Geopolitik

Russlands Expansionsdrang ist ungebrochen

Russische Truppen vor einem Plakat des russischen Präsidenten Wladimir Putin
Russische Truppen vor einem Putin-Plakat © dpa / picture alliance / Grigoriy Sisoev
Von Marko Martin · 19.03.2015
Die westlichen Staaten interpretierten die Auflösung der Sowjetunion als Beginn einer gemeinsamen Politik und Russland als Partner. Der Autor Marko Martin hält das für Wunschdenken. Wladimir Putin handele noch immer nach dem sowjetischen Muster.
Droht mit Wladimir Putins Politik eine Rückkehr des Kalten Krieges? Die im Westen oft gestellte Frage hat vor allem rhetorischen Charakter und wird deshalb häufig verneint. Experten und Politiker belehren uns, keiner "Hysterie" anheimzufallen und den Epochenwandel von 1989 nicht zu unterschätzen.
Selbst aber wenn man die Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 als Zäsur interpretiert, bleiben Zweifel an deren Nachhaltigkeit. Ist Russland seitdem tatsächlich zum "strategischen Partner" des Westens geworden und lediglich durch Krim- und Ukraine-Krise ein wenig auf Entfremdungskurs gegangen, welcher mit "Dialog" revidiert werden könne?
Westliches Wunschdenken. Das Sowjetsystem implodierte zwar vor 24 Jahren, doch es lebt weiter und wirkt nach. Weder gab es einen Elitenwechsel noch eine historische, geschweige denn juristische Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen. Die Einsamkeit der Dissidenten setzte sich nahtlos fort, während "das Volk" weiterhin mit dem alltäglichen Überlebenskampf beschäftigt blieb.
Die Toten im Kaukasus lösten kein öffentliches Unbehagen aus
Die Privatisierung, Anfang der 90er-Jahre durch Boris Jelzin ins Werk gesetzt, war vor allem ein erfolgreicher Raubzug der hohen Funktionäre am verbliebenen Staatsvermögen, öffnete allerdings auch kleine Freiräume für das Entstehen einer bürgerlichen Mittelschicht.
Der Westen fantasierte deshalb bereits von einer Gesellschaft, die auf dem "richtigen Weg" sei. Dass jene neue Mittelschicht zu den Gräueln des ersten Tschetschenienkrieges ebenso schwieg wie zur gesteigerten Brachialpolitik von heute, wurde ausgeblendet.
Selbst Abertausende von Toten, ob im Kaukasus oder in Georgien, konnten kein öffentliches Unbehagen auslösen. Die Kujonierung von NGO's, von politischen und sexuellen Minderheiten erfolgte dann sogar in Allianz mit der Kreml-treuen orthodoxen Kirche. Die neue Mittelschicht einer traditionell-alten Gesellschaft stört sich nicht an Stalin-Huldigungen in Medien und Lehrbüchern, nicht an der Annexion der Krim.
Verwundern kann das nur, weil im Westen die Jahrhundert-Umwälzung von 1917 nie wirklich begriffen wurde. Es war ein tabula rasa über die Jahrzehnte hinweg. Die renitente Bauernschaft entweder ausgerottet oder in Kolchosen gezwungen. Die Arbeiter bar jeder gewerkschaftlichen Vertretung. Die Akademiker und Intellektuellen auf Linie gehalten oder ins Lager verfrachtet.
Generation um Generation von der Einheitspartei gehirngewaschen, war das Experiment zur Züchtung des "neuen Menschen" tatsächlich erfolgreich. So wie Einfluss und Propaganda in Westeuropa.
Gewiss: Moskau finanziert nicht mehr kommunistische Parteien. Dafür dominiert es die Energieversorgung, fasst Fuß im Londoner Immobilien-, Medien- und Finanzmarkt, sponsort via Gazprom Schalke 04, schanzt dem rechtsradikalen Front National Millionenkredite zu und betreibt mit dem Fernsehsender "Russia Today" gezielte Desinformationspolitik. Und die hallt in westlicher Gesundbeterei nach.
Expansionsstreben mit Vorgeschichte
Russland nationale Interessen seien missachtet worden. Der Griff nach der Krim und der Ostukraine nur eine Art Notwehr, nicht anders der Anspruch auf ein Patronat über die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Wirtschaftssanktionen vertieften den Graben nur. Und eine weitere Eskalation liege nicht in russischem Interesse.
Mit Verlaub: Hatte man vor 1979 nicht ähnlich argumentiert? Und hielt diese Einschätzung den damaligen Parteichef Breschnew etwa davon ab, in Afghanistan einzumarschieren und dies später auch Polen anzudrohen?
Die lange Vorgeschichte des gegenwärtigen Expansionsstrebens zu bedenken, sollte gerade der selbsternannte "Erinnerungskontinent Europa" nicht vergessen.
Marko Martin, Schriftsteller in Berlin, veröffentlichte kürzlich den Essayband "Treffpunkt ´89. Von der Gegenwart einer Epochenzäsur" (Wehrhahn Verlag).
Marko Martin
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