Georgien steckt in der Krise

Von Gesine Dornblüth · 06.08.2009
Vor einem Jahr begann der russisch-georgische Krieg um Südossetien. Nun beschuldigen sich Tiflis und Moskau erneut der Provokationen im Grenzgebiet. Russland versetzte seine Truppen in Südossetien in erhöhte Kampfbereitschaft.
Zentimeter um Zentimeter arbeitet sich die Rentnerin Tsitsino Jelaschwili mit der Hacke durch ihren Vorgarten. Wieder kommt ein Stein im tiefbraunen Boden zum Vorschein. Sie bückt sich, hebt ihn auf, wirft ihn zur Seite, streicht sich die grauen Haare aus der Stirn.

"Weiter unten ist der Boden gut. Hier sind viele Steine. Die müssen wir erst mal entfernen. Aber ich bin zufrieden. Ich kann ohnehin nicht untätig herumsitzen."

Tsitsino Jelaschwili kommt aus Südossetien. Sie ist im Krieg vor einem Jahr von dort geflohen. Eine von insgesamt etwa 25.000 Georgiern, die dauerhaft ihr Zuhause verloren haben.

Tsitsino Jelaschwili hat mit ihrem Mann und dem Sohn ein Haus in der Neubausiedlung Tserowani bekommen. Weiße und hellgrüne Häuschen, rechtwinklig angelegt und in immer gleichen Abständen, eines wie das andere – insgesamt zweitausend - dazu eine Schule, ein Supermarkt, ein Rathaus, direkt an der Autobahn. In Windeseile hat die Regierung Georgiens die Retortensiedlung eine halbe Stunde von Tiflis entfernt bauen lassen.

Die Bewohner richten sich auf eine lange Zeit in dem Flüchtlingsdorf ein. Tsitsino Jelaschwili hat vor ihrem Häuschen sogar schon Obstbäume gepflanzt: Kirschen, Pfirsiche.

"Mir gefällt es so dicht an der Autobahn. Wir sind schnell in Tiflis."

Sie lehnt die Hacke an die Hauswand, streift die lehmbedeckten Galoschen ab, lädt ein, ihr neues Zuhause zu besichtigen. Es riecht nach frischer Farbe.

"Schauen Sie, wir sind schon komplett eingerichtet. Wir können wirklich nicht klagen. Das hier ist das Wohnzimmer, und wir haben zwei Schlafzimmer. Wir mussten für nichts bezahlen, und wir bekommen sogar Lebensmittel: Nudeln, Speiseöl, Buchweizen. So was."

Die Zimmer sind klein und aufgeräumt: Je zwei Betten, Schränke, Spitzendeckchen auf der Kommode, darauf der Fernseher. Es gibt Strom, Gas und fließend Wasser. Die Siedlung Tserowani ist ein Vorzeigeobjekt. Nicht alle Flüchtlingsunterkünfte sind so komfortabel wie diese.

Draußen steht die Nachbarin. Sie hat gesehen, dass Besuch da ist.

Nachbarin: "Wir haben früher schon in einer Straße gewohnt, und hier sind wir wieder Nachbarn und besuchen einander."

Makwala Amirumówa ist über 70 und auf einem Auge blind. Sie will vor allem eines sagen:

"Mischa ist ein sehr guter Mensch. Schreib das. Schreib: Ich liebe Mischa sehr. Er ist stark. Es lebe Mischa."

Mischa – das ist der Präsident Georgiens, Micheil Saakaschwili. Im Herbst 2003 stürmte er mit einer Rose in der Hand in das Parlament Georgiens und zwang den greisen Präsidenten Eduard Schewardnadze zum Rücktritt. Es war ein Aufbruch.

Saakaschwili begeisterte die Massen. Bei der Präsidentschaftswahl wenige Wochen nach der "Rosenrevolution" erhielt er 96 Prozent der Wählerstimmen. Mittlerweile ist "Mischas" Stern gesunken. Der Präsident gerät immer stärker unter Druck.

Im Frühjahr forderten Zigtausende bei Massendemonstrationen seinen Rücktritt. Die Opposition wirft ihm vor, das Land autoritär zu regieren, die Presse und die Justiz zu gängeln. Und sie lastet ihm persönlich an, den Krieg mit Russland vom Zaun gebrochen zu haben. Saakaschwili sitzt die Proteste aus.

Er und seine Regierung sagen, Russland habe den Krieg begonnen, Georgien habe sich verteidigen müssen. Doch mittlerweile bestehen kaum noch Zweifel daran, dass die georgische Armee Südossetiens Hauptstadt Zchinvali als erstes bombardiert hat. Tsitsino Jelaschwili lässt trotzdem nichts auf Saakaschwili kommen.

"Wer arbeitet, macht Fehler. Nur wer nicht arbeitet, macht keine. 30 Jahre wurde nichts im Land getan, und wie viel hat Saakaschwili in vier Jahren geschafft!"

In einem der Altbauten im Zentrum der Hauptstadt Tiflis sitzt Eric Barrett. Der Amerikaner arbeitet auch am Wochenende. Er ist seit gut einem Jahr in Georgien. Das Land hat nach dem Krieg umgerechnet etwa drei Milliarden Euro Finanzhilfen aus dem Ausland bekommen. Eric Barrett beobachtet für die Organisation Transparency International, wie die georgische Regierung das Geld ausgibt, ob sie es sinnvoll und vor allem ob sie es für die Öffentlichkeit nachvollziehbar anlegt.

Barrett zeigt auf eine Karte Georgiens. Stecknadeln markieren die Orte, an denen die Regierung im vergangenen Jahr mit Hilfsgeldern Unterkünfte für die Vertriebenen gebaut hat.

"Die georgische Regierung hat sich diesmal wirklich bemüht. Mit all dem Geld von den Gebern ist mehr getan worden denn je. Und die Regierung versucht, jetzt auch den Leuten zu helfen, die schon lange in Armut gelebt haben. Die Regierung tut viel. Aber es müsste noch viel mehr getan werden: Die Leute müssen Arbeit bekommen, Sozialhilfe, medizinische Versorgung."

Barrett lobt vor allem, dass der Staat Schritt für Schritt nun endlich auch diejenigen unterbringt, die bereits in den Neunzigerjahren aus den abtrünnigen georgischen Gebieten Abchasien und Südossetien flohen. Insgesamt waren das damals mehr als 200.000 Menschen. Und sie leben seit mehr als 15 Jahren in äußerster Enge in Sammelunterkünften: in umfunktionierten Hotels, Kindergärten, Schulen.

Doch all das kostet viel Geld, und das ist knapp, denn zusätzlich zu den Kriegsfolgen macht Georgien die weltweite Wirtschaftskrise zu schaffen. Ohne die Hilfsgelder in Höhe von rund drei Milliarden Euro, die Georgien bei einem Sondergipfel der EU im vergangenen Herbst erhielt, wäre das Land vermutlich längst pleite, meint Barrett.

"Georgien ist zu sehr von internationaler Hilfe abhängig. Es hat seine Auslandsinvestitionen verloren, den Motor für das große Wachstum der letzten Jahre. Ohne die Geberkonferenz wäre zum Beispiel das Bankensystem längst kollabiert. Nur dank der Unterstützung funktioniert die Regierung überhaupt noch und kann ihre Reformen fortsetzen."

Tatsächlich hat sich in Georgien nach Mikheil Saakaschwilis Amtsantritt einiges zum Besseren gewandelt. Unter seinem Vorgänger Schewardnadze fielen selbst in der Hauptstadt Tiflis oft über Stunden Strom und Gas aus, das ist vorbei.

Saakaschwili hat dafür gesorgt, dass Gehälter und Renten ausgezahlt werden, er hat Investoren ins Land geholt und Polizei und Beamte kassieren nicht mehr für jede Kleinigkeit Schmiergeld. Unter seiner Regierung kürte die Weltbank Georgien zum "Reformland Nr. 1". Doch die radikalen Wirtschaftsreformen forderten Opfer. Tausende verloren ihren Job.

Saakaschwili hatte nach der Rosenrevolution schnellen Wohlstand versprochen, Mitgliedschaft in der Europäischen Union gar, noch während seiner Amtszeit. Viele sind nun enttäuscht, haben keine Geduld mehr.

Der Rustaveli-Prospekt, die Prachtstraße im Zentrum von Tiflis. Junge Paare sitzen auf Parkbänken unter den Platanen, hören den Straßenmusikern zu. Frauen verkaufen Sonnenblumenkerne.

Vor dem Eingang zur Metro kleben Plakate mit dem Konterfei Saakaschwilis in einem Fadenkreuz. Die Plakate sind schon halb zerfleddert. Regen und die Anhänger des Präsidenten haben ihnen zugesetzt.

Wenige hundert Meter weiter stehen Käfige auf dem Bürgersteig: Etwa zwei mal drei Meter groß, mit Planen verkleidet. Im Frühjahr hatte die Opposition Dutzende dieser improvisierten Gefängniszellen in Tiflis aufgestellt. Sie wollten damit auf die angebliche Unfreiheit im Land hinweisen. Wochenlang blockierten sie den Rustaveli-Prospekt, forderten Saakaschwilis Rücktritt. Jetzt sind nur noch eine Hand voll Zellen und wenige Demonstranten übrig.

Alik ist einer von ihnen. Er war im April, als die Proteste begannen, mit zwölf Gleichgesinnten aus einer Kleinstadt in die Hauptstadt gereist, um sich den Protesten anzuschließen. Sein Hemdkragen hat einen braunen Rand.

"Ich bin arbeitslos, dabei habe ich zwei Hochschulabschlüsse. Ich bin Ökonom und Jurist. 2003 habe ich meinen Job in der Finanzverwaltung verloren. Er, Saakaschwili, ist an die Macht gekommen, und das war's für mich. Er denkt, wir sind schon alt und werden nicht mehr gebraucht. Aber bin ich etwa alt? Ich bin erst 48."

Ein Mann steht etwas abseits: Hochgewachsen, kurzärmliges Hemd, kräftiger Händedruck. Der Bauunternehmer Alexander Sutiaschwili wohnt um die Ecke und schaut immer mal wieder bei den Demonstranten vorbei, ohne sie jedoch zu unterstützen.

Er sieht die Proteste mit gemischten Gefühlen. Wie so viele Georgier ist er zwar gegen Saakaschwili, aber nicht für die Opposition, und schon gar nicht für einen einzelnen Oppositionspolitiker.

"Wir brauchen einen grundlegenden Wechsel des politischen Systems. Jetzt ist alle Macht in den Händen Saakaschwilis. Seine Partei hatte mal 90 Prozent Zustimmung, und wozu hat das geführt? Wir brauchen ein Mehrparteiensystem, in dem sich die politischen Kräfte gegenseitig kontrollieren."

Das Spektrum der Opposition ist vielfältig. Die Proteste haben Republikaner, Monarchisten, Demokraten und Nationalisten gemeinsam organisiert. Viele ihrer Anführer stritten früher an der Seite Saakaschwilis, hatten hohe Posten im Parlament und in der Regierung. Das macht sie in den Augen vieler Georgier unglaubwürdig.

200 Kilometer westlich von Tiflis. Kutaisi, die zweitgrößte Stadt Georgiens. In einem Cafe sitzt Giorgi Khonelidze mit einem Freund. Krise hin oder her - die Restaurants und Cafes in Georgien sind immer noch gut besucht. Giorgi ist 34 Jahre alt und arbeitslos.

In den Neunzigerjahren, noch vor der Regierung Saakaschwili, hat er in Kutaisi das erste privat-kommerzielle Radio gegründet, später einen Jugendklub eröffnet, Rock-Konzerte organisiert. Er hat sich für Waisenkinder eingesetzt und für Tierschutz. Jetzt ist er müde. Unter seinem abgetragenen T-Shirt wölbt sich sein Bauch.

"Ich habe es satt. Der Mensch muss Patriot sein, gut, aber ich bin des Patriotismus müde. Selbst wenn Saakaschwili gehen sollte – was er nicht wird – dann fängt nach zwei Jahren wieder alles von vorn an, und die Leute sagen: Den wollen wir nicht mehr, wir wollen einen anderen. Das ist schon pathologisch."

Giorgi zeigt durch die getönte Fensterscheibe auf die Straße. Das Zentrum von Kutaisi wird gerade renoviert. Die Fassaden der zweistöckigen Häuser glänzen hellgelb. Gußeiserne Laternen sind aufgestellt, Skulpturen. Saakaschwili persönlich hat die Altstadt feierlich eröffnet. Das war Ende letzten Jahres. Doch die herausgeputzten Häuser stehen leer. Giorgi nimmt einen Schluck Kaffee.

"Was sich in Kutaisi verändert hat, sehen Sie selbst: Hier haben sie ein Haus angestrichen, dort ein Cafe eröffnet. Sonst hat sich nichts geändert. Nichts. Absolut nichts. Doch: Alle anderthalb Jahre gibt es einen neuen Bürgermeister. Und ich habe mich verändert, ich bin dicker geworden."

Er möchte Georgien verlassen – nach Kanada. Sein Freund nickt. Romeo Kvelidze ist 24, ein schüchterner junger Mann in einem schwarzen T-Shirt mit einem Zebra darauf. Zu Hause hat er einen Computer und eine kleine Videokamera.

Er filmt bei Hochzeiten und Empfängen, schneidet die Bilder zusammen, erstellt DVDs von den Festen. Doch das Geld ist immer knapp, die Mutter schwer krank, der Vater längst gestorben. Auch Romeo hat die Hoffnung aufgegeben, in seiner Heimat besser leben zu können. Er möchte nach Deutschland.

"Seit dem Augustkrieg steht für mich fest, dass ich das Land verlassen werde. Hier fühlt sich niemand mehr sicher und beschützt. Die Menschen sind sehr arm. Und wir glauben der Regierung nicht mehr, dass sich etwas zum Besseren ändert. Deshalb will ich gehen."