Geometrie und Revolte
Mit Bewunderung nennt die Zunft heute seinen Namen. Weggefährten, die dem Mathematiker Alexander Grothendieck in den 60er Jahren in Paris begegneten, haben ihn als einen faszinierenden Menschen in Erinnerung. So wie er Konventionen in seinem Fach hinterfragte und überschritt, so handelte er auch in seinem Leben.
Er ließ seine Kollegen an Gedanken und Ergebnissen teilhaben, mit denen er damals einen Paradigmenwechsel in Algebra und Geometrie einleitete. Doch zur gleichen Zeit begann er seine Rolle als Mathematiker in der Gesellschaft anzuzweifeln. Grothendieck reiste nach Vietnam und besuchte den Vietcong. Er lehnte die höchste mathematische Auszeichnung, die ihm 1967 in Moskau verliehen werden sollte, aus Protest gegen die Unterdrückung sowjetischer Schriftsteller ab. Mit seinem politischen Engagement traf er unter Mathematikern jedoch auf Unverständnis und geriet immer mehr in Isolation. Grothendieck, der im März 80 Jahre alt wird, lebt heute an einen unbekannten Ort.
"Grothendieck war einmalig. Er drängte jeden nicht gerade beiseite, aber sehr bald in seine Richtung. Algebraische Geometrie wurde dann mehr oder weniger von Grothendieck definiert."
"Er war körperlich stark, nicht sehr groß, aber er hatte eine enorme intellektuelle Kraft."
"Für mich ist er nicht mehr da. Diese Geschichte beginnt vor mehr als 30 Jahren gut und endet traurig."
"Ich denke, er hatte das Gefühl, sein Leben vertan zu haben."
"Er hat mit einer subjektiven Mathematik begonnen!"
Mathematiker, die mit Alexander Grothendieck in den 1950er und 1960er Jahren in Paris zusammengearbeitet haben, sprechen von ihm heute in der Vergangenheit. Doch Grothendieck lebt. Nur hat er sich von der Welt, seiner Familie, Freunden und Weggefährten abgewandt. In seiner selbst gewählten Einsamkeit hat er eine fast tausendseitige Schrift über sein Leben und die Mathematik verfasst. "Récoltes et Semailles - Ernten und Säen" - Gedanken und Zeugnis über eine Vergangenheit als Mathematiker" ist ein sprachgewaltiger und vielschichtiger Text: subjektiv, verstörend, religiös, hellsichtig. Er schreibt:
"Was mich anbelangt, sehe ich mich in der Nachfolge von Mathematikern, die mit Freude und aus freien Stücken ihrer Berufung folgen immer neue Gebäude zu errichten. Einmal an der Arbeit, können sie nicht umhin als nach und nach alle erforderlichen Werkzeuge, Gerätschaften, Einrichtungen zu erfinden und zu formen ... Wenn ich in diesem Sinne Namen meiner Vorgänger nennen sollte, dann denke ich an Galois und Riemann ... "
Grothendieck skizziert im folgenden Text unterschiedliche Charaktere von Mathematikern. Die einen bezeichnet er als häuslich.
"Sie pflegen und erhalten das Erbe. Die anderen sind Pioniere und überschreiten Grenzen."
Diese Qualitäten schreibt er sich selbst zu. Doch seine Freude an der Mathematik ist belastet.
"Auch wenn die Erfinder der Quantenmechanik nicht vorhergesehen haben, dass ihre Entdeckungen sich in Hiroshima konkretisieren würden und später im atomaren Wettlauf. Tatsache ist, dass die Entdeckungen in der Physik spürbare Auswirkungen auf die Welt und die Menschheit haben. Der Einfluss der Entdeckungen in der Mathematik, insbesondere in der "reinen" Mathematik ist geringer und sicherlich viel schwieriger einzukreisen. Zum Beispiel weiß ich nicht, ob mein Beitrag in der Mathematik jemand "genutzt" hat. Ich habe zumindest keine Auszeichnung dafür bekommen, so viel steht fest. Aber das beruhigt mich nicht."
Alexander Grothendieck lebt heute vollkommen zurückgezogen in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen. Sein Haus, umgeben von einem verwilderten Garten mit Rosen und Apfelbäumen, kennen nur wenige Eingeweihte. Der Mathematiker Winfried Scharlau, der eine Biografie über Alexander Grothendieck veröffentlicht hat, konnte mit ihm sprechen.
"Ich habe Grothendieck im Jahr 2003 besucht, nachdem ich seinen Aufenthaltsort ausfindig gemacht habe, was nicht so ganz einfach ist. Er war sehr freundlich zu mir. Seine intellektuelle Präsenz, wie genau und präzise er sich an alle möglichen Dinge erinnern konnte, das hat mich überrascht. Er hat so eine Art Kutte an. Wir haben Deutsch gesprochen, ja."
Alexander Grothendieck, am 28. März 1928 in Berlin geboren, hat dort die ersten Jahre seiner Kindheit verbracht. Im Berliner Adressbuch von 1930 ist seine Mutter Hanka Grothendieck als Inhaberin eines Photoateliers im Hinterhof der Brunnenstrasse 165 verzeichnet.
Die Brunnenstrasse, nicht weit vom Alexanderplatz entfernt, blieb von Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg verschont. Danach war sie durch ihre Lage im ehemaligen Grenzgebiet zwischen Ost- und Westberlin fünf Jahrzehnte lang so gut wie stillgelegt. Allmählich belebt sie sich wieder.
Brunnenstrasse 165. Der Weg durch die Toreinfahrt führt in einen engen Hinterhof, eingefasst von einer mannshohen, abgeschrammten Mauer aus gelbem Backstein und einer grauen fensterlosen Brandmauer. Sie überragt das schmale, zweistöckige Haus im Hinterhof. Der Eingang hinten links könnte einst zu dem Fotoatelier von Hanka Grothendieck geführt haben.
Eine Fotografe aus den Berliner Tagen zeigt Grothendiecks Vater Alexander Schapiro mit einer großen Plattenkamera auf der Straße zwischen Passanten. Trotz Anzug, Krawatte und Hut wirkt er mager, um seinen Mund haben sich tiefe Falten eingegraben. Schapiro, russischer Emigrant, Anarchist und Jude ist für Hanka Grothendieck die große Liebe ihres Lebens. In ihrem unveröffentlichten autobiographischen Roman "Eine Frau" schildert sie ihr gemeinsames Leben im Berlin der 1920er Jahre. Als Straßenfotografen verdienen sie den Lebensunterhalt für ihre kleine Familie, den Sohn Alexander und seine Halbschwester Maidi aus erster Ehe.
In Paris, 20 Jahre später, lernt der Mathematiker Pierre Cartier Alexander Grothendieck und seine Mutter Hanka kennen.
"Ich war einige Mal bei ihm, er wohnte im Nordwesten von Paris und da habe ich seine Mutter gesehen. Sie war sehr krank und hinfällig. Er hat sich sehr um sie gekümmert und für sie gesorgt. Als sie starb war das ein furchtbarer Schock für ihn. Er war 29 Jahre alt."
Grothendieck hat seinem Freund Pierre Cartier wenig über seine Jahre in Deutschland erzählt. Cartier fiel nur auf, dass er großen Wert darauf legte seinen Namen "Alexander" beizubehalten und nicht das Französische " Alexandre" übernehmen wollte. Doch erst die Recherchen von Winfried Scharlau haben Einzelheiten über das Emigrantenschicksal von Alexander Grothendieck und seiner Familie zu Tage gebracht.
"Manche wussten wohl, dass er in Berlin geboren war. Aber die Herkunft seines Namens, seiner Eltern, wo er aufgewachsen war, darüber hat er sich offenbar selbst in seiner Studienzeit und als er anfing ein berühmter Mathematiker zu werden, hat er sich wohl selber nie geäußert und das blieb immer so etwas im Dunkeln."
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 flüchtet der Vater Alexander Schapiro nach Frankreich. Die Mutter folgt ihm und bringt ihren fünfjährigen Sohn in einer Pflegefamilie in Hamburg unter, die er nie zuvor gesehen hatte. Ein Schock für das Kind. Zusammen mit anderen Pflegekindern lebt Alexander fünf Jahre lang in der Familie von Wilhelm Heydorn in Hamburg-Blankenese. Schurik, wie er dort genannt wird, fügt sich den Verhältnissen. Er wird schulisch gefördert und verbringt unvergesslich schöne Sommerferien bei einem jüdischen Ehepaar im nahe gelegenen Schleswig-Holstein.
Nach der Reichsprogromnacht 1938 nehmen die antisemitischen Ausschreitungen zu. Die Umstände der Emigration von Alexander Grothendieck, dessen Vater Jude war, hat Winfried Scharlau in Gesprächen mit Zeitzeugen und Verwandten rekonstruiert.
"Die Pflegeeltern kamen zu der Ansicht, dass es doch sicherer wäre, ihn zu seinen Eltern nach Frankreich zu bringen und sie haben das in die Wege geleitet. Und Anfang Mai 1939 hat Grothendieck dann Hamburg und Deutschland verlassen und ist zu seiner Mutter nach Nîmes gekommen."
Zusammen mit seiner Mutter kommt Alexander Grothendieck 1940 in ein Internierungslager. Schutz vor weiteren Verfolgungen findet er in dem Internat "Collège Cévenol" in Chambon sur Lignon. Es wird von protestantischen Geistlichen geführt, die ihm und vielen anderen jüdischen Kindern das Leben retten.
Sein Vater Alexander Schapiro, als Anarchist im Spanischen Bürgerkrieg aktiv, gerät in das berüchtigte Lager Le Vernet, wo menschenunwürdige Verhältnisse herrschen. Er wird von dort nach Auschwitz deportiert und kommt 1942 um. Der schreckliche Tod seines Vaters wird Alexander Grothendieck erst viele Jahre später in seinem vollen Umfang bewusst. Er übersteht die schweren Jahre seiner Kindheit und die Nachkriegszeit und so schreibt er "Récoltes et Semailles", mit Vergessen und Verdrängen.
"Die Spaltung meines Wesens, die mein Leben wie das von jedem anderen bestimmt, hat sich zwischen meinem sechsten und achten Lebensjahr vollzogen. Nachdem ich schon zwei Jahre von meiner Schwester und meinen Eltern getrennt war, die mir kein einziges Lebenszeichen zukommen ließen, erlebte ich in mir in einem bestimmten Augenblick eine Wandlung. Von diesem Moment an habe ich mit den wirkungsvollen Mechanismen der Selbstverleugnung überlebt."
Nach 1945 beginnt Grothendieck in Montpellier sein Studium der Mathematik und setzt es in Paris und Nancy fort. Winfried Scharlau schildert eine denkwürdige Begegnung mit den berühmten Mathematikern Laurent Schwartz und Jean Dieudonné, bei denen er sich zur Promotion anmeldet.
"Die geben ihm dann eine Arbeit zu lesen, die endete mit einer Liste von 14 ungelösten Problemen. Grothendieck erhielt dann den Vorschlag, dass er sich mal eines dieser Probleme ansehen könnte und nach einigen Monaten kam er wieder und hatte die Hälfte dieser Probleme gelöst und noch ein paar Wochen später hatte er sie alle gelöst, ohne jede Ausnahme. Das muss man sich vorstellen! Schwartz war einer der berühmtesten Mathematiker und hatte diese Probleme offen gelassen und dann kommt ein völlig unbekannter Student mit einer ungeordneten und lückenhaften Schul- und Universitätsausbildung und löst alle diese Fragen! Von dem Augenblick an war klar, dass er ein Mathematiker allen ersten Ranges sein würde."
Allein mit seiner Denkkraft hat Grothendieck die ihm gestellten mathematischen Probleme durchdrungen. Dieser Erfolg führt ihn geradewegs in die Bourbaki-Gruppe, einen kleinen Kreis ausgezeichneter französischer Mathematiker. Nach seiner Promotion folgt ein erster einjähriger Lehraufenthalt im brasilianischen Sao Paulo. Er möchte seine kranke Mutter nicht alleine zurück lassen und nimmt sie auf die weite Reise mit.
Bei der Rückkehr 1953 kommen sie erstmals wieder nach Hamburg und besuchen die Pflegeeltern Wilhelm und Dagmar Heydorn in Blankenese. Nach sehr schwierigen Jahren findet Grothendieck dort, in der Babendiekstrasse ein beinahe unversehrtes Bild aus der Kindheit wieder: das zweistöckige Jugendstilhaus mit Vorgarten und Balkon und den großen Garten mit dem alten Birnbaum. Uwe Heydorn, ein Enkel von Wilhelm Heydorn, erinnert sich an das erste Wiedersehen nach dem Krieg:
"Ich kann mich sehr gut erinnern, dass meine Großseltern sich sehr gefreut haben auf den Besuch von Alexander Grothendieck, dass der Kontakt insbesondere weiter bestand. Meine Grosseltern hatten eine Reihe von Pflegekindern und hatten mit vielen nach dem Krieg noch weiter guten Kontakt."
Mit einer voll gepackten Ente, einem Citroen 2CV, seiner Frau Mireille und seinen Kindern kommt Grothendieck in den folgenden Jahren noch mehrmals nach Hamburg. Anfang der 1960er Jahre fährt Uwe Heydorn zum Gegenbesuch nach Paris.
"Grothendieck wohnte damals mit seiner Familie in Neuilly sur Seine in einem Haus nebenbei, das ich immer als dem ähnlich in der Babendiekstrasse empfunden habe. Es war auch schmal geschnitten und ging über mehrere Etagen. Es war ein fröhliches Leben dort. Der Alexander Grothendieck selbst wurde allerdings nicht so oft gesehen, weil er sich wohl seinen wissenschaftlichen Studien hingab."
Grothendieck wird 1958 Professor an dem neu gegründeten "Institut des Hautes Études Scientifiques", einem Forschungsinstitut für Mathematik und theoretische Physik, abgekürzt IHÉS. Es liegt etwas außerhalb im Süden von Paris. Elementarforschung auf höchstem Niveau nach dem Vorbild des "Institute for Advanced Studies" im amerikanischen Princeton ist das Ziel des Gründers und Geschäftsmannes Léon Motschane, der die Finanzierung des Unternehmens in der Hand hat.
Grothendieck hat das Institut später als sein Paradies bezeichnet. In dem parkähnlichen Anwesen in Bures-sur-Yvette kann er sich ungestört auf die Mathematik konzentrieren. Fotografien aus dieser Zeit zeigen ihn in kurzen Hosen oder in gelöster Stimmung zwischen jungen Mathematikern im Anzug und er barfuss. Mit seinem prägnanten Profil, seinem kahl geschorenen Schädel, fällt er sofort ins Auge und hebt sich von den anderen ab. Zu seinen Seminaren, die immer dienstags stattfinden, versammelt sich ein Kreis von 20 bis 30 Mathematikern. Angesprochen auf die schlechte Ausstattung des Instituts in der Anfangszeit, antwortet Grothendieck damals:
"Wir lesen keine Bücher, wir schreiben sie."
Das IHÉS besteht nunmehr 50 Jahre und hat sich als Denkschmiede einen Namen gemacht. In einem hellen zweistöckigen Gebäude, zwischen hohen Bäumen gelegen, brüten Zimmer an Zimmer Wissenschaftler über ungelöste Fragen auf den Gebieten der Mathematik und theoretischen Physik. Yuri Manin, heute ein bedeutender Mathematiker, war 1967 zwei Monate an dem Institut. Mitten im Kalten Krieg war es dem IHÉS-Gründer Motschane gelungen ihn aus Moskau nach Paris zu holen. Manin ging zu Grothendieck.
"Er war in seinen besten Jahren und die Mathematik, die er machte war absolut großartig. Ich wollte so viel wie möglich von ihm lernen. Er gab mir ganz außerordentlich großzügig Einzelunterricht. Es entstand eine sehr intensive Kommunikation über mathematische Fragen. Ich interessierte mich für ihn und er hat sich ebenfalls für mich interessiert. Ich empfand große Sympathie für ihn. Er war offen und außerordentlich großzügig."
In der Rückschau auf diese produktive Phase seines Lebens schreibt Grothendieck in "Récoltes et Semailles":
"Wenn es keine anderen Mathematiker auf der Welt geben würde, ich glaube nicht, dass ich einen Sinn in der Mathematik finden würde und ich nehme an, anderen Mathematikern und Forschern geht es nicht anders. Mein Fazit ist, dass die Entdeckung der 'mathematischen Unbekannten' nicht von mir allein abhängt, sondern von einer 'kollektiven Realität'. Mathematik ist ein kollektives Wagnis seit Jahrtausenden."
Grothendieck hat für die Algebraische Geometrie ein neues Fundament geschaffen, das Entwicklungen in der Mathematik, in der theoretischen Physik oder auch auf anderen Gebieten, wie zum Beispiel der Kryptographie beeinflusst hat. Eine Idee, wie sich das faszinierende Forschungsgebiet anschaulich erklären lässt, kam dem Mathematiker Yuri Manin zwischen den tonnenschweren Stahlteilen der Skulptur "Torqued Ellipses" von Richard Serra.
"Gehen wir einmal von diesen dreidimensionalen, ziemlich schweren abstrakten Skulpturen aus, die keine definierte Bedeutung haben. In der Algebraischen Geometrie haben wir einen Weg gefunden, diese Gebilde mit Formeln und Begriffen zu beschreiben und wir können sie selbst erschaffen. Wir brauchen dazu nichts, was in irgendeiner Weise physikalischen Formen entspricht. In der Algebraischen Geometrie untersuchen wir hauptsächlich Eigenschaften räumlicher Gebilde in vielen Dimensionen: Wie beeinflussen sie sich gegenseitig, wie bewegen sie sich in die eine oder andere Richtung, was passiert wenn sich ihre Form verändert und so fort ... "
Alexander Grothendieck wird 1966 die Fields-Medaille zuerkannt, eine der höchsten Auszeichnungen auf dem Gebiet der Mathematik. Die feierliche Verleihung in Moskau boykottiert er aus Protest gegen die Unterdrückung oppositioneller Wissenschaftler und Künstler in der Sowjetunion. Grothendieck hat sich in den Jahren zwischen 1955 und 1965 mit unglaublicher Energie ausschließlich mit Mathematik beschäftigt.
Als Mitte der 1960er Jahre in Frankreich der Widerstand gegen die Bildungspolitik und das Establishment wächst, wird ihm in Diskussionen mit radikalisierten Studenten bewusst, dass er mittlerweile einer Wissenschaftshierarchie angehört, die er eigentlich ablehnt. Denn er fühlt sich nach wie vor dem Vermächtnis seiner Eltern, ihrer radikal-anarchistischen Lebensauffassung verbunden. Im Verlauf der französischen Studentenrevolte vollzieht sich bei Grothendieck eine Wandlung, erinnert sich der Mathematiker Pierre Cartier.
"Plötzlich entdeckte er Vietnam! Er erinnerte sich daran, dass er als Flüchtling unter sehr schwierigen Bedingungen mit dem Studium der Mathematik begonnen hatte und realisierte nun, dass in Vietnam junge Mathematiker unter furchtbaren Verhältnissen leben, unter den amerikanischen Bombardements leiden, in den Bergen Zuflucht suchen und sich in einer ähnlichen Situation wie er in seiner Jugend befinden. Er hatte große Sympathie für die jungen vietnamesischen Studenten und sagte sich: Ich muss ihnen helfen!"
An den gemeinsamen Hilfsaktionen französischer Intellektueller und Mathematikern, Laurent Schwartz initiiert zum Beispiel den Aufbau einer Universität in Nordvietnam, beteiligt sich Grothendieck nicht. Er reist alleine nach Vietnam und hält dort eine Vorlesungsreihe.
Er führt auch in den folgenden Jahren seinen eigenen Kampf. Als bekannt wird, dass das IHÉS seit seiner Gründung mit Geldern aus dem Verteidigungsministerium finanziert wird, ist Grothendieck entsetzt. Die Unabhängigkeit seiner wissenschaftlichen Forschung am Institut ist in Frage gestellt. Es kommt zum Eklat.
Er zieht die Konsequenzen, verlässt "sein Paradies" und befasst sich nicht mehr nur mit Mathematik. Er kritisiert den Fortschrittsglauben der Wissenschaft, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und warnt vor der Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts. Er verschreibt sich Ideen für eine bessere Zukunft und wird Mitbegründer der Bewegung "Survivre" - "Überleben".
Der Mathematiker Christian Siebeneicher hört von Grothendiecks Ideen und holt ihn 1971 an die Universität Bielefeld.
"Der hat gesagt, okay, damit ihr mich einladen könnt, muss ich diesen Vortrag halten, aber ich komme deswegen, weil ich etwas anderes mit euch besprechen will. Das war so etwas, das nannte sich 'Mouvement survivre' und der sagte, Gott, Leute, ihr lebt so vor euch hin, ihr zerstört die Welt. Und was soll man da machen, das es anders wird. Es wird doch immer gesagt , hätten doch die Leute damals, als sie die Atombombe gebaut haben, darüber nachgedacht, was denn alles ist und dann hätten sie sie vielleicht nicht gebaut. Aber die meisten Mathematiker haben im Grunde immer gedacht, na ja, ist sowieso egal, wir machen weiter, was wir immer machen."
Zum Abschluss seines Vortrags schreibt Grothendieck in das Kolloquiumsbuch den Rieman-Roch'schen Satz und umrahmt ihn mit züngelnden Flammen und zwei Teufeln, die das Feuer schüren.
"Um dieser Aussage einen approximativen Sinn zu geben, musste ich nahezu zwei Stunden lang die Geduld der Zuhörer missbrauchen. Schwarz auf weiß (in Springer's Lecture Notes) nimmt's wohl an die 400, 500 Seiten. Ein packendes Beispiel dafür, wie Wissens- und Entdeckungsdrang sich immer mehr in einem lebensentrückten logischen Delirium auslebt, während das Leben selbst auf tausendfache Art zum Teufel geht - und mit endgültiger Vernichtung bedroht ist. Höchste Zeit, unsern Kurs zu ändern!"
Doch seine Anhängerschaft löst sich nach wenigen Jahren auf und Grothendieck zieht sich zurück. In den 1970er Jahren arbeitet er als Professor an der Universität Montpellier und hält Lehrveranstaltungen in elementarer Mathematik. Er wendet sich dem Buddhismus zu und beginnt zu meditieren. In einem Brief nach Hamburg berichtete er in familiärem Ton über sein Leben. Diese Post aus dem Jahr 1979 hat Detlef Heydorn sorgfältig aufbewahrt. Grothendieck schreibt:
"Was mich anbelangt, so einsiedele und meditiere ich weiterhin unentwegt. Der Stapel meiner Aufzeichnungen neigt zu einer beängstigenden Höhe. Dieser Tage komme ich bei tausend Blättern, zweitausend Seiten an und es werden wohl noch tausend weitere Seiten hinzukommen in den folgenden Monaten und das gewissermaßen nur, um meinen lieben Eltern auf die Spur zu kommen."
Grothendieck ist selbst Vater von fünf Kindern, doch seine Meditationen in "Récoltes et Semailles" kreisen um seine eigene Kindheit und Vergangenheit. Zur Beerdigung seiner Pflegemutter Dagmar Heydorn fährt er 1982 zum letzten Mal nach Hamburg.
"Da hat er sich vom Rest der Familie weitgehend zurückgezogen und war immer im Haupthaus bei meiner Mutter. Und ich sehe ihn da am Tisch sitzen und Bücklinge zerlegen und davon schwärmen, das einzig Schöne, was es zu essen gibt, sind diese Bücklinge, auf die er so lange verzichten musste. Ich glaube, er hatte sein eigenes Wasser mit, das er trank und nichts anderes anrührte und postulierte ein einfaches Leben."
Im Februar 2008 kommt Jean Pierre Serre, ein Weggefährte Grothendiecks, an die Universität Bielefeld und hält eine Vorlesung über "Finite subgroups of G(k), where G ist the Cremona group in 2 variables". Jean Pierre Serre, 82 Jahre alt, Mitglied der Académie des sciences in Paris, vielfach ausgezeichnet, steht in den 1950er und 1960er Jahren in regem Gedankenaustausch mit Grothendieck.
"Er machte Mathematik systematischer als ich. Er hat eine riesige Maschinerie geschaffen. Das ist nicht mein Stil, aber gleichzeitig hatten wir beide Geschmack an der Mathematik gefunden. Wir haben nicht wirklich zusammen gearbeitet, aber zusammen diskutiert. Ich war begeistert von dem, was er machte. Meine Interessen gingen in eine andere Richtung. Es wäre auch kaum möglich gewesen mit ihm mitzuhalten, denn er hatte eine solche Energie und arbeitete wie alle Mathematiker: ziemlich alleine."
In "Récoltes et Semailles" beschreibt Grothendieck Serre als den Menschen, dem er viel verdankt und der ihn inspiriert hat, denn seine eigene Herangehensweise ergänzte sich mit der strengen Rationalität, Disziplin und dem profunden Wissen von Jean Pierre Serre.
"Grothendieck mochte keine komplizierten Beweisführungen. In seinem Text gibt es eine nette Beschreibung wie er ein Problem angeht. Er schreibt, die Methode von Serre eine Nuss zu knacken ist: er schlägt mit einem Hammer auf die Nuss und zertrümmert sie. Er dagegen lässt sie so lange aufweichen, bis sie von selbst aufgeht. Seine Methode ist sehr ungewöhnlich, aber er hat vieles damit erfolgreich bewältigt. Doch er ist fast der Einzige, der es so macht."
Pierre Cartier, Mathematiker und Weggefährte von Grothendieck hat sich ebenfalls eingehend mit "Recoltes et Semailles" auseinandergesetzt. Die Trennung von Autor und Werk ist unter Mathematikern ein ungeschriebenes Gesetz. Grothendieck wollte diese Konvention durchbrechen, stellt Cartier fest.
"Der Mathematiker wird beim Aufbau seines mathematischen Gebäudes von emotionalem und nicht nur von rationalem Denken, sondern auch von schmerzlichen und hoffnungsvollen Gefühlen angetrieben. Kreativität, ob auf dem Gebiet der Kunst, der Architektur, der Wissenschaft, ist immer auch ein Kampf, ein Kampf gegen das Unbekannte. Wie der Künstler, braucht auch der Mathematiker Inspiration. Doch bei einem Mathematiker trennt man zwischen den Gefühlen, die ihn antreiben und dem Ergebnis."
Zu Grothendiecks Werk, so Pierre Cartier, gehört auch sein Leiden. Leiden an seiner Vergangenheit, Leiden an seinem Werk, das er nicht zu Ende geführt hat, sein Gefühl, verraten worden zu sein von Mitarbeitern und Nachfolgern, das sich ins Wahnhafte gesteigert hat. Grothendieck deshalb für verrückt zu erklären, lehnt Cartier entschieden ab. Seine tausendseitige Schrift "Récoltes et Semailles", sein radikaler Subjektivismus, seine Obsessionen betrachtet er als die unbekannte Seite seines Werkes, das in der Mathematik nach wie vor Bestand hat.
Grothendieck hat Freunde vor einer Katastrophe gewarnt, die nicht eingetreten ist. Er hat Briefe verschickt, die den Empfänger tief verletzen mussten; auch an Familie Heydorn in Hamburg. Doch sie wollten die Verbindung deshalb nicht abbrechen. Nach einem mehrmonatigen Briefwechsel kündigt Detlef Heydorn Schurik an, so wird Grothendieck in der Familie nach wie vor genannt, dass er ihn besuchen möchte. An einem sonnigen, hellen Tag im April 2005, die Bergketten der Pyrenäen sind noch schneebedeckt, kommt er bei ihm an.
"Ich fuhr also hinein in den Ort, in dem er wohnt, und sah das etwas finstere zweistöckige Haus mit fast blinden Fenstern und einer kleinen spärlichen Lichtquelle. Die Gartenpforte war abgeschlossen, sodass ich mich schon etwas entmutigt fühlte. Es stand auch kein Name dran, kein Hinweis auf ihn. Und ich dachte: mal gucken, und sprang über den Zaun, klopfte an die Tür, klopfte ein zweites Mal und dann sprang die Tür auf und da stand er. Ich hatte ihn ja viele Jahre nicht gesehen. Er kam mir recht klein vor, sehr schmal, nach wie vor das sehr gut geschnittene Gesicht, lange graue wallende Haare und ein langes, vielleicht nordafrikanisches Gewand und Nickelbrille.
Und er guckte mich an mit zusammen gezogenen Brauen und fragte höchst kritisch und verschlossen: Comment? Und ich sagte in meiner leutseligen Art: Hallo, Schurik! Ich bin's! Hier ist Detlef! Du, ich wollte dich mal besuchen. Wie geht's dir? Und das verstand er zuerst überhaupt nicht, weil er auch nicht mit einer deutschen Ansprache rechnete, wobei er nach wie vor perfektes Deutsch spricht. Und ich wiederholte es dann noch einmal und da kam er etwas dichter an mich heran, musterte mich so schräg von unten für einen Moment kritisch und dann deutete er mit dem Zeigefinger auf die Gartenpforte, drehte sich um, schmiss die Tür hinter sich zu und war verschwunden."
Am Ende von "Récoltes et Semailles" schreibt Alexander Grothendieck über seine Vergangenheit als Mathematiker:
"Die Leidenschaft zu meditieren, mich selbst zu entdecken ist groß genug, um mein Leben bis zum Ende meiner Tage damit auszufüllen. Es stimmt, dass die Leidenschaft für die Mathematik nicht aufgebraucht ist, aber der ständige Hunger danach wird sich mit den Jahren legen. Die Mathematik hindert mich dem Wagnis der Einsamkeit zu folgen, doch etwas sagt mir, dass ich dies nur ich alleine zu Ende führen kann."
"Grothendieck war einmalig. Er drängte jeden nicht gerade beiseite, aber sehr bald in seine Richtung. Algebraische Geometrie wurde dann mehr oder weniger von Grothendieck definiert."
"Er war körperlich stark, nicht sehr groß, aber er hatte eine enorme intellektuelle Kraft."
"Für mich ist er nicht mehr da. Diese Geschichte beginnt vor mehr als 30 Jahren gut und endet traurig."
"Ich denke, er hatte das Gefühl, sein Leben vertan zu haben."
"Er hat mit einer subjektiven Mathematik begonnen!"
Mathematiker, die mit Alexander Grothendieck in den 1950er und 1960er Jahren in Paris zusammengearbeitet haben, sprechen von ihm heute in der Vergangenheit. Doch Grothendieck lebt. Nur hat er sich von der Welt, seiner Familie, Freunden und Weggefährten abgewandt. In seiner selbst gewählten Einsamkeit hat er eine fast tausendseitige Schrift über sein Leben und die Mathematik verfasst. "Récoltes et Semailles - Ernten und Säen" - Gedanken und Zeugnis über eine Vergangenheit als Mathematiker" ist ein sprachgewaltiger und vielschichtiger Text: subjektiv, verstörend, religiös, hellsichtig. Er schreibt:
"Was mich anbelangt, sehe ich mich in der Nachfolge von Mathematikern, die mit Freude und aus freien Stücken ihrer Berufung folgen immer neue Gebäude zu errichten. Einmal an der Arbeit, können sie nicht umhin als nach und nach alle erforderlichen Werkzeuge, Gerätschaften, Einrichtungen zu erfinden und zu formen ... Wenn ich in diesem Sinne Namen meiner Vorgänger nennen sollte, dann denke ich an Galois und Riemann ... "
Grothendieck skizziert im folgenden Text unterschiedliche Charaktere von Mathematikern. Die einen bezeichnet er als häuslich.
"Sie pflegen und erhalten das Erbe. Die anderen sind Pioniere und überschreiten Grenzen."
Diese Qualitäten schreibt er sich selbst zu. Doch seine Freude an der Mathematik ist belastet.
"Auch wenn die Erfinder der Quantenmechanik nicht vorhergesehen haben, dass ihre Entdeckungen sich in Hiroshima konkretisieren würden und später im atomaren Wettlauf. Tatsache ist, dass die Entdeckungen in der Physik spürbare Auswirkungen auf die Welt und die Menschheit haben. Der Einfluss der Entdeckungen in der Mathematik, insbesondere in der "reinen" Mathematik ist geringer und sicherlich viel schwieriger einzukreisen. Zum Beispiel weiß ich nicht, ob mein Beitrag in der Mathematik jemand "genutzt" hat. Ich habe zumindest keine Auszeichnung dafür bekommen, so viel steht fest. Aber das beruhigt mich nicht."
Alexander Grothendieck lebt heute vollkommen zurückgezogen in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen. Sein Haus, umgeben von einem verwilderten Garten mit Rosen und Apfelbäumen, kennen nur wenige Eingeweihte. Der Mathematiker Winfried Scharlau, der eine Biografie über Alexander Grothendieck veröffentlicht hat, konnte mit ihm sprechen.
"Ich habe Grothendieck im Jahr 2003 besucht, nachdem ich seinen Aufenthaltsort ausfindig gemacht habe, was nicht so ganz einfach ist. Er war sehr freundlich zu mir. Seine intellektuelle Präsenz, wie genau und präzise er sich an alle möglichen Dinge erinnern konnte, das hat mich überrascht. Er hat so eine Art Kutte an. Wir haben Deutsch gesprochen, ja."
Alexander Grothendieck, am 28. März 1928 in Berlin geboren, hat dort die ersten Jahre seiner Kindheit verbracht. Im Berliner Adressbuch von 1930 ist seine Mutter Hanka Grothendieck als Inhaberin eines Photoateliers im Hinterhof der Brunnenstrasse 165 verzeichnet.
Die Brunnenstrasse, nicht weit vom Alexanderplatz entfernt, blieb von Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg verschont. Danach war sie durch ihre Lage im ehemaligen Grenzgebiet zwischen Ost- und Westberlin fünf Jahrzehnte lang so gut wie stillgelegt. Allmählich belebt sie sich wieder.
Brunnenstrasse 165. Der Weg durch die Toreinfahrt führt in einen engen Hinterhof, eingefasst von einer mannshohen, abgeschrammten Mauer aus gelbem Backstein und einer grauen fensterlosen Brandmauer. Sie überragt das schmale, zweistöckige Haus im Hinterhof. Der Eingang hinten links könnte einst zu dem Fotoatelier von Hanka Grothendieck geführt haben.
Eine Fotografe aus den Berliner Tagen zeigt Grothendiecks Vater Alexander Schapiro mit einer großen Plattenkamera auf der Straße zwischen Passanten. Trotz Anzug, Krawatte und Hut wirkt er mager, um seinen Mund haben sich tiefe Falten eingegraben. Schapiro, russischer Emigrant, Anarchist und Jude ist für Hanka Grothendieck die große Liebe ihres Lebens. In ihrem unveröffentlichten autobiographischen Roman "Eine Frau" schildert sie ihr gemeinsames Leben im Berlin der 1920er Jahre. Als Straßenfotografen verdienen sie den Lebensunterhalt für ihre kleine Familie, den Sohn Alexander und seine Halbschwester Maidi aus erster Ehe.
In Paris, 20 Jahre später, lernt der Mathematiker Pierre Cartier Alexander Grothendieck und seine Mutter Hanka kennen.
"Ich war einige Mal bei ihm, er wohnte im Nordwesten von Paris und da habe ich seine Mutter gesehen. Sie war sehr krank und hinfällig. Er hat sich sehr um sie gekümmert und für sie gesorgt. Als sie starb war das ein furchtbarer Schock für ihn. Er war 29 Jahre alt."
Grothendieck hat seinem Freund Pierre Cartier wenig über seine Jahre in Deutschland erzählt. Cartier fiel nur auf, dass er großen Wert darauf legte seinen Namen "Alexander" beizubehalten und nicht das Französische " Alexandre" übernehmen wollte. Doch erst die Recherchen von Winfried Scharlau haben Einzelheiten über das Emigrantenschicksal von Alexander Grothendieck und seiner Familie zu Tage gebracht.
"Manche wussten wohl, dass er in Berlin geboren war. Aber die Herkunft seines Namens, seiner Eltern, wo er aufgewachsen war, darüber hat er sich offenbar selbst in seiner Studienzeit und als er anfing ein berühmter Mathematiker zu werden, hat er sich wohl selber nie geäußert und das blieb immer so etwas im Dunkeln."
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 flüchtet der Vater Alexander Schapiro nach Frankreich. Die Mutter folgt ihm und bringt ihren fünfjährigen Sohn in einer Pflegefamilie in Hamburg unter, die er nie zuvor gesehen hatte. Ein Schock für das Kind. Zusammen mit anderen Pflegekindern lebt Alexander fünf Jahre lang in der Familie von Wilhelm Heydorn in Hamburg-Blankenese. Schurik, wie er dort genannt wird, fügt sich den Verhältnissen. Er wird schulisch gefördert und verbringt unvergesslich schöne Sommerferien bei einem jüdischen Ehepaar im nahe gelegenen Schleswig-Holstein.
Nach der Reichsprogromnacht 1938 nehmen die antisemitischen Ausschreitungen zu. Die Umstände der Emigration von Alexander Grothendieck, dessen Vater Jude war, hat Winfried Scharlau in Gesprächen mit Zeitzeugen und Verwandten rekonstruiert.
"Die Pflegeeltern kamen zu der Ansicht, dass es doch sicherer wäre, ihn zu seinen Eltern nach Frankreich zu bringen und sie haben das in die Wege geleitet. Und Anfang Mai 1939 hat Grothendieck dann Hamburg und Deutschland verlassen und ist zu seiner Mutter nach Nîmes gekommen."
Zusammen mit seiner Mutter kommt Alexander Grothendieck 1940 in ein Internierungslager. Schutz vor weiteren Verfolgungen findet er in dem Internat "Collège Cévenol" in Chambon sur Lignon. Es wird von protestantischen Geistlichen geführt, die ihm und vielen anderen jüdischen Kindern das Leben retten.
Sein Vater Alexander Schapiro, als Anarchist im Spanischen Bürgerkrieg aktiv, gerät in das berüchtigte Lager Le Vernet, wo menschenunwürdige Verhältnisse herrschen. Er wird von dort nach Auschwitz deportiert und kommt 1942 um. Der schreckliche Tod seines Vaters wird Alexander Grothendieck erst viele Jahre später in seinem vollen Umfang bewusst. Er übersteht die schweren Jahre seiner Kindheit und die Nachkriegszeit und so schreibt er "Récoltes et Semailles", mit Vergessen und Verdrängen.
"Die Spaltung meines Wesens, die mein Leben wie das von jedem anderen bestimmt, hat sich zwischen meinem sechsten und achten Lebensjahr vollzogen. Nachdem ich schon zwei Jahre von meiner Schwester und meinen Eltern getrennt war, die mir kein einziges Lebenszeichen zukommen ließen, erlebte ich in mir in einem bestimmten Augenblick eine Wandlung. Von diesem Moment an habe ich mit den wirkungsvollen Mechanismen der Selbstverleugnung überlebt."
Nach 1945 beginnt Grothendieck in Montpellier sein Studium der Mathematik und setzt es in Paris und Nancy fort. Winfried Scharlau schildert eine denkwürdige Begegnung mit den berühmten Mathematikern Laurent Schwartz und Jean Dieudonné, bei denen er sich zur Promotion anmeldet.
"Die geben ihm dann eine Arbeit zu lesen, die endete mit einer Liste von 14 ungelösten Problemen. Grothendieck erhielt dann den Vorschlag, dass er sich mal eines dieser Probleme ansehen könnte und nach einigen Monaten kam er wieder und hatte die Hälfte dieser Probleme gelöst und noch ein paar Wochen später hatte er sie alle gelöst, ohne jede Ausnahme. Das muss man sich vorstellen! Schwartz war einer der berühmtesten Mathematiker und hatte diese Probleme offen gelassen und dann kommt ein völlig unbekannter Student mit einer ungeordneten und lückenhaften Schul- und Universitätsausbildung und löst alle diese Fragen! Von dem Augenblick an war klar, dass er ein Mathematiker allen ersten Ranges sein würde."
Allein mit seiner Denkkraft hat Grothendieck die ihm gestellten mathematischen Probleme durchdrungen. Dieser Erfolg führt ihn geradewegs in die Bourbaki-Gruppe, einen kleinen Kreis ausgezeichneter französischer Mathematiker. Nach seiner Promotion folgt ein erster einjähriger Lehraufenthalt im brasilianischen Sao Paulo. Er möchte seine kranke Mutter nicht alleine zurück lassen und nimmt sie auf die weite Reise mit.
Bei der Rückkehr 1953 kommen sie erstmals wieder nach Hamburg und besuchen die Pflegeeltern Wilhelm und Dagmar Heydorn in Blankenese. Nach sehr schwierigen Jahren findet Grothendieck dort, in der Babendiekstrasse ein beinahe unversehrtes Bild aus der Kindheit wieder: das zweistöckige Jugendstilhaus mit Vorgarten und Balkon und den großen Garten mit dem alten Birnbaum. Uwe Heydorn, ein Enkel von Wilhelm Heydorn, erinnert sich an das erste Wiedersehen nach dem Krieg:
"Ich kann mich sehr gut erinnern, dass meine Großseltern sich sehr gefreut haben auf den Besuch von Alexander Grothendieck, dass der Kontakt insbesondere weiter bestand. Meine Grosseltern hatten eine Reihe von Pflegekindern und hatten mit vielen nach dem Krieg noch weiter guten Kontakt."
Mit einer voll gepackten Ente, einem Citroen 2CV, seiner Frau Mireille und seinen Kindern kommt Grothendieck in den folgenden Jahren noch mehrmals nach Hamburg. Anfang der 1960er Jahre fährt Uwe Heydorn zum Gegenbesuch nach Paris.
"Grothendieck wohnte damals mit seiner Familie in Neuilly sur Seine in einem Haus nebenbei, das ich immer als dem ähnlich in der Babendiekstrasse empfunden habe. Es war auch schmal geschnitten und ging über mehrere Etagen. Es war ein fröhliches Leben dort. Der Alexander Grothendieck selbst wurde allerdings nicht so oft gesehen, weil er sich wohl seinen wissenschaftlichen Studien hingab."
Grothendieck wird 1958 Professor an dem neu gegründeten "Institut des Hautes Études Scientifiques", einem Forschungsinstitut für Mathematik und theoretische Physik, abgekürzt IHÉS. Es liegt etwas außerhalb im Süden von Paris. Elementarforschung auf höchstem Niveau nach dem Vorbild des "Institute for Advanced Studies" im amerikanischen Princeton ist das Ziel des Gründers und Geschäftsmannes Léon Motschane, der die Finanzierung des Unternehmens in der Hand hat.
Grothendieck hat das Institut später als sein Paradies bezeichnet. In dem parkähnlichen Anwesen in Bures-sur-Yvette kann er sich ungestört auf die Mathematik konzentrieren. Fotografien aus dieser Zeit zeigen ihn in kurzen Hosen oder in gelöster Stimmung zwischen jungen Mathematikern im Anzug und er barfuss. Mit seinem prägnanten Profil, seinem kahl geschorenen Schädel, fällt er sofort ins Auge und hebt sich von den anderen ab. Zu seinen Seminaren, die immer dienstags stattfinden, versammelt sich ein Kreis von 20 bis 30 Mathematikern. Angesprochen auf die schlechte Ausstattung des Instituts in der Anfangszeit, antwortet Grothendieck damals:
"Wir lesen keine Bücher, wir schreiben sie."
Das IHÉS besteht nunmehr 50 Jahre und hat sich als Denkschmiede einen Namen gemacht. In einem hellen zweistöckigen Gebäude, zwischen hohen Bäumen gelegen, brüten Zimmer an Zimmer Wissenschaftler über ungelöste Fragen auf den Gebieten der Mathematik und theoretischen Physik. Yuri Manin, heute ein bedeutender Mathematiker, war 1967 zwei Monate an dem Institut. Mitten im Kalten Krieg war es dem IHÉS-Gründer Motschane gelungen ihn aus Moskau nach Paris zu holen. Manin ging zu Grothendieck.
"Er war in seinen besten Jahren und die Mathematik, die er machte war absolut großartig. Ich wollte so viel wie möglich von ihm lernen. Er gab mir ganz außerordentlich großzügig Einzelunterricht. Es entstand eine sehr intensive Kommunikation über mathematische Fragen. Ich interessierte mich für ihn und er hat sich ebenfalls für mich interessiert. Ich empfand große Sympathie für ihn. Er war offen und außerordentlich großzügig."
In der Rückschau auf diese produktive Phase seines Lebens schreibt Grothendieck in "Récoltes et Semailles":
"Wenn es keine anderen Mathematiker auf der Welt geben würde, ich glaube nicht, dass ich einen Sinn in der Mathematik finden würde und ich nehme an, anderen Mathematikern und Forschern geht es nicht anders. Mein Fazit ist, dass die Entdeckung der 'mathematischen Unbekannten' nicht von mir allein abhängt, sondern von einer 'kollektiven Realität'. Mathematik ist ein kollektives Wagnis seit Jahrtausenden."
Grothendieck hat für die Algebraische Geometrie ein neues Fundament geschaffen, das Entwicklungen in der Mathematik, in der theoretischen Physik oder auch auf anderen Gebieten, wie zum Beispiel der Kryptographie beeinflusst hat. Eine Idee, wie sich das faszinierende Forschungsgebiet anschaulich erklären lässt, kam dem Mathematiker Yuri Manin zwischen den tonnenschweren Stahlteilen der Skulptur "Torqued Ellipses" von Richard Serra.
"Gehen wir einmal von diesen dreidimensionalen, ziemlich schweren abstrakten Skulpturen aus, die keine definierte Bedeutung haben. In der Algebraischen Geometrie haben wir einen Weg gefunden, diese Gebilde mit Formeln und Begriffen zu beschreiben und wir können sie selbst erschaffen. Wir brauchen dazu nichts, was in irgendeiner Weise physikalischen Formen entspricht. In der Algebraischen Geometrie untersuchen wir hauptsächlich Eigenschaften räumlicher Gebilde in vielen Dimensionen: Wie beeinflussen sie sich gegenseitig, wie bewegen sie sich in die eine oder andere Richtung, was passiert wenn sich ihre Form verändert und so fort ... "
Alexander Grothendieck wird 1966 die Fields-Medaille zuerkannt, eine der höchsten Auszeichnungen auf dem Gebiet der Mathematik. Die feierliche Verleihung in Moskau boykottiert er aus Protest gegen die Unterdrückung oppositioneller Wissenschaftler und Künstler in der Sowjetunion. Grothendieck hat sich in den Jahren zwischen 1955 und 1965 mit unglaublicher Energie ausschließlich mit Mathematik beschäftigt.
Als Mitte der 1960er Jahre in Frankreich der Widerstand gegen die Bildungspolitik und das Establishment wächst, wird ihm in Diskussionen mit radikalisierten Studenten bewusst, dass er mittlerweile einer Wissenschaftshierarchie angehört, die er eigentlich ablehnt. Denn er fühlt sich nach wie vor dem Vermächtnis seiner Eltern, ihrer radikal-anarchistischen Lebensauffassung verbunden. Im Verlauf der französischen Studentenrevolte vollzieht sich bei Grothendieck eine Wandlung, erinnert sich der Mathematiker Pierre Cartier.
"Plötzlich entdeckte er Vietnam! Er erinnerte sich daran, dass er als Flüchtling unter sehr schwierigen Bedingungen mit dem Studium der Mathematik begonnen hatte und realisierte nun, dass in Vietnam junge Mathematiker unter furchtbaren Verhältnissen leben, unter den amerikanischen Bombardements leiden, in den Bergen Zuflucht suchen und sich in einer ähnlichen Situation wie er in seiner Jugend befinden. Er hatte große Sympathie für die jungen vietnamesischen Studenten und sagte sich: Ich muss ihnen helfen!"
An den gemeinsamen Hilfsaktionen französischer Intellektueller und Mathematikern, Laurent Schwartz initiiert zum Beispiel den Aufbau einer Universität in Nordvietnam, beteiligt sich Grothendieck nicht. Er reist alleine nach Vietnam und hält dort eine Vorlesungsreihe.
Er führt auch in den folgenden Jahren seinen eigenen Kampf. Als bekannt wird, dass das IHÉS seit seiner Gründung mit Geldern aus dem Verteidigungsministerium finanziert wird, ist Grothendieck entsetzt. Die Unabhängigkeit seiner wissenschaftlichen Forschung am Institut ist in Frage gestellt. Es kommt zum Eklat.
Er zieht die Konsequenzen, verlässt "sein Paradies" und befasst sich nicht mehr nur mit Mathematik. Er kritisiert den Fortschrittsglauben der Wissenschaft, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und warnt vor der Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts. Er verschreibt sich Ideen für eine bessere Zukunft und wird Mitbegründer der Bewegung "Survivre" - "Überleben".
Der Mathematiker Christian Siebeneicher hört von Grothendiecks Ideen und holt ihn 1971 an die Universität Bielefeld.
"Der hat gesagt, okay, damit ihr mich einladen könnt, muss ich diesen Vortrag halten, aber ich komme deswegen, weil ich etwas anderes mit euch besprechen will. Das war so etwas, das nannte sich 'Mouvement survivre' und der sagte, Gott, Leute, ihr lebt so vor euch hin, ihr zerstört die Welt. Und was soll man da machen, das es anders wird. Es wird doch immer gesagt , hätten doch die Leute damals, als sie die Atombombe gebaut haben, darüber nachgedacht, was denn alles ist und dann hätten sie sie vielleicht nicht gebaut. Aber die meisten Mathematiker haben im Grunde immer gedacht, na ja, ist sowieso egal, wir machen weiter, was wir immer machen."
Zum Abschluss seines Vortrags schreibt Grothendieck in das Kolloquiumsbuch den Rieman-Roch'schen Satz und umrahmt ihn mit züngelnden Flammen und zwei Teufeln, die das Feuer schüren.
"Um dieser Aussage einen approximativen Sinn zu geben, musste ich nahezu zwei Stunden lang die Geduld der Zuhörer missbrauchen. Schwarz auf weiß (in Springer's Lecture Notes) nimmt's wohl an die 400, 500 Seiten. Ein packendes Beispiel dafür, wie Wissens- und Entdeckungsdrang sich immer mehr in einem lebensentrückten logischen Delirium auslebt, während das Leben selbst auf tausendfache Art zum Teufel geht - und mit endgültiger Vernichtung bedroht ist. Höchste Zeit, unsern Kurs zu ändern!"
Doch seine Anhängerschaft löst sich nach wenigen Jahren auf und Grothendieck zieht sich zurück. In den 1970er Jahren arbeitet er als Professor an der Universität Montpellier und hält Lehrveranstaltungen in elementarer Mathematik. Er wendet sich dem Buddhismus zu und beginnt zu meditieren. In einem Brief nach Hamburg berichtete er in familiärem Ton über sein Leben. Diese Post aus dem Jahr 1979 hat Detlef Heydorn sorgfältig aufbewahrt. Grothendieck schreibt:
"Was mich anbelangt, so einsiedele und meditiere ich weiterhin unentwegt. Der Stapel meiner Aufzeichnungen neigt zu einer beängstigenden Höhe. Dieser Tage komme ich bei tausend Blättern, zweitausend Seiten an und es werden wohl noch tausend weitere Seiten hinzukommen in den folgenden Monaten und das gewissermaßen nur, um meinen lieben Eltern auf die Spur zu kommen."
Grothendieck ist selbst Vater von fünf Kindern, doch seine Meditationen in "Récoltes et Semailles" kreisen um seine eigene Kindheit und Vergangenheit. Zur Beerdigung seiner Pflegemutter Dagmar Heydorn fährt er 1982 zum letzten Mal nach Hamburg.
"Da hat er sich vom Rest der Familie weitgehend zurückgezogen und war immer im Haupthaus bei meiner Mutter. Und ich sehe ihn da am Tisch sitzen und Bücklinge zerlegen und davon schwärmen, das einzig Schöne, was es zu essen gibt, sind diese Bücklinge, auf die er so lange verzichten musste. Ich glaube, er hatte sein eigenes Wasser mit, das er trank und nichts anderes anrührte und postulierte ein einfaches Leben."
Im Februar 2008 kommt Jean Pierre Serre, ein Weggefährte Grothendiecks, an die Universität Bielefeld und hält eine Vorlesung über "Finite subgroups of G(k), where G ist the Cremona group in 2 variables". Jean Pierre Serre, 82 Jahre alt, Mitglied der Académie des sciences in Paris, vielfach ausgezeichnet, steht in den 1950er und 1960er Jahren in regem Gedankenaustausch mit Grothendieck.
"Er machte Mathematik systematischer als ich. Er hat eine riesige Maschinerie geschaffen. Das ist nicht mein Stil, aber gleichzeitig hatten wir beide Geschmack an der Mathematik gefunden. Wir haben nicht wirklich zusammen gearbeitet, aber zusammen diskutiert. Ich war begeistert von dem, was er machte. Meine Interessen gingen in eine andere Richtung. Es wäre auch kaum möglich gewesen mit ihm mitzuhalten, denn er hatte eine solche Energie und arbeitete wie alle Mathematiker: ziemlich alleine."
In "Récoltes et Semailles" beschreibt Grothendieck Serre als den Menschen, dem er viel verdankt und der ihn inspiriert hat, denn seine eigene Herangehensweise ergänzte sich mit der strengen Rationalität, Disziplin und dem profunden Wissen von Jean Pierre Serre.
"Grothendieck mochte keine komplizierten Beweisführungen. In seinem Text gibt es eine nette Beschreibung wie er ein Problem angeht. Er schreibt, die Methode von Serre eine Nuss zu knacken ist: er schlägt mit einem Hammer auf die Nuss und zertrümmert sie. Er dagegen lässt sie so lange aufweichen, bis sie von selbst aufgeht. Seine Methode ist sehr ungewöhnlich, aber er hat vieles damit erfolgreich bewältigt. Doch er ist fast der Einzige, der es so macht."
Pierre Cartier, Mathematiker und Weggefährte von Grothendieck hat sich ebenfalls eingehend mit "Recoltes et Semailles" auseinandergesetzt. Die Trennung von Autor und Werk ist unter Mathematikern ein ungeschriebenes Gesetz. Grothendieck wollte diese Konvention durchbrechen, stellt Cartier fest.
"Der Mathematiker wird beim Aufbau seines mathematischen Gebäudes von emotionalem und nicht nur von rationalem Denken, sondern auch von schmerzlichen und hoffnungsvollen Gefühlen angetrieben. Kreativität, ob auf dem Gebiet der Kunst, der Architektur, der Wissenschaft, ist immer auch ein Kampf, ein Kampf gegen das Unbekannte. Wie der Künstler, braucht auch der Mathematiker Inspiration. Doch bei einem Mathematiker trennt man zwischen den Gefühlen, die ihn antreiben und dem Ergebnis."
Zu Grothendiecks Werk, so Pierre Cartier, gehört auch sein Leiden. Leiden an seiner Vergangenheit, Leiden an seinem Werk, das er nicht zu Ende geführt hat, sein Gefühl, verraten worden zu sein von Mitarbeitern und Nachfolgern, das sich ins Wahnhafte gesteigert hat. Grothendieck deshalb für verrückt zu erklären, lehnt Cartier entschieden ab. Seine tausendseitige Schrift "Récoltes et Semailles", sein radikaler Subjektivismus, seine Obsessionen betrachtet er als die unbekannte Seite seines Werkes, das in der Mathematik nach wie vor Bestand hat.
Grothendieck hat Freunde vor einer Katastrophe gewarnt, die nicht eingetreten ist. Er hat Briefe verschickt, die den Empfänger tief verletzen mussten; auch an Familie Heydorn in Hamburg. Doch sie wollten die Verbindung deshalb nicht abbrechen. Nach einem mehrmonatigen Briefwechsel kündigt Detlef Heydorn Schurik an, so wird Grothendieck in der Familie nach wie vor genannt, dass er ihn besuchen möchte. An einem sonnigen, hellen Tag im April 2005, die Bergketten der Pyrenäen sind noch schneebedeckt, kommt er bei ihm an.
"Ich fuhr also hinein in den Ort, in dem er wohnt, und sah das etwas finstere zweistöckige Haus mit fast blinden Fenstern und einer kleinen spärlichen Lichtquelle. Die Gartenpforte war abgeschlossen, sodass ich mich schon etwas entmutigt fühlte. Es stand auch kein Name dran, kein Hinweis auf ihn. Und ich dachte: mal gucken, und sprang über den Zaun, klopfte an die Tür, klopfte ein zweites Mal und dann sprang die Tür auf und da stand er. Ich hatte ihn ja viele Jahre nicht gesehen. Er kam mir recht klein vor, sehr schmal, nach wie vor das sehr gut geschnittene Gesicht, lange graue wallende Haare und ein langes, vielleicht nordafrikanisches Gewand und Nickelbrille.
Und er guckte mich an mit zusammen gezogenen Brauen und fragte höchst kritisch und verschlossen: Comment? Und ich sagte in meiner leutseligen Art: Hallo, Schurik! Ich bin's! Hier ist Detlef! Du, ich wollte dich mal besuchen. Wie geht's dir? Und das verstand er zuerst überhaupt nicht, weil er auch nicht mit einer deutschen Ansprache rechnete, wobei er nach wie vor perfektes Deutsch spricht. Und ich wiederholte es dann noch einmal und da kam er etwas dichter an mich heran, musterte mich so schräg von unten für einen Moment kritisch und dann deutete er mit dem Zeigefinger auf die Gartenpforte, drehte sich um, schmiss die Tür hinter sich zu und war verschwunden."
Am Ende von "Récoltes et Semailles" schreibt Alexander Grothendieck über seine Vergangenheit als Mathematiker:
"Die Leidenschaft zu meditieren, mich selbst zu entdecken ist groß genug, um mein Leben bis zum Ende meiner Tage damit auszufüllen. Es stimmt, dass die Leidenschaft für die Mathematik nicht aufgebraucht ist, aber der ständige Hunger danach wird sich mit den Jahren legen. Die Mathematik hindert mich dem Wagnis der Einsamkeit zu folgen, doch etwas sagt mir, dass ich dies nur ich alleine zu Ende führen kann."