Geniza von Kairo

Talmudkopien, Einkaufszettel und philosophische Dokumente

10:35 Minuten
Professor Ben Outhwaite mit historisch wertvollen Dokumenten.
Professor Ben Outhwaite mit historisch wertvollen Dokumenten. © Deutschlandradio / Susanna Petrin
Von Susanna Petrin · 05.06.2020
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Die Geniza von Kairo ist eine historische Dokumentensammlung der besonderen Art. Frühe Kopien des Talmud, jüdische Eheverträge, Einkaufszettel - Heiliges und Profanes, Wichtiges und Unwichtiges. So ensteht ein Bild von tausend Jahren jüdischer Geschichte.
Die Juden haben ihren eigenen Indiana Jones: Solomon Schechter. Dieser reale Gelehrte kann es mit dem fiktiven Archäologen spielend aufnehmen. Wie Harrison Ford im Film "Jäger des verlorenen Schatzes" reiste Solomon Schechter einer heißen Spur folgend nach Kairo, um dort einen echten Schatz zu bergen.
Im Januar 1897 war Schechter so weit. Der bebrillte, bärtige Wissenschaftler betrat die Ben Ezra Synagoge im ältesten Kern Kairos. Es fehlte nur die dramatische Filmmusik, als er eine wacklige Leiter hochkletterte, um durch ein Loch in der Wand in einen zimmergroßen Raum zu gelangen.
Schechter ließ seine Laterne aufscheinen: Unter einer dicken Staubschicht hob er eine schier endlose Quelle an Wissen - die sogenannte Kairoer Geniza. 300.000 historische Dokumente. Hier hatten sie jahrhundertelang fast unbeachtet gelegen.
Diese Musik von Ovadia Hager aus dem 12. Jahrhundert ist die erste notierte jüdische Komposition. Eine zauberhafte Entdeckung für sich. Es ist nur eines von Tausenden von kleinen und großen Wundern, die seit Schechters Entdeckung aus diesem Kairoer Geniza-Schatz gehoben worden sind.
Schriften, die Gottes Namen enthalten, darf man nicht einfach wegwerfen. So ist das im Judentum wie im Islam übrigens auch. Und so kommt es, dass ausgediente Torarollen, Bibeln, Briefe, aber auch kleinste Fetzen nicht entsorgt werden durften.
Stattdessen sammelt die jüdische Gemeinde sie in einem Depot. In einer Geniza. In Kairo ist diese Tradition im Mittelalter allerdings maximal ausgeweitet worden: Sämtliche Schriften, mit oder ohne Gott, und sei es nur ein Einkaufszettel, wurden in das Depot gesteckt. Diese Dokumente sind zudem nie rituell begraben worden wie eigentlich üblich. Und so vermittelt die Kairo Geniza einen einmaligen Einblick in das komplette Spektrum vergangenen Lebens.

Dokumente aus über tausend Jahren

Die Geniza hat die Geschichtsschreibung geändert. Das sagt der darauf spezialisierte Professor Ben Outhwaite von der Universität Cambridge in England.
"Die Kairoer Geniza versammelt Dokumente aus über tausend Jahren: Das älteste Objekt ist aus dem fünften Jahrhundert, das jüngste von 1899. Sie deckt eine vielfältige Gemeinde von Juden ab, die von überall hergezogen waren. Von Malaysia bis zum Iran. Sie enthält die ganze jüdische Welt! Bis zur Entdeckung der Geniza von Kairo stützte sich die jüdische Geschichtsschreibung des Mittelalters allein auf die Erfahrungen derjenigen Juden, die in christlichen Ländern lebten. Aber mit der Entdeckung der Geniza haben wir nun Zugang zu einem großen Teil der Informationen über die restlichen 90 Prozent der Juden, die im Mittelalter in islamischen Ländern lebten."
Die Geniza gehört aber auch zu den umfassendsten Archiven für muslimisches Leben im Mittelalter. Denn Mongolen, Kreuzritter und andere Aggressoren hatten die meisten islamischen Archive aus jener Zeit zerstört: "Das meiste Material, sogar dasjenige aus Bibliotheken, wurde zerstört. Ironischerweise stammt eines der besterhaltenen islamischen Archive aus einer Synagoge."
Allerdings ist kein Schnipsel dieser Sammlung in Kairo geblieben. 1897 hatten die damaligen Synagogen-Wächter Schechter angeboten mitzunehmen, was ihm gefalle. Er nahm alles mit und soll entschuldigend gesagt haben: "I liked them all" - Mir hat alles gefallen. So kam die Kairoer Geniza nach Cambridge. Bis heute lagert hier ihr größter Teil, 190.000 Dokumente, in der Cambridge Library. Und Professor Ben Outhwaite ist ihr Gralshüter.
Bei einem Besuch in Cambridge öffnet er den kühlen Lagerraum: "Dieser Raum enthält die meisten Manuskripte der Universität Cambridge. Wir haben hier Charles Darwin, Isaac Newton, Stephen Hawking. Aber einen großen Teil des Raums füllt die Geniza. All das ist Geniza, hier, und hier und dort."
Mag Professor Outhwaite auch alles an der Geniza? Hat er alle Dokumente gelesen? "Es ist mein Job, sie alle zu mögen. Jeden einzelnen Schnipsel bis zu den großen, schönen Teilen. Aber niemand hat alle gelesen. Die Sammlung ist vor über 100 Jahren aus Ägypten geholt worden und man ist immer noch nicht damit durch."
Es gibt Forscher, die sich jahrelang nur über ein einziges besonderes Dokument aus der Geniza beugen. Zu den wichtigsten gehören frühe Kopien des Talmuds, Handschriften des jüdischen Philosophen Maimonides sowie die Ben Sira, eine Sammlung weisheitlicher Sprichwörter. Ein Blatt daraus hatte Schechter damals auf die richtige Spur gebracht:
"Jede Geschichte über die Geniza beginnt mit diesem Manuskript. Es ist das erste, das Solomon Schechter in derartige Aufregung versetzt und nach Ägypten gebracht hat. Wir bewahren es in dieser modernen Box."

Sensation für christliche Wissenschaftler

Eine Sensation vor allem für christliche Wissenschaftler war der Fund einer hebräisch-griechischen Ausgabe der hebräischen Bibel. Diese Bibel hatte sich zunächst unter jüdischen Gedichten versteckt. Ein jüdischer Poet hatte das Pergamentpapier, auf der jene Bibel gedruckt war, erneut für sich benutzt, ein sogenanntes Palimpsest.
"Eines der aufregendsten Objekte, die auftauchten, war dieses Blatt aus Origines Hexapla. Es ist nur deshalb erhalten geblieben, weil es ein schönes großes Stück Pergament war. Weil jemand anders es erneut benutzte, hat er unwissentlich eines von nur zwei Manuskripten der Hexapla bewahrt."
Neben solchen Hauptattraktionen stehen Funde, die das normale Alltagsleben dokumentieren und uns den damaligen Menschen ganz nahe bringen. Ben Outhwaites Mitarbeiterin Melonie Schmierer-Lee zeigt auf ein löchriges Stück Pergament. "Es ist kein sehr schönes Stück Pergament. Der Lehrer hat darauf einen Tadel an die Eltern eines Schülers geschrieben. Das Kind habe sich in der Schule daneben benommen, habe sich mit seiner Schwester gestritten und es sei ihm nicht gelungen, ihn zu züchtigen."
In Cambridge bewahrt man für alle Fälle buchstäblich jedes gefundene Staubkorn auf. Geniza-Schmutz in Marmeladengläsern. Man weiß ja nie, was die Zukunft für Technologien bringt! Das restliche Drittel der Sammlung, gut 100.000 Dokumente, ist weltweit auf rund 70 Institutionen verteilt. Das Internet beschleunigt das Zusammenbauen dieses enormen Puzzles.
"Heutzutage arbeiten bei der Geniza-Forschung Wissenschaftler auf der ganzen Welt zusammen. Alle Bilder sind an einem Ort im Netz zu finden. Eine überraschende Zahl an Forschungsaktivitäten findet auf Facebook oder Twitter statt. Viele posten Bilder von schwer lesbaren Unterschriften oder Daten und fragen: Was ist das? Ich kann das nicht entziffern. Die Forscher realisieren zunehmend, dass es für eine Person oder eine kleine Gruppe unmöglich ist, die Geniza zu handhaben. Denn die Materialfülle ist so groß."
Trotzdem dürfte es noch Jahrzehnte dauern, bis die Geniza vollständig gelesen und interpretiert worden ist. Dieser Schatz hält noch viele Überraschungen bereit. Solomon Shechter frohlockte dereinst bereits beim Anblick seines ersten Blattes daraus: "So lange die Bibel lebt, mein Name wird nicht sterben."
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