Georgiens EU-Perspektive

Fast vereint gegen Russland

25:56 Minuten
Menschen halten Plakate in die Höhne bei einer Demonstration in Tiflis.
„Wir sind Europa“, steht auf den Plakaten, die Menschen bei einer Demonstration am 20. Juni in der georgischen Hauptstadt Tiflis in die Höhe halten. © IMAGO/ZUMA Wire / Nicolo Vincenzo Malvestuto
Von Birgit Wetzel · 11.07.2022
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Eine Mehrheit in Georgien will in die EU. Deshalb trägt sie auch die Sanktionen gegen Russland mit. Die Menschen wissen durch den Krieg 2008, wie es sich anfühlt, wenn Russlands Truppen das eigene Land besetzen. Aber Reformen werden verschleppt.
Paata Scharaschenidze ist auf dem Weg zu seinem Weinberg. Der 53-Jährige mit dem grauen Bart und einem breiten Lächeln lebt in einem Dorf in den Bergen Georgiens. Sein Auto rumpelt gerade über eine alte Brücke, darunter rauscht ein Fluss.
Die Dorfbewohner mögen die alte Brücke, erzählt Paata, weil kein Panzer sie überqueren könnte. Das gibt ihnen Sicherheit. Im Dorf leben etwa zwölf Familien. Alle bauen Wein an.
Der rundliche, kleine Weinbauer Paata steht in Georgien vor einem seiner Weinberge. Die Sonne strahlt. Er trägt schwarze Kleidung.
Weinbauer Paata trägt die Sanktionen gegen Russland mit, auch wenn er dadurch weniger Wein verkauft.© Birgit Wetzel
Paata kennt hier alle, und alle kennen ihn. Seine Mutter kommt aus diesem Dorf. Als Kind hat er hier jeden Sommer verbracht. Gelebt und gearbeitet hat er aber viele Jahre in der Hauptstadt Tiflis – als Professor für Politikwissenschaften. Später baute er mit seinem Bruder ein Restaurant auf. Doch dann kam 2008 der Krieg mit Russland. Tausende Flüchtlinge strömten aus Südossetien und Abchasien in die Städte. Auch Paatas Restaurant versorgte viele. Fünf Tage dauerte der Krieg, doch die Flüchtlinge blieben, weil sie nicht zurückkonnten in ihre Dörfer. Bis heute besetzt Russland knapp 20 Prozent des Staatsgebietes von Georgien.

Weinexport sank um 80 Prozent

Im Dorf seiner Jugend fing Paata neu an – als Winzer. Jetzt baut er die Sorte Usachaleauri an, erzählt er stolz – die gebe es nur in Georgien. Das Land ist eines der Ursprungsländer des Weinanbaus – mit mehr als 8000 Jahren Tradition. Auch für Paata liefen die Geschäfte lange gut – er besitzt mehrere Weinberge. Aber seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist alles anders. Denn die georgische Regierung trägt die weltweiten Sanktionen gegenüber Russland mit. In der Folge ist die heimische Wirtschaft eingebrochen. Der Weinexport sank um 80 Prozent:
„Das Weingeschäft hat große Probleme. Allein der Transport ist sehr schwierig geworden: Alles, was über die Grenze nach Russland geht, wird streng kontrolliert. Ein Kühlschrank braucht zum Beispiel zwei Wochen länger, weil die georgische Regierung in jeden Kühlschrank schauen lässt, ob dort boykottierte Waren sind. So gibt es an der Grenze eine bis zu 50 Kilometer lange Schlange. Ein anderes Problem ist, dass in Russland weniger von unseren Waren gekauft wird. Sicher auch, weil der Geldtransfer jetzt sehr langsam ist. Unsere Regierung untersucht genau, von wem und warum Geld aus Russland kommt. Überweisungen dauern jetzt drei bis vier Wochen, vorher nur einen Tag.“
Trotz der Einschränkungen tragen Paata und viele andere Georgier die Sanktionen gegen Russland mit. Der Winzer hofft auf den Status als EU-Beitrittskandidat und dadurch vielleicht auf einfachere Exporte in die EU.

"Das ist auch unser Krieg"

Doch die EU-Kommission vertröstete die Georgier im Juni und forderte weitere Reformen bis Jahresende. Das sorgte für Proteste auf den Straßen – gegen die eigene Regierung. Weil sie Reformen verschleppe und die Ukraine nicht genug unterstütze, findet auch Tamar.
„Wir möchten etwas tun, um den Ukrainern zu helfen. Denn wir wissen, was so eine Situation bedeutet. Es ist furchtbar, wenn Russen in Dein Land kommen und es einfach nur besetzen wollen. Das ist auch unser Krieg. Denn wir haben mit Russland dieselben Probleme. 2008 hatten wir dieselbe Situation, dass Russland einfach in das Land kam und fürchterliche Dinge machte: die Menschen umbrachte, auch Kinder."
Tamar ist 34 – hat Kinder – arbeitet in einer Bank in Tiflis. Ein geordnetes Leben. Jetzt treiben sie Sorgen um: „Ich bin eine Mutter, und manchmal denke ich, wohin soll ich gehen, wenn so etwas passiert. Ich kann nicht mehr normal schlafen. Denn wir Menschen in Georgien haben sehr große Angst, dass das, was wir 2008 erlebt haben und was jetzt in der Ukraine passiert, wieder kommt nach Georgien.“
Tamar sitzt auf einer Bank, hat ihr Handy in der hand. Sie hat schwarze, lange Haare und lächelt.
Die 34-jährige Tamar fürchtet, dass der Krieg auch wieder nach Georgien kommt.© Birgit Wetzel
Auch Iya hat große Angst. Sie ist eine kleine, energische junge Frau, 23 Jahre alt und studiert in Tiflis Psychologie. An die fünf Kriegstage im August 2008 in Georgien kann sie sich genau erinnern.
„Obwohl es nur ein paar Tage dauerte, war es fürchterlich. Ich war damals zehn Jahre alt, aber ich kann mich an die Bomben erinnern, die Nachrichten, den Tag, als es anfing. 1:39 Und ich kann mir vorstellen, wie es den Ukrainern geht. Es hat alle betroffen, es betrifft uns bis heute. Ich versuche, mich davon nicht zu sehr beeinflussen zu lassen, denn ich weiß, so ist der Krieg.
Und ich bin total gegen den Krieg. Und ich bin total gegen die Vergewaltigungen, die mit dem Krieg kommen. Krieg ist ja nicht nur das Kämpfen, stimmt’s? Es geht um alles, was schlimm ist. Und Menschen können sich daran erinnern, wie die meisten russischen Soldaten waren. Sie haben keine Empathie, sie sind wie Monster, die in Menschen leben. Es ist sehr schwer, darüber zu sprechen.“

Russen in Georgien sorgen für Spannungen

Davit aus Tiflis erinnert sich ebenso an die Brutalität der russischen Truppen. Er liebt die Natur, seine große Familie, sein Land. Mit zögerlichem Englisch erzählt er von damals. Er meldete sich 2008 freiwillig zum Kämpfen. Mit gerade mal 19 Jahren. Er dachte, dass er sich zur Verteidigung seines Landes melden muss. Noch heute kann er sich genau erinnern, wie die Bomben auf Gori fielen, als er durch die Stadt fuhr:
„Hier in Georgien ist jetzt Frieden, aber gedanklich sind wir im Krieg. Die russische Invasion ist überall gleich. Sie haben 2008 auch Bomben auf zivile Ziele geworfen, zum Beispiel in Gori, wo nicht Soldaten, sondern Zivilisten getötet wurden.“
Ein Panzerkonvoi fährt eine Straße entlang.
Krieg in Georgien 2008: Ein russischer Militärkonvoi ist am 9. August auf dem Weg nach Tskhinvali, die Hauptstadt von Südossetien.© picture-alliance/ dpa / epa Shipenkov
Durch den Angriff der russischen Truppen jetzt auf die Ukraine sind auch viele Russen nach Georgien gekommen, vor allem in die Hauptstadt Tiflis, beobachtet Psychologiestudentin Iya. Das sorge für Spannungen:
„Die meisten Menschen hatten eine sehr aggressive Einstellung zu ihnen, ich auch. Ich habe versucht, Ihnen nicht zu zeigen, welche Gefühle ich hatte, und dass sie nicht willkommen sind. Ich denke, sie haben Angst, weil sie gemerkt haben, wozu Russland fähig ist. Außerdem ist ihre Wirtschaft sehr schlecht. Sie konnten sich nichts leisten, haben nicht genug zu essen.
Russland ist eine Art Nordkorea geworden und sie wollten in ihr nächstes Land fliehen. Georgien können Sie ohne Visum und frei besuchen. Von meinen Freunden habe ich gehört, dass sie bei Tinder Leute aus Russland getroffen haben. Viele junge Leute sind Dissidenten, also gegen die russische Regierung. Wenn sie nach Russland zurückgehen würden, würden sie wohl festgenommen.“

Regierung ist in einer Sandwich-Position

Auch Ukrainerinnen sind nach Georgien geflüchtet. Sie erleben, wie auch dort die Preise für Benzin und Lebensmittel stark steigen. Und die Regierung unter Druck steht.
Der 35-jährige Davit beklagt, die fehlende Unterstützung der Ukraine. Bisher agiere nur die georgische Zivilgesellschaft:
"Die Regierung macht gar nichts. Ich wünschte, ich muss das nicht sagen. Aber die Menschen haben Hilfe zusammengesucht, haben Medikamente und Geld geschickt. Alle um mich herum sind seelisch in einer ganz, ganz schlechten Verfassung. Denn dieser Krieg ist auch ihr Krieg, aber die Regierung ist nicht aktiv. Ich weiß nicht, ob sie zu viel Angst haben oder ob sie einfach nur die Komfortzone nicht verlassen wollen. Sie sollten da stehen, wo die Georgier stehen.“
Die Regierung von Georgien sieht sich in einer Sandwich-Position. Auf der einen Seite betreibt sie eine Russland-freundliche Politik, auf der anderen Seite sucht sie die Nähe zur EU.
Das zeigt sich auch bei der Energiepolitik: Über Georgien laufen die Kaukasus-Pipelines aus Aserbaidschan. Die pumpen Öl und Gas Richtung Westen. Für die Durchleitung erhält Georgien: Geld, Gas und Öl. Aber gleichzeitig bezieht Georgien auch Gas aus Russland.
Die pro-russische Lobby ist weiterhin stark im Land. Auch durch Geschäftsmänner wie Bidsina Iwanischwili, der in Russland Milliarden verdiente und nun ohne politisches Amt hinter den Kulissen in Georgien sehr einflussreich mitmischt. Dabei ist die Mehrheit der Bevölkerung laut Umfragen für einen pro-europäischen Kurs und will die Ukraine unterstützen.
Auch Davit war dafür kürzlich auf der Straße: "Ich habe an ganz vielen Aktionen und Demonstrationen teilgenommen, auch meine Freunde und Menschen in meiner Umgebung. Obwohl wir sonst nicht auf Demonstrationen gehen.“

"Westlicher Energie-Boykott kommt zu spät"

Georgiens Verbindungen zur Ukraine und zu Russland analysiert Nika Chitadze. Der stattliche Mann mit der volltönenden Stimme ist Direktor der Black Sea University in Tiflis:
„20 Prozent von Georgien sind von Russland besetzt. Das Schicksal von Georgien hängt jetzt ab von dem Ausgang des Krieges in der Ukraine. Denn wenn Russland jetzt wirtschaftlich und politisch geschwächt ist, dann hätte Georgien bessere Chancen, seine territoriale Integrität wiederherzustellen, natürlich mit friedlichen Mitteln.“
Ob das Russlands Machthaber Putin zulässt? Nika Chitadze beschreibt sein Bild in Georgien so:
„Wir kennen die imperialistischen Ambitionen von Wladimir Putin. Auf der einen Seite wurde er als erfolgreicher Politiker gesehen, autoritär, aber einer, der die territoriale Integrität von Russland wiederherstellen wollte, der Russlands Kontrolle über Tschetschenien wiederhergestellt hat, der die autonomen Republiken unter Kontrolle gebracht hat. Außerdem hat Russland auf den europäischen Markt jedes Jahr 170 Milliarden Kubikmeter Gas exportiert. Russland hatte davon einen Profit von 400 Milliarden Euro, jedes Jahr, allein durch den Gasexport. Dazu kam noch das Öl. Russland gehört zu den größten Ölexporteuren der Welt. Etwa 30 Prozent vom russischen Staatshaushalt wurden und werden über den Export von Öl finanziert.“

Keine Sanktionen nach Überfall auf Georgien

Dass der Westen jetzt Schritt für Schritt keine fossilen Energieträger mehr aus Russland importieren will, findet Nika sehr beachtlich und wirksam, aber zu spät:
„Wissen Sie, ich denke, der Westen hat spät reagiert. Auf der anderen Seite wollten demokratische Staaten den Konflikt demokratisch lösen, durch Verhandlungen, Dialog, auch um zu zeigen, dass die NATO keine Bedrohung für Russland darstellt. Es ist eine freie Entscheidung souveräner Staaten, ob sie der NATO beitreten oder nicht. Ich denke, das war etwas naiv. Denn mit Russland, mit Putin’s Russland, mit einem Diktator ist so ein liberaler Ansatz naiv und sehr schwierig, denn mit einem Mann wie Putin gilt ein freundlicher Mensch als schwach. Ein höflicher Mensch wird als schwach angesehen. Ebenso in der Politik. Er ging davon aus, dass die westlichen Staaten nicht zu sehr protestieren würden.“
Politikwissenschaftler Nika Chitadze weist auf die Tatenlosigkeit nach dem Überfall 2008 auf Georgien hin:
„Der Westen hat im Fall von Georgien keine Sanktionen verhängt. Dann wurde Russland die Fußballweltmeisterschaft angeboten, und 2014 hat Russland ganz einfach die Krim besetzt. Und nach dem Rückzug der westlichen Truppen aus Afghanistan und nach dem Russland im Syrien-Konflikt involviert war, um Assad zu stützen – da hat Russland all diese Faktoren zusammengenommen und gedacht, der Westen sei schwach und es sei Zeit, die Ukraine anzugreifen, um die Regierung in der Ukraine zu stürzen und um die Außenpolitik der Ukraine nach 2014 zu verändern. Außerdem haben sie gedacht, dass, wenn sie die Ukraine bezwingen, auch andere post- sowjetische Staaten aufgeben würden. Quasi automatisch. Und so könnte die Sowjetunion wiederhergestellt werden."

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