Georg von Wallwitz: "Die große Inflation"

Ein Trauma, das bis heute wirkt

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Buchcover: "Die große Inflation. Als Deutschland wirklich pleite war" von Georg von Wallwitz
Dass die "große Inflation" immer noch so traumatisch wirkt, das beruht laut Georg von Wallwitz auf einer falschen Erinnerung. © Deutschlandradio / Berenberg Verlag
Von Jens Balzer · 01.11.2021
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Die massive Geldentwertung der 1920er-Jahre hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingebrannt. Autor Georg von Wallwitz, Vermögensberater, schaut sich die Sache aus historischer Perspektive an und zieht Schlüsse für die Gegenwart.
Zu den beherrschenden politischen Themen der Zeit gehört die wachsende Inflation. Steigende Preise verteuern das Leben und sorgen für ein Gefühl der Unsicherheit. Zugleich sehen sich viele Menschen, die ihre Ersparnisse auf konventionelle Weise anlegen, durch niedrige oder gar negative Zinsen enteignet.
In Deutschland ist das Sicherheitsbedürfnis in finanziellen Belangen ebenso hoch wie die Angst vor der Inflation – gerade auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Woran liegt das?

Dieser Frage geht Georg von Wallwitz in seinem neuen Buch nach. Darin beschäftigt er sich mit der "großen Inflation" des Jahres 1923. Die Bilder von Menschen, die Unmengen fast wertloser Banknoten in Wäschekörben zum Einkaufen tragen, sind tief im kollektiven Gedächtnis verankert – so wie, und das ist Wallwitz’ zentrale These, die traumatische Erfahrung der Hyperinflation im "finanziellen Gedächtnis" der Deutschen.
Dadurch erkläre sich nicht nur die Zaghaftigkeit breiter Bevölkerungsschichten beim Umgang mit ihren finanziellen Ressourcen, sondern auch der Hang der deutschen Finanzpolitik zur Austerität, also zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt mit geringen Schulden, egal, ob das gerade sinnvoll ist oder nicht.

Die große Entfremdungserfahrung der 1920er

Dass die "große Inflation" immer noch so traumatisch wirkt, das beruht, wie Wallwitz zeigt, auf einer falschen Erinnerung. Denn gemeinhin wird die Entwertung des Geldes mit extremer Arbeitslosigkeit und dem Aufstieg der Nationalsozialisten verbunden.
Tatsächlich aber waren die Arbeitslosenzahlen 1923 ebenso gering wie die Wahlerfolge der NSDAP. Das änderte sich erst am Ende des Jahrzehnts, als – gerade im Gegenteil – eine wachsende Deflation, also eine Verringerung der Preise, die Produktion lähmte, weswegen immer mehr Arbeiter entlassen wurden und die Versprechungen Hitlers auf stärkere Resonanz stießen.
In wirtschaftspolitischer Hinsicht war die "große Inflation" also gar nicht so schlimm. Doch hatte sie in einer anderen, ebenso entscheidenden Hinsicht die Fundamente des Gemeinwesens untergraben: Weil sie großen Teilen der Bevölkerung das Gefühl verschaffte, dass der Staat seine elementaren Fürsorgefunktionen für sie nicht mehr erfüllte. Diese Entfremdungserfahrung, so Wallwitz, führte dann dazu, dass die Bevölkerung im Ernstfall nicht mehr bereit war, für den Erhalt dieses Staats einzutreten.

Deutsche Finanzpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Georg von Wallwitz arbeitet im Hauptberuf als Fondsmanager und Mitinhaber einer Vermögensverwaltung. Er hat aber auch schon einige populärwissenschaftliche Bücher geschrieben, etwa eine "fröhliche Einführung" in die Geschichte der Finanzmärkte oder ein kulturhistorisch unterfüttertes Buch über die Dogmengeschichte der Ökonomie. Er hat einen leichten, sofort einnehmenden Stil und kann wirtschaftshistorische Zusammenhänge auch dem Laien nachvollziehbar erklären.
Den größten Teil seines Buchs widmet er einer akribischen Rekonstruktion der deutschen Finanzpolitik vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis ins Jahr 1923. Er erläutert, warum die Wurzeln der "großen Inflation" schon in der Finanzierung des Kriegs im Wilhelminischen Reich liegen; er beleuchtet die Rolle des Versailler Vertrags und der Reparationsforderungen der Siegermächte; vor allem aber stellt er die wesentlichen Akteure der Weimarer Finanzpolitik vor, mit ihren biografischen Prägungen und wirtschaftspolitischen Überzeugungen.
Er verbindet – und das ist sein großes Talent als Autor – historisches Panorama mit der Detailaufnahme individueller Entscheidungen und Konflikte; er zeigt, warum alles so kam, wie es gekommen ist, und warum es auch ganz anders hätte ausgehen können.

Nicht jeder kann Geld anlegen

Dieser historische Teil ist überaus instruktiv, man liest ihn mit großem Gewinn. Auch der Gedanke, dass das 1923 entstandene Trauma bis in die Gegenwart wirkt, ist anregend. Freilich bleiben Zweifel daran, ob eine hundert Jahre zurückliegende Erfahrung in einem heute nicht zuletzt durch vielfältige Migrationsprozesse ganz anders zusammengesetzten Staatsvolk wirklich noch jene prägende Bedeutung besitzen kann, die Wallwitz ihr zuerkennt – oder ob darin nicht doch eher die Polemik des Fondsmanagers durchscheint, der nicht verstehen kann, warum sich nicht alle Menschen nach seinem Vorbild als ihre eigenen Fondsmanager sehen.
Viele besitzen eben nichts, das sie in einem Fonds anlegen könnten. Für sie geht die Angst vor der Inflation nicht auf ein historisches Trauma zurück, sondern auf die Tatsache, dass sie bei hohen Teuerungsraten, stagnierenden Löhnen und prekären Arbeitsverhältnissen in existenzielle Schwierigkeiten geraten. Diese Gemengelage hat Wallwitz für das Jahr 1923 präzise als Entfremdungserfahrung beschrieben.
Beim Blick auf die Gegenwart fehlt ihm das Gefühl dafür, wie die Angst vor der Inflation jene Unsicherheit verstärkt, die gerade die jüngere Generation mit ihren prekären Beschäftigungsverhältnissen und fragmentarischen Arbeitsbiografien prägt – mit wiederum bedenklichen Konsequenzen für die Identifikation mit dem Gemeinwesen.

Georg von Wallwitz: "Die große Inflation. Als Deutschland wirklich pleite war"
Berenberg Verlag, Berlin 2021
256 Seiten, 25 Euro

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