Gequälte Rekruten

Von Gesine Dornblüth · 28.04.2010
Immer wieder kommt es in der russischen Armee zu systematischen Misshandlungen. Im letzten Jahr nahmen sich laut russischem Verteidigungsministerium mindestens 149 Soldaten das Leben. Das Komitee der Soldatenmütter in Sankt Petersburg kämpft seit bald 20 Jahren gegen dieses System von Gewalt.
Sprechstunde bei den Soldatenmüttern von St. Petersburg. Etwa 20 junge Männer haben sich in einem Raum versammelt, viele haben ihre Mütter oder Großmütter mitgebracht. Sie wollen wissen, was sie tun können, um nicht zur Armee zu müssen. Das Linoleum auf dem Fußboden ist aufgeplatzt, die Tapeten sind eingerissen, von der Decke hängen nackte Glühbirnen. Eine Katze schläft auf einem Schreibtisch in einem Ablagekorb.

Etwas abseits des Trubels sitzt Vladimir Romanov hinter einem Bildschirm. Der 23-Jährige ist ein bisschen blass, trägt ein Sporthemd. Hier nennen ihn alle Wolodja. Er hat den Wehrdienst bereits hinter sich. Wolodja wurde im Dezember 2008 eingezogen. Die letzten Monate diente er in der Nähe der Kleinstadt Kamenka an der finnischen Grenze. Dort befindet sich eine der größten Einheiten im Norden Russlands.

"In der Nacht vom 30. September auf den 01. Oktober 2009 hat sich ein Teil der Berufssoldaten betrunken. Etwa um vier Uhr nachts haben sie angefangen, die Wehrpflichtigen aus den Betten zu jagen und zu verprügeln. Erst haben sie sich uns einzeln vorgenommen. Dann haben sie alle Wehrpflichtigen antreten lassen und der Reihe nach verprügelt. Das ging so bis elf Uhr morgens."

In der russischen Armee herrscht ein Unterdrückungssystem, die "Dedovschina". Die Dienstälteren, die sogenannten "Großväter", auf russisch "Dedy", quälen die Jüngeren. Das Komitee der Soldatenmütter kämpft seit bald 20 Jahren gegen dieses System von Gewalt. Finanziert von westlichen Stiftungen und Regierungen, machen die Frauen Misshandlungen in der russischen Armee öffentlich und unterstützen die Opfer. Und sie beraten diejenigen, die aus Angst vor der Dedovschina gar nicht erst zur Armee wollen.

An den Wänden hängen mehrere Dutzend Fotos junger Männer. Einer hält eine Gitarre in den Händen, ein anderer umarmt seine Mutter auf einer Gartenbank, wieder ein anderer präsentiert ein Gewehr. Viele tragen Uniform. Sie alle waren Soldaten der russischen Armee. Sie alle wurden zu Tode gequält oder in den Selbstmord getrieben. Im Jahr 2008 nahmen sich 184 russische Soldaten im Dienst das Leben, im letzten Jahr mindestens 149. Diese Zahlen hat das russische Verteidigungsministerium veröffentlicht.

Wolodja knetet seine Finger. Die Misshandlungen in Kamenka liegen mittlerweile ein halbes Jahr zurück. Er erzählt die Geschichte nicht zum ersten Mal.

"Es geschah an vielen Orten: in der Stube, in der Dusche, in der Kantine. Schließlich draußen auf der Lichtung, wo die Technik gelagert wird. Je drei Unteroffiziere haben erst die eine Gruppe durchgeprügelt, dann die andere. Sie haben gesagt, uns gehe es viel zu gut. Als sie ihren Wehrdienst geleistet hätten, seien die Vorgesetzten viel härter gewesen. Und sie sagten auch: 'Ihr könnt euch wenden, an wen ihr wollt, euch hilft sowieso niemand'."

So etwas wie Vertrauenspersonen oder ein Sorgentelefon gibt es in den russischen Einheiten nicht. Wolodja beschloss, sich trotzdem zu beschweren – wo auch immer, er werde schon eine Möglichkeit finden. Und er kündigte das auch an. Deshalb schlugen sie ihn besonders hart, vermutet er.

"Insgesamt habe ich bestimmt mehr als hundert Schläge und Fußtritte kassiert. In alle Körperteile. Ich habe aber eine gewisse Erfahrung und konnte fast alle Schläge abwehren. Ich spiele seit Langem regelmäßig Fußball. Da gibt's immer mal wieder Prügeleien. Außerdem habe ich mal Kung Fu gemacht. Da lernt man, sich zu verteidigen."

Dennoch erlitt Wolodja schwere Gehirnerschütterungen. Ein anderer Wehrpflichtiger aus Kamenka wurde mit doppeltem Schädelbruch ins Krankenhaus eingeliefert. Er liegt dort bis heute.

Wolodja entschied, noch am selben Tag zu fliehen, um die brutalen Offiziere anzuzeigen. Er war durchtrainiert und spürte die Schmerzen kaum. Er rief seine Eltern in St. Petersburg an, damit die ihn mit dem Auto abholen. Damit machte er sich strafbar. Denn Wehrpflichtige dürfen die russischen Kasernen nicht verlassen.

"Ich bin abends durch den Wald geflohen, während die anderen aßen. Ich bin vom Weg abgekommen und drei Stunden umhergeirrt, aber schließlich habe ich die Straße gefunden. Wir sind nach St. Petersburg gefahren, ich habe geschlafen, und gleich am nächsten Morgen sind wir zu den Soldatenmüttern gegangen."

Die Soldatenmütter kannten Kamenka schon. Die Einheit ist berüchtigt. Bereits Anfang 2009 hatte es dort Gewaltexzesse gegeben: Mehrere Offiziere hatten Wehrpflichtige mit Prügel dazu gezwungen, sich als Zeitsoldaten zu verpflichten. Die Rekruten erhielten von da an einen erheblich höheren Sold. Den aber strichen die Offiziere ein.

In den folgenden Monaten wiederholten sich diese Vorfälle. Allein in der Einheit in Kamenka kamen im vergangenen Jahr sechs Soldaten zu Tode. Einer erschoss sich, einer starb an einer Überdosis Drogen, bei vier weiteren sind die Umstände ungeklärt.

Ella Poljakova hat das Komitee der Soldatenmütter Anfang der 90er-Jahre gegründet und leitet es bis heute. Davor hat sie erst als Fernmeldetechnikerin, dann als Journalistin gearbeitet. Die Katholikin trägt ein Holzkreuz um den Hals. Ihre kurzen Haare hat sie rot getönt. Sie wird bald 70, sieht aber mindestens zehn Jahre jünger aus.

"Kamenka ist eine Kampfeinheit. Sie hat an beiden Tschetschenienkriegen teilgenommen. In Tschetschenien waren die Soldaten an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt, für die sie nie bestraft wurden. Die Soldaten haben sich in Tschetschenien daran gewöhnt, Menschen wie wilde Tiere zu behandeln. Sie sind es gewöhnt, ungestraft zu töten, ungestraft zu erniedrigen. Unmenschlichkeit, Kriminalität und Diebstahl haben die Armee infiziert wie ein Virus."

Sofort, nachdem Wolodja ihnen von den brutalen Misshandlungen in Kamenka Anfang Oktober berichtet hatte, beschwerten sich die Soldatenmütter beim Oberkommando des zuständigen Militärbezirks. Die Militärstaatsanwaltschaft leitete eine Untersuchung ein. Gewöhnlich verlaufen derartige Untersuchungen im Sande. Dieses mal war es anders. Anfang Dezember wurde das gesamte Kommando der Einheit in Kamenka auf Befehl des Verteidigungsministeriums abgesetzt. Acht Offiziere wurden entlassen. Ein Erfolg für die Soldatenmütter. Aber nur ein vorübergehender. Denn die Gewalt in Kamenka geht weiter – auch unter dem neuen Kommando.

Vor einem Monat erhängte sich ein 25-jähriger Rekrut. Das Militärkommando teilte mit, der Tote habe keine Probleme mit seinen Vorgesetzten gehabt, und deutete Liebeskummer als Tatmotiv an. Freunde des Toten schließen persönliche Motive aus. Ella Poljakova vermutet, der Rekrut sei eventuell Zeuge finanzieller Machenschaften der Offiziere in Kamenka geworden und deshalb in den Tod getrieben worden.

"Der neue Kommandeur der Einheit versucht vielleicht, in Kamenka für Ordnung zu sorgen. Aber er hat es mit einem System zu tun, und dieses System ändert sich nicht. Am besten wäre es wohl, die Einheit einfach aufzulösen."

Das Verteidigungsministerium lehnt eine Stellungnahme zu den Vorfällen in Kamenka ab. Auch der Besuch einer Kaserne sei in absehbarer Zeit nicht machbar, ganz gleich, ob in Kamenka oder anderswo in Russland. Für Ella Poljakova steht fest:

"Kamenka ist nur ein Beispiel von vielen. Wir haben gerade einen Brief an den Verteidigungsminister geschrieben, in dem wir ihn bitten, sein Augenmerk auf eine Einheit bei Murmansk zu richten, an der Grenze zu Norwegen. Dort ist die Situation ähnlich schlimm. Und auch in der Division bei Pskov geschehen ungeheuerliche Verbrechen mit Todesfolge. Hier in St. Petersburg liegt ein Junge im Krankenhaus, den haben sie erst verprügelt und dann aus dem Fenster im zweiten Stock geworfen. Er hat eine Wirbelsäulenverletzung und wird sein ganzes Leben im Rollstuhl sitzen."

Ella Poljakova kann viele solche Geschichten erzählen. Das Problem ist, die Täter zur Verantwortung zu ziehen.

"Da sind die Möglichkeiten leider begrenzt. Wir haben die Aussagen der Opfer, aber schon bei den Zeugen wird es schwer. Viele Soldaten haben Angst und schweigen. Denn sie müssen ihren Dienst noch zu Ende bringen, und oft werden sie bedroht."

Auch Wolodjas Vorgesetzte wollten verhindern, dass er aussagt. Sie lauerten ihm in St. Petersburg auf, als er am Tag nach seiner Flucht in Begleitung seines Vaters zum Arzt wollte.

"Ich hatte mich gerade ins Auto gesetzt, da liefen zwei Leutnants und drei Unteroffiziere in Zivil herbei. Ich habe sie sofort erkannt. Sie waren aus meiner Truppe in Kamenka. Sie begannen, mich aus dem Auto zu zerren. Wir hatten es nicht geschafft, die Türen zu verriegeln. Sie haben auf uns eingedroschen, meinen Vater gewürgt und mir den Daumen gebrochen. Sie haben uns den Autoschlüssel abgenommen, sodass wir nicht wegfahren können. Nach fünf Minuten gelang es ihnen, mich in ihren Wagen zu zerren. Danach gaben sie meinem Vater den Autoschlüssel zurück, worauf er ihnen in die Seite fuhr, damit sie nicht wegfahren können."

Ein Unbeteiligter rief die Polizei. Wolodja selbst konnte die Soldatenmütter verständigen. Die brachten Journalisten mit und sorgten dafür, dass er befreit wurde.

Eine Straßenecke vom Büro der St. Petersburger Soldatenmütter entfernt rufen die Glocken der Wladimirkathedrale zum Gottesdienst. Nebenan ist ein Markt, gegenüber ein Einkaufszentrum, die Menschen hasten durch die Straßen. Eine elektronische Werbetafel verkündet auch Wochen nach Ostern noch: "Christ ist erstanden."

Die russische Armee ist ein geschlossenes System. Die Gesellschaft hat so gut wie keine Kontrolle darüber, was in diesem System geschieht. Manch einer wendet sich an die Ombudsmänner, die Beauftragten der Regierungen für Menschenrechte. Sie werden in Russland von den Parlamenten bestätigt und sind dafür zuständig, die Bürger vor staatlicher und Behördenwillkür zu schützen. In St. Petersburg heißt der Ombudsmann Aleksej Kozyrew. Sein Büro liegt nur wenige Gehminuten von der Wladimirkathedrale entfernt in einem Keller. Kozyrew war selbst nie bei der Armee.

"Die "Dedovschina" gab es auch in den 60er-Jahren schon. Nur war sie damals vielleicht nicht so grausam. Es gibt sie auch in Gefängnissen und in Straflagern, besonders in den Jugendkolonien. Wer frisch hinzukommt, muss sich unterordnen, auch dort. Das ist so. Wir Russen haben das wohl irgendwie im Blut."

Es gibt in Russland mittlerweile auch Anwaltskanzleien, die sich auf Rechtsverstöße durch das Militär spezialisiert haben.

Eine dieser Kanzleien befindet sich auf der Vasilij-Insel in St. Petersburg. Am Empfang stehen Ledersofas und ein Wasserspender. Im Fernseher laufen Musikvideos. Eine sehr schlanke Frau in sehr kurzem Kleid und auf sehr hohen Absätzen bittet um etwas Geduld, dann kommt der Chef, Aleksej Ponomarjov.

"Guten Tag!"

Ponomarjov vertritt, das stellt er gleich klar, vor allem junge Männer, deren Rechte bereits bei der Musterung verletzt werden, also vor dem Eintritt in die Armee. Solche Fälle gibt es häufig. Denn das Militär muss jedes Jahr eine bestimmte Anzahl von Wehrpflichtigen einziehen. Zu diesem Zweck erklären die Wehrersatzämter immer wieder auch solche Männer für tauglich, die chronisch krank und deshalb eigentlich untauglich sind. Und sie berufen Studenten ein. Dabei haben die das Recht, erst einmal zu Ende zu studieren. Für umgerechnet drei- bis viertausend Euro verhelfen Ponomarjov und seine Anwaltskollegen jungen Leuten in diesen Fällen zu ihrem Recht, nicht zu dienen. Die Anwälte dürfen das, weil es sich um Zivilklagen handelt. Die Mandanten sind noch keine Soldaten. Bei Misshandlungen innerhalb der Armee hingegen könne er gar nichts machen, sagt Ponomarjov.

"Von außen geht das nicht. Das ist Sache der Kommandeure. Wenn eine Straftat vorliegt, dann kann sich ein Soldat an die Militärstaatsanwaltschaft wenden. Wenn er eine vernünftige Erklärung abgibt, dann wird die Militärstaatsanwaltschaft seine Beschwerde verfolgen und ein Strafverfahren einleiten."

Bei den Soldatenmüttern ist die Sprechstunde zu Ende gegangen. Die Katze, die im Ablagekorb auf dem Schreibtisch geschlafen hat, ist aufgewacht und streicht durch die Büros. Ella Poljakova glaubt nicht, dass die Militärstaatsanwaltschaft daran interessiert ist, Misshandlungen von Soldaten aufzuklären.

"Die Ermittlungen nach Verbrechen an Soldaten werden oft eingestellt. In den allermeisten Fällen kommt es gar nicht zu einem Strafverfahren. Es gibt da eine freundschaftliche Mauer des Schweigens. Die Ermittler sind den Kommandeuren unterstellt, und anstatt für Ordnung zu sorgen, vertuschen sie die Verbrechen gemeinsam mit den Kommandeuren."

Die Soldatenmütter fordern deshalb, unabhängige Ermittler innerhalb des Militärs zu schaffen. Wolodja, der misshandelte ehemalige Rekrut aus Kamenka, nickt. Die Unteroffiziere, die ihn und die anderen Wehrpflichtigen Anfang Oktober in der Kaserne stundenlang misshandelten, wurden zwar verurteilt. Aber nur einer erhielt eine dreijährige Haftstrafe. Die anderen beiden kamen mit Bewährungsstrafen davon.

"Ich habe gewisse Moralvorstellungen. Dazu zählen Kameradschaft, Treue einer Sache gegenüber, Ehrlichkeit, Anstand. Ich habe im wirklichen Leben echten Kameradschaftsgeist erlebt. Nur in der Armee, wo sie immer davon reden, gibt es ihn nicht. Die russische Armee lässt überhaupt keine Moral zu."