Georg Diez über "Das andere Land"

"Viele Leute fühlen sich nicht mehr erkannt"

Journalist und Buchautor Georg Diez, aufgenommen auf der Frankfurter Buchmesse 2016
Der Journalist und Buchautor Georg Diez meint, der Diskurs in Deutschland habe sich aus der Mitte heraus nach rechts verschoben. © picture alliance / Frank May
Georg Diez im Gespräch mit Stephan Karkowsky  · 17.09.2018
Einer kritischen Analyse des Rechtsrucks widmet sich Georg Diez in "Das andere Land". Statt der Flüchtlingsbewegungen sieht der "Spiegel"-Kolumnist die Finanzkrise als Ausgangspunkt für die sich verändernde Gesellschaft. In dem populistischen Aufruhr stecke auch legitime Kritik.
Seit er vor sieben Jahren begonnen hat, bei "Spiegel Online" seine Kolumne zu schreiben, habe sich der Diskurs in Deutschland immer mehr nach rechts verschoben, sagte der Journalist Georg Diez im Deutschlandfunk Kultur. Dies sei aus der Mitte heraus geschehen und nicht nur durch die Partei AfD. "Das ist für mich eigentlich der Moment gewesen, zu sagen, hier verschiebt sich was in der Gesellschaft, hier entsteht rückblickend ein anderes Land", sagte Diez dessen gleichlautendes Buch "Das andere Land" heute erscheint.

Entfesselter Kapitalismus beschädigt Demokratie

Der entscheidende Ausgangspunkt für eine Radikalisierung der Gesellschaft, auch für den Brexit oder die Wahl von US-Präsident Donald Trump, sei die Finanzkrise 2008 gewesen und alles, was danach passiert sei. In dem Buch gehe es ihm darum, die komplexeren Zusammenhänge rund um den entfesselten Kapitalismus aufzuzeigen und zu beschreiben, wie er die Demokratie mehr und mehr beschädige.
Diez sagte, es gebe aber in diesem populistischen Aufruhr eine legitime Kritik an bestimmten Strukturen. Aber es sei schwierig, das durchzubringen. "Man will nicht auf der Seite der Schreier stehen."

"Staatsgelingen" statt Staatsversagen

Das Buch handele aber auch von dem Optimismus und der Energie, die in der Gesellschaft stecke. Mit ihrer Fixierung auf das Thema Migration und Flüchtlinge verzerrten die Medien, wie sich viele Menschen in Deutschland eigentlich fühlten. Breite Teile der Bevölkerung seien positiver, offener und hilfsbereiter. Es habe im Sommer 2015 kein Staatsversagen gegeben, sondern ein "Staatsgelingen". Viele Leute hätten sich als Bürger entdeckt und verstanden, dass der Staat aus ihnen heraus entstehe.

Das Interview im Wortlaut:

Stephan Karkowsky: "Es ist Zeit, dass die Demokratie sich gegen diese Leute wehrt", rief Martin Schulz vorige Woche in den Bundestag hinein und bekam dafür Standing Ovations von allen, außer von "diesen Leuten" – gemeint war die AfD. Tatsächlich mehren sich die Stimmen, die unsere Demokratie bedroht sehen. Auch "Spiegel Online"-Kolumnist Georg Diez gehört dazu. Sein neues Buch "Das andere Land" erscheint heute. Guten Morgen, Herr Diez, schön dass Sie bei uns sind!
Georg Diez: Guten Morgen!
Karkowsky: Wie wird denn jemand, der sich als Autor ja lange Zeit mit Popmusik befasst hat, mit den Stones, mit den Beatles und mit der eigenen Familie, wie wird der plötzlich zum Mahner, der die Demokratie beschützen will? Was ist da bei Ihnen persönlich passiert?
Diez: Interessante Frage. Ich habe einfach erlebt, dass in der Zeit, wo ich die Kolumne geschrieben habe bei "Spiegel Online", die sieben Jahre, sich die Dinge so verändert haben, speziell auf dem Feld der Kultur Kämpfe ausgetragen wurden, die über "Identität", über "Heimat" und diese Begriffe immer mehr den Diskurs nach rechts verschoben haben, und nicht nur die AfD, sondern eben aus der Mitte heraus kommt diese Bewegung. Und das ist eigentlich für mich der Moment gewesen, zu sagen, hier verschiebt sich was in der Gesellschaft, hier entsteht rückblickend ein anderes Land.
Karkowsky: Nun ist bei Ihnen das Kind ja schon in den Brunnen gefallen, denn der Untertitel Ihres Buches lautet "Wie unsere Demokratie beschädigt wurde und was wir tun können, um sie zu reparieren". Welche Beschädigungen sehen Sie denn da bereits?
Händler an der New Yorker Börse am 15. September 2008.
Die Finanzkrise 2008 ist für den Journalisten Georg Diez das entscheidende Datum für die Krise der Demokratie. © imago/ZUMA Press
Diez: Das ist ein Prozess, der eben sehr viel weiter zurückreicht, als er, finde ich, aktuell beschrieben wird. Es geht nicht um das Jahr 2015, als die Geflüchteten nach Deutschland kamen. Es geht auch nicht um das Jahr 2014 und 2013, als Pegida marschiert ist oder die AfD gegründet wurde. Das entscheidende Datum in vielerlei Hinsicht für diese Verschiebung, für die Radikalisierung in der Gesellschaft von Brexit zu Trump zu AfD ist eben die Finanzkrise 2008 gewesen und alles, was danach passiert ist.
Dieses Zusammenhänge aufzuzeigen, darum geht es in dem Buch, diese Zusammenhänge zwischen einem Kapitalismus, der relativ entfesselt ist und eben mehr und mehr die Demokratie aushöhlt und beschädigt. Das heißt, das Argument ist im Grunde ein komplexeres Argument, als zu sagen, es geht nur um Geflüchtete.

Unzufrieden mit der Alternativlosigkeit

Karkowsky: Diese Zusammenhänge sind wahrscheinlich auch nicht jedem klar. Was genau hat die Finanzkrise 2008 zu tun mit der Krise der Demokratie 2018?
Diez: Man kann es auf einem großen Level so beschreiben, dass es durch die Rettungspolitik des Internationalen Währungsfonds, dass in Griechenland, Spanien große Teile der Jugend in die Arbeitslosigkeit gedrängt wurden und dass da eben gesellschaftlicher Druck entstanden ist, der in dem Fall Griechenlands zu massiven Verschiebungen eher nach links, populistischen Verschiebungen nach links gesorgt hat. In Deutschland ist es so, dass sich sehr viele Leute, glaube ich, tatsächlich fragen, was ist das für ein Regime der Machtlosigkeit.
Das ist das Gefühl, glaube ich, das sie haben. Warum ist Globalisierung, warum ist 700 Milliarden für Bankenrettung, warum ist das möglich, und ist das wirklich der einzige Weg, wie man zusammenleben kann, dass man sich dem so ergibt. Ich glaube, das ist was, was dann eben auch zu so einer vehementen Abwehrreaktion gegen so Parteien wie die SPD auch geführt hat. Dass die auch angefangen haben, sehr lange schon, seit den Neunzigern, seit Gerhard Schröder, zu sagen, ja, das ist so.
Das ist die einzige Art, wie wir leben können. Wir müssen uns – Jobs wandern halt aus, und der Lebensstandard geht langsam nach unten. Und viele Leute fragen sich, wirklich? Ist das wirklich so? Das ist, glaube ich, das, was das Demokratiedefizit ist, dass es einfach eine Unzufriedenheit mit der Art und Weise ist, wie wir regiert werden. Und das ist eben das Schwierige, dass es dann tatsächlich Momente gibt, wo man sagen muss, es gibt in diesem populistischen Aufruhr legitime Kritik an bestimmten Strukturen. Und das durchzubringen, ist natürlich komplex, weil man will ja nicht auf der Seite der Schreier stehen.

Optimismus in der Gesellschaft

Karkowsky: Nun ist natürlich der Begriff "viele Leute finden dies", und "viele Leute finden das" relativ unkonkret. Vielleicht stimmt das ja auch gar nicht. Wenn man Ihrem Buch folgt, dann bekommt man da ja selektiv zunächst mal einen Niedergang der freiheitlichen Gesellschaft serviert. Da geht es von der Eurokrise über Massenmigration, rechte Entgleisungen und Geschichtsklitterei bis zu Trump, Pegida und AfD.
Ich würde nun mal das aktuelle ZDF-Politbarometer dagegensetzen. Da sinkt die AfD derzeit auf 15 Prozent, mutmaßlich wegen Chemnitz, und große Mehrheiten sagen, bei uns in der Gegend gibt es gar keine große Probleme mit Flüchtlingen, 84 Prozent im Westen, immerhin noch 72 im Osten. Stellen wir Medien vielleicht manchmal auch die Gefahr größer dar, als sie tatsächlich ist für die Demokratie?
Die Tageszeitungen "Handelsblatt", Sächsische Zeitung", "Berliner Zeitung", "Die Welt", "Frankfurter Allgemeine", "Der Tagesspiegel" und die "Süddeutsche Zeitung" liegen auf einem Tisch
In den Medien werde manchmal ein verzerrtes Bild gezeichnet - zum Beispiel in Bezug auf die Stimmung in der Bevölkerung in Bezug auf Flüchtlinge, kritisierte der Autor Georg Diez. © dpa / Jan Woitas
Diez: Auf jeden Fall. Das ist ein sehr guter Punkt. Das ist fast der entscheidende Punkt, würde ich sagen. Das Buch handelt ja auch im Wesentlichen, im ersten und im letzten Kapitel vor allem, von dem Optimismus, der in der Gesellschaft steckt, von der Energie, die in der Gesellschaft steckt. Und ich glaube tatsächlich, dass, wie Sie sagen, dass die Medien, nicht nur die Talkshows, die explizit kritisiert werden, aber auch der gesamte Fokus, die gesamte Konzentration auf dieses eine Thema, bestimmte Schlagzeilen sehr verzerrt darstellen, wie sich viele Menschen in einem Land fühlen – schon wieder "viele Menschen".
Ich glaube, dass breite Teile der Bevölkerung sehr viel positiver eigentlich, offener und auch hilfsbereiter dem gegenüberstehen, was nötig ist. Und für mich nach wie vor der zentrale Punkt im Sommer 2015 ist eben, dass es kein Staatsversagen gab, sondern ein Staatsgelingen. Dass sehr viele Bürger sich als Bürger entdeckt haben und verstanden haben, dass der Staat was ist, was aus ihnen heraus entsteht, dass sie helfen, dass sie die Initiative ergreifen müssen, und dass nicht der Staat, wie es in Deutschland so üblich ist, von oben herab entscheiden muss, was richtig und was falsch ist, sondern was richtig und was falsch ist, kann man durchaus in seinem eigenen Gewissen, in seinem eigenen Handeln entdecken.

Entkoppelte Parteien

Karkowsky: Sie sind ja ein Advokat der Bürger, entlasten die und machen die Politik verantwortlich für das, was Sie Demokratiekrise nennen – so habe ich es zumindest gelesen. Was hätte denn da anders laufen können? An welchen Stellschrauben hätte die Politik anders entscheiden müssen, um die Demokratie zu schützen?
Diez: Ich glaube, dass die Demokratie sich schon in der Parteienform entkoppelt hat ein bisschen von dem, was die Bürger oft denken und fühlen, und dass es da keinen Rückkopplungsmechanismus mehr gibt. Ich glaube, das ist eben ein medial-politisches Panikgefühl gewesen, was dann im Herbst 2015 sich eingestellt hat, dass man so die Kontrolle verliert. Das war aber nicht der Fall.
Das ist was, was ich auch am Anfang meinte, dass viele Leute sich nicht mehr erkannt fühlen. Und das ist eben nicht nur rechts, sondern auch in der linken Mitte so, dass sich viele Leute plötzlich nicht mehr erkannt fühlen von der Politik, die nicht auf sie hört, nicht versteht, dass da Leute sind, die bereit sind, ihre Verantwortung zu übernehmen.
Karkowsky: Und wie sammelt man die wieder ein? Das ist ja die große Frage, denn Sie haben ja auch im Untertitel versprochen, Lösungsvorschläge zu bringen im Buch. Wie sammelt man die wieder ein, die sich vielleicht eher eine Gauland'sche Revolution wünschen, mit der das politische System zerstört wird und all diejenigen aus der Verantwortung getrieben werden, so sind ja seine Worte in der "FAZ" gewesen, die in Medien und Politik das, Zitat "System Merkel" stützen.
Olaf Scholz und Andrea Nahles vor Mikrophonen
Olaf Scholz und Andrea Nahles stünden für ein "Weiter so" in der SPD, beklagt der Journalist Georg Diez. © dpa / Christian Koall
Diez: Alle Parteien, glaube ich, müssen durchlässiger werden und müssen mehr das Bild der Gesellschaft abbilden, müssen diverser werden. Es müssen mehr Migranten in die Parteien, es müssen mehr Frauen in die Parteien. Es muss ein Aufbrechen dieser doch Kaderstrukturen geben. Die SPD hat – ich will nicht immer auf die SPD schimpfen, es ist ein typisch linkes Problem, dass man immer auf die schimpft, die einem möglicherweise am nächsten sind. Aber die Entscheidung letztlich für Scholz und Nahles war natürlich auch eine für das "weiter so".
Warum hat man nicht die Chance genutzt, wie es eben zum Beispiel in Amerika bei den Demokraten jetzt so ist, ganz neue Generationen reinzuholen in die Politik, ganz neue Fragestellungen, viel direktere Rückkopplungsmechanismen einzuführen. Das ist ein Weg. Der andere Weg ist letztlich einfach, das Bild der Gesellschaft weiterzuverfolgen, zu sehen, wie sich das 21. Jahrhundert mit seinen technologischen Möglichkeiten eben offenbart. Wo Technologie nicht nur der Feind ist, sondern wo Technologie auch präziser möglich macht, Politik für die Menschen zu machen.
Es ist letztlich eine Art von Vermittlungsaufgabe, die die Politik dann auch stärker haben müsste, zu sagen, der Staat ist komplexer, der Staat ist offener, der Staat ist auch freundlicher, als er sich oft darstellt.
Karkowsky: "Das andere Land" ist das nicht nur pessimistische Buch von "Spiegel Online"-Kolumnist Georg Diez. Es erscheint heute im Verlag C. Bertelsmann. Herr Diez, Danke für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Georg Diez: Das andere Land. Wie unsere Demokratie beschädigt wurde und was wir tun können, um sie zu reparieren
Verlag C. Bertelsmann, München 2018
224 Seiten, 16 Euro

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