppe von Frauen im alten Rom sieht einem Gladiatorenkampf zu und fordert den finalen Todesstoß. 'Habet!' von Simeon Solomon, 1840-1905. Öl auf Leinwand.
Besondere Gefühle kommen in der Arena auf: Eine Gruppe von Frauen im alten Rom sieht einem Gladiatorenkampf zu.© picture alliance / akg-images
Bei heutigen Sportereignissen geht es zwar nicht mehr "um Leben und Tod", betont Bredekamp, aber "die Erregung ist die gleiche". Tatsächlich werden Sportstadien, etwa das neue Fußballstadion in München, gezielt so gebaut, dass sie solche Erregungsgefühle möglichst stark anheizen, weiß Gebauer: "Ihr Angebot an das Publikum ist geradezu, die Masse zu verführen" – im Idealfall, "bis zu einer Grenze, in der sie nicht zerstörerisch wirkt, sondern die eigene Mannschaft mit Energie zu versorgen vermag."
Die geschlossene Bauweise wirkt dabei am stärksten. Sie bringt hervor, was der Kulturtheoretiker Elias Canetti eine "geschlossene Masse" genannt hat, die sich besonders leicht steuern lasse.

Stadionerfahrungen in Politik und Kunst

Allerdings können solche Stadiongefühle auch politisch gefährlich werden, wofür es in der Geschichte zahlreiche Beispiele gebe. Einerseits lässt sich die sportliche Erregung etwa für nationalistische Propaganda instrumentalisieren, andererseits hat sie sich aber auch immer wieder gegen die Herrschenden gewandt.
So ist etwa der byzantinische Kaiser Justinian – vorübergehend – nach einem Bündnis der Fangruppen im Hippodrom aus Byzanz vertrieben worden. Und während des Arabischen Frühlings haben sich in Ägypten Bündnisse von Fußballfans am Umsturz der Regierung beteiligt.
Im Normalfall, da sind sich Gebauer und Bredekamp einig, kann die "Spannungserregung" im Stadion aber "dazu beitragen, Emotionen zuzulassen und kontrolliert abzubauen". Genau diese Dimension des Erlebens geht bei der Fernsehübertragung verloren, so Gebauer:
"Man weiß zwar, dass gleichzeitig mit mir vor vielen Fernsehgeräten Zuschauer sitzen, die demselben Geschehen folgen wie ich, die ebenfalls die Achterbahn der Gefühle kennen, die diebische Freude über einen 'ungerechten' Sieg und die Trauer über eine 'verdiente' Niederlage. Aber das Gemeinschaftsgefühl, das im vollen Stadion entsteht, ist etwas ganz anderes, eine Präsenz, die nicht nur durch die Aktionen der Spieler erfüllt wird, sondern auch durch den riesigen Resonanzkörper der vielen Menschen, die von dem Spiel auf gleiche Weise affiziert werden."
In der Arena erkennen die beiden Gesprächspartner ein "kollektives Original, das durch besondere Formen der Präsenz gekennzeichnet ist". Ähnliche Arenasituationen sehen sie auch in der Kunst, etwa "bei Biennalen, bei großen Kunstmessen, bei der Documenta, bei gemeinsamen Aktionen von Künstlergruppen, bei kollektiven Kunstereignissen".
Bezeichnend dafür ist, dass es ausgerechnet der Boxkampf in die Sphären eines großen Kunstereignisses geschafft hat. So ist Henry Maske bei der Documenta 1992 als "Verteidigungskünstler" aufgetreten, erinnert sich Bredekamp: "Dorthin kam er zwei Wochen lang jeden Tag und hat Proben seines Boxens vorgeführt, technisch einwandfrei, höchst kunstvoll, Boxen in der allerhöchsten Qualität."

Schmerzlich vermisste Selbstentäußerung

Die Beteiligung an Sport und Kunst lassen sich für Gebauer und Bredekamp als Formen des Spiels betrachten, im Sinne eines völlig versunkenen Tätigseins ohne äußeren Zweck. In der Philosophie gilt das Spiel "als ein Musterbeispiel für reine Präsenz". Entscheidend dabei ist, "dass die eigene Welt des Spiels, die anders ist als die umgebende Welt, den Alltag vergessen" lässt.
Im Spiel geschieht eine "Selbstentäußerung", betont Bredekamp, die er auch "im stundenlangen Tanzen" als einer "Form des Spiels" gegeben sieht. "Das ist es, was eine bestimmte Altersklasse zutiefst vermisst, und zwar so vermisst, dass es verbotene Partys gibt." So unvernünftig das ist, zeigt Bredekamp dafür durchaus Verständnis, denn "aus sich selbst herauszutreten", ist ein zentrales menschliches Bedürfnis.

In Zusammenarbeit mit der Langen Nacht von Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk erscheint in diesem Sommer von Horst Bredekamp und Gunter Gebauer der Band: "Die Wirklichkeit findet statt – Über notwendige Präsenz in Kunst und Sport" im Verlag der Buchhandlung König.

Umso wichtiger ist es, möglichst schnell zu Erfahrungen gemeinsamer leibhaftiger Präsenz zurückzukehren. "Ich glaube, dass das Original des Spiels unbedingt wieder Aufmerksamkeit verlangt und mit allen Facetten zurückgewonnen werden muss", meint Gebauer. Allerdings könnte das nach der Wiederöffnung aller Sport- und Kulturstätten, gar nicht so leicht werden, fürchtet er: "Wenn bestimmte Dinge erst einmal in die Gewohnheiten des Körpers, in den Habitus eingegangen sind, als Berührungsfurcht und innerer Maskenzwang, und wenn man die Sicherheit des Handelns verloren hat, ist es außerordentlich schwer, die frühere Unbefangenheit der Alltagspraxis zurückzugewinnen. Die Hemmung der freien Bewegung, die neuen Lebensweisen, die wir in der letzten Zeit erlernt haben, müssen wir wieder entlernen."
Bredekamp ist da optimistischer: "Ich denke, dass das Defizitbewusstsein so stark ist und sich noch steigern wird, dass die Unmittelbarkeit der Präsenz zurückkommt, und ich glaube sagen zu können, dass sie auch vollgültig zurückkommt."

Horst Bredekamp ist Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und einer der bekanntesten deutschen Kunsthistoriker. Seine Bücher umfassen Themen wie die Kunstkammer, den Petersdom und den Florentiner Fußball. Zuletzt erschien eine Monografie über Michelangelo. Bis 2018 gehörte er zur Gründungsintendanz des Berliner Humboldt-Forums.
Gunter Gebauer ist Philosoph und Sportwissenschaftler. Seine Veröffentlichungen decken ein breites Spektrum ab: von "Wittgensteins anthropologischem Denken" über die "Poetik des Fußballs" bis zur Frage "Wie wird man ein Mensch?". Bis zu seiner Emeritierung 2012 lehrte Gebauer Philosophie an der Freien Universität Berlin.
Produktion dieser Langen Nacht:
Ton und Technik: Alexander Brennecke und Jan Beckhaus; Regie und Redaktion: Monika Künzel; Webdarstellung: Constantin Hühn.

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