Georgien

Kuschelkurs mit Moskau und Wunsch nach EU-Beitritt

Auf einer Straße in der georgischen Hauptstadt Tbilisi stehen im März 2023 im Dunkeln zahlreiche Protestierende, eine Georgien- und eine EU-Flagge sind zu sehen.
Im März 2023 fanden in der georgischen Hauptstadt Tbilisi Massenproteste gegen einen Gesetzentwurf statt, der nach russischem Vorbild die Kategorie "ausländische Agenten" einführen sollte. © imago / ITAR-TASS / Alexander Patrin
Von Tamina Kutscher · 28.09.2023
Durch Russlands Krieg in der Ukraine ist die Erweiterung der EU geopolitisch wichtig. Bei Georgien soll in Kürze über einen Kandidatenstatus entschieden werden. Dessen Regierung sei das größte Beitrittshindernis, so die Slawistin Tamina Kutscher.
Liebe EU, hörst du das Klopfen?
Es ist Georgiens Zivilgesellschaft, die laut vernehmbar eintritt dafür, dass das Land im Kaukasus endlich den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhält. Das Klopfen – es gilt nicht nur dir, liebe EU, sondern vor allem der Regierungspartei „Georgischer Traum“.
In Tbilissi klopften die Filmschaffenden in einer Protestaktion gegen die Türen des Kulturministeriums. Die Sorge vor wachsender Kontrolle, Zensur und Gleichschaltung treibt sie seit Monaten auf die Straße.

Geopolitische Dimension kulturpolitischer Fragen

Denn in entscheidenden Kulturinstitutionen rollten Köpfe – etwa am Filmzentrum in Tbilissi: 2022 wurde dessen Leiter Gaga Chkheidze entlassen. Er sagt: Er musste gehen, weil er das Ministerium kritisiert hatte. Und zwar dafür, dass es über Russlands Krieg in der Ukraine schweigt.
Die inneren, kulturpolitischen Fragen haben in Georgien eine größere geopolitische Dimension: Russlands Krieg in der Ukraine wird in Georgien zur Zerreißprobe zwischen einer Gesellschaft, die in großen Teilen in die EU strebt und nahezu geschlossen auf Seite der Ukraine steht. Und einer nationalkonservativen Regierungspartei, deren europäischen Lippenbekenntnissen kaum noch jemand glaubt.
Sanktionen gegen Russland? Die georgische Regierung hat bislang keine verhängt. Das stößt auf Wut und Unverständnis in einem Land, dessen Staatsgebiet seit dem Georgisch-Russischen Krieg 2008 zu einem Fünftel von Russland besetzt ist.
Im März lancierte die Regierung stattdessen einen Gesetzentwurf gegen „ausländische Agenten“ in der eigenen Zivilgesellschaft, designt nach russischem Vorbild. Der Entwurf wurde zurückgezogen – nach heftigen Protesten. Dafür gibt es seit Mai wieder Direktflüge zwischen Russland und Georgien.

Fast 90 Prozent der Georgier für EU-Beitritt

Und die EU? Sie sagt Georgien immer wieder: Die Tür steht dir offen! Zwölf Reformschritte musst du gehen, dann trete ein!
Und die georgische Regierungspartei? Trippelt auf der Stelle, ein Mini-Reförmchen hier, eine oberflächliche Schönheitsoperation da.
Diesem Schaukelkurs geben viele einen Namen: Bidsina Iwanischwili. Er ist der Begründer der Regierungspartei. Der Milliardär, der sein Vermögen in Russland machte, hat sich aus der Politik zwar zurückgezogen. Die Geschicke seiner Partei und des Landes soll er jedoch nach wie vor kontrollieren.
Wie aber kann sich die Regierung den Kuschelkurs mit Moskau erlauben? Zumal fast 90 Prozent der Georgier für einen EU-Beitritt sind?
„Es ist kompliziert“, seufzen georgische Intellektuelle, wie etwa der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili. Er pendelt zwischen Tbilissi und Berlin und betont: „Es sind auch wertkonservative Gesinnungen, die die georgische Regierungspropaganda schürt.“

Zwickmühle Europas

Mit einem „Ja zur EU, aber Skepsis gegenüber LGBTQ in Ewigkeit, Amen“ sind so manche einverstanden und sehen keinen Grund, gegen den Kurs der Regierungspartei auf die Straße zu gehen. Auch die wirtschaftlich angespannte Situation spielt mit rein, wenn es darum geht, warum nicht alle Wähler in Scharen zur Opposition überlaufen. Und über Prozenthürden etwa können die Wahlen im kommenden Jahr schon jetzt subtil beeinflusst werden.
Auch Europa steht vor einer Zwickmühle: Schließlich muss in jedem Ja der EU zu Georgien auch ein Nein zum schleppenden Reformkurs der georgischen Regierungspartei mit anklingen.

Liebe EU-Bürger, hört genau hin!

Georgiens Filmschaffende unterdessen sind gewappnet. Sie organisieren sich und demonstrieren weiter, damit ihr Klopfen immer lauter wird und durchdringt.
Und du, liebe EU, und ihr, liebe EU-Bürgerinnen und Bürger – hört genau hin und schaut, was passiert in Georgien!
Es betrifft auch uns. Zumindest das sollte Russlands Angriffskrieg in der Ukraine uns inzwischen alle gelehrt haben.

Tamina Kutscher ist freie Journalistin. Die Slawistin und Historikerin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Medien, Kultur und Gesellschaft in Russland, Mittel- und Osteuropa. Von 2016 bis 2023 war sie Chefredakteurin der Medien- und Wissenschaftsplattform „dekoder – Russland und Belarus entschlüsseln“, die in dieser Zeit mehrfach ausgezeichnet wurde, u.a. zwei Mal mit dem Grimme Online Award (2016 und 2021).

Porträtfoto der Slawistin und Historikerin Tamina Kutscher
© Daniel Keil
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