Gequälte Frauen

27.06.2008
Niels Graf Waldersee interessiert sich für Stimmen der besonderen Art: Der Arzt und Therapeut widmet sein Buch "Ach, ich fühl's - Gewalt und hohe Stimme" dem Phänomen der pathologisch deformierten Frauenstimmen, die für immer mädchenhaft hoch und modulationsarm bleiben. Die Deformation gehe nicht selten mit einem Leidensweg einher, so der Autor.
Die Stimme als hörbares Ereignis, ihre unmittelbare Wirkung und Erscheinung spielt in den neueren Kultur-, Kommunikations- und Humanwissenschaften eine mehr und mehr beachtete Rolle. Der moderne Alltag überschwemmt uns mit einem Gewirr von Stimmen und Signalen, die unsere Aufmerksamkeit arg strapazieren, die wir, wenn wir sie nicht gleich ausblenden, ziemlich schematisch abarbeiten, um nicht handlungsunfähig zu werden.

Aber hinter jeder Stimme steckt auch eine komplexe Botschaft, oft eine Leidensgeschichte, wie der Hamburger Arzt und Stimmtherapeut Niels Graf Waldersee aus langjähriger Praxiserfahrung weiß. In seiner ausführlichen Studie "Ach ich fühl‘s - Gewalt und hohe Stimme" widmet er sich vor allem einem Phäno-men, das im medizinischen Fachjargon als "inkomplette Mutation der Stimme" bezeichnet wird.

Gemeint ist eine pathologische Veränderung der er-wachsenen Frauenstimme, die nicht altersgemäß kraftvoll, flexibel, farbig differenziert erklingt, sondern kindlich hoch und zurückgeblieben, modulationsarm, eintönig und starr. Waldersee führt das auf frühkindliche Störungen zurück.

Die nahen Bezugspersonen, Vater und Mutter, haben versagt. Aber auch übermäßiger Fernsehkonsum schade der stimmlichen Entfaltung. Das Phänomen beschränkt sich keineswegs auf Patienten mit dieser Diagnose.

In der Hochkultur gibt es Sängerinnen, die das von Waldersee beklagte Krankheitsbild in Form des Ziergesangs noch forcieren. Sehr beliebt waren Anfang des 20. Jahrhunderts auch in Deutschland Sopranistinnen mit hellen Zwirnsfadenstimmen, die "instrumental-neutrale Töne ohne individuelle, körperhafte Timbrierung und ohne spezifische Vibration", so der Gesangsspezialist Jürgen Kesting, hervorzubringen vermochten.

Kaiser Wilhelm II. ergötzte sich an den Koloraturen der Star-Sopranistin Frieda Hempel. Ihre Stimme, so beglückwünschte er sie, sei nicht vom Klang einer Flöte zu unterschieden. Gerade in der Zurechtstutzung der Stimme zu einem willenlosen Instrument sieht Waldersee eine Form der Entindividualisierung, ja eine Ästhetik des Infantilen, die auch ein rückständiges patriarchales Frauenbild beschwört, in dem die Frau zum Weibchen, zum Objekt des Mannes gemacht wird.

Seit den Anfängen der Oper wird dieses patriarchale Frauenbild mitgeschleppt. Die zur Koloratur verdammten Mädchen-Frauen mit den hohen Stimmen sind stereotyp die Opfer der tiefen Bässe, die über sie verfügen, und gegen die sie oft ohnmächtig aufbegehren. In den romantischen Opern von Weber und Donizetti, aber auch von Richard Wagner sind solche Stimmkonstellationen besonders beliebt.

Dort werden, so Waldersee, die Herrschaftsverhält-nisse oft genüsslich musikalisch geschildert, werden Frauen gezeigt, "gefangen, erpresst, verlassen, gequält", deren Leidensweg schon die hohe Stimme verrät. Ob Händels "Alcina" oder Mozarts Konstanze aus "Die Entführung aus dem Serail", ihm sei unverständlich, "wie solche menschenfeindlichen Geschichten oder Arien in Opern bei Elterntöchtern immer noch Entzücken auslösen".

Rezensiert von Richard Schroetter

Niels Graf Waldersee: Ach, ich fühl‘s - Gewalt und hohe Stimme
Kadmos Verlag 2008
320 Seiten, 22,50 Euro