"Genie der Bewunderung"

Peter Gülke im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 08.06.2010
Keiner habe damals so gut über Musik geschrieben wie Schumann, sagt der Musikwissenschaftler und Komponist Peter Gülke. Am besten war er dabei nicht in Verrissen, sondern wenn er lobte.
Liane von Billerbeck: Robert Schumann, ein Künstler, der alles wollte. Am 8. Juni 1810, heute vor 200 Jahren also, wurde er in Zwickau geboren. Eigentlich hat er sich für eine Karriere als Pianist und Klavierpädagoge entschieden, allerdings seine Ambitionen so weit getrieben, seine Hände so malträtiert, dass am Ende ein Ringfinger steif blieb. Also entschied er sich zu komponieren – Glück für uns, die Hörer seiner großen Werke. Schumann gilt als ein musikalisches Universalgenie des 19. Jahrhunderts, obwohl er keine fundierte musikalische Ausbildung besaß und auch an so vielem interessiert war, dass er es nicht schaffte, sich auf ein Feld zu spezialisieren, wie das andere Kollegen taten. Besonders in den letzten Lebensjahren – 1849 gilt als sein produktivstes – war er schon gezeichnet von fortschreitender Krankheit, und so kam es, dass viele seiner Werke unter dem Signum des Verfalls gesehen, gehört, betrachtet wurden. Peter Gülke ist jetzt am Telefon. Er ist nicht nur Schumanns Biograf, wie der Romantiker auch dirigiert er, komponiert und ist musikwissenschaftlich tätig. Ich grüße Sie!

Peter Gülke: Guten Tag!

von Billerbeck: Schumann hat ja mit seiner "Neuen Zeitschrift für Musik" die musikalischen Neuerungen seiner Zeit publizistisch begleitet. Er hat unter anderem den jungen Brahms gepusht, wie man das heute nennen würde, er hat Maßstabsetzendes im Bereich der Liedkomposition, der Kammermusik und des Konzerts geleistet und das romantisch-idealistische Künstlerideal gepflegt. Dennoch wird ein Großteil seines späten Schaffens sehr oft mit seiner Geisteskrankheit in Zusammenhang gebracht. Warum ist das so?

Gülke: Das ist unter anderem deshalb so, weil wir über den Verlauf dieser Krankheit und über die ja sehr früh beginnenden Bedrohungen, die registriert bereits der 16-Jährige, sehr genau Bescheid wissen. Und wenn man so viel biografisch weiß, dann besteht immer die riesengroße Gefahr, dass man von diesem Wissen aus das Werk interpretiert und ein wenig übersieht, wie sehr das Werk auch von sich aus lebensfördernd und um nicht zu sagen lebensermöglichend ist. Und dafür bietet ja doch der späte, gefährdete Schumann geradezu rührende Beispiele. Zum Beispiel die Rheinische Sinfonie, die in einer Zeit komponiert wurde, wo er sich schon sehr bedroht fühlte, nachdem er in Düsseldorf zunächst emphatisch empfangen worden war, dass diese Sinfonie fast wie eine Enklave jubelnder Gesundheit in einem Ambiente steht, welches schon sehr überschattet ist.

von Billerbeck: Worin besteht denn für Sie der Reiz dieser späten Schumann-Kompositionen - oder anders gefragt - ist diese Kunst einer kranken Seele auch deshalb so besonders berührend?

Gülke: Natürlich können wir diesen Hintergrund nicht wegdenken, das ist völlig klar. Aber wir sollten uns hüten, wie das doch in vielen Fällen passiert, nun dasjenige, was wir nicht gleich verstehen, nun gleich auf das Konto von Reduktion und Krankheit zu setzen. Wir müssten dann wie gesagt schon beim sehr, sehr frühen Schumann anfangen. Vergessen Sie nicht, Sie haben es in Ihrer Einleitung erwähnt, dass diese Fingerverletzung ja nicht die Ursache für den Abbruch der Klavierkarriere war, sondern sie war der Versuch, eine Unsicherheit im Gebrauch der linken Hand, die eine Folge seiner luetischen Infektion war, die in den Griff zu bekommen. Und er war immer ein Mann mit sehr weit gespannten Ambitionen. Bei diesem Mann, der so genaue Rechenschaft über seine Befindlichkeiten gegeben hat, ist es ja ganz interessant, dass dieser endgültige Verzicht auf die Klavierlaufbahn eigentlich für ihn nicht als Katastrophe registriert worden ist.

von Billerbeck: Er hat sehr schnell sich dann entschieden zu komponieren und war ja auch unglaublich produktiv. Also ich habe gelesen, man könnte Schumann als multiplen Charakter bezeichnen – Sie haben ja auch Ihre Biografie "Glück und Elend der Romantik" genannt –, also ein multipler Charakter, negativ wie positiv.

Gülke: Es ist ja kein Zufall, dass für ihn zum Beispiel der große Schriftsteller Jean Paul mit seinen vielen Doppelfiguren und innerhalb dieses Werkes ganz besonders dieser Roman der "Flegeljahre", wo Vult und Walt als im Grunde zwei Seiten einer Persönlichkeit, zwei Brüder gegeneinander spielen, dass das für ihn so wichtig war und dass er das ja, diese Spaltung in mehrere Personen, ja auch mit Eusebius und Florestan in seine Schriftstellerei hineingenommen hat. Er war natürlich ein sensibler Selbstbeobachter und hat sehr genau registrieren können, sehr viel genauer als viele Gesunde, dass er eigentlich aus mehreren Personen besteht oder je nach seiner Zuwendung zur Komposition oder zu bestimmten schriftstellerischen Aufgaben oder auch interpretatorischen Aufgaben je ein anderer war. Er hatte eigentlich nur sehr viel deutlicher und schmerzlicher gesehen, was alle irgendwie betrifft, ohne dass sie es bemerken.

von Billerbeck: Friedrich Nietzsche hat über Robert Schumann mal geschrieben, seine Musik sei ein deutsches Ereignis gewesen, kein europäisches wie die Musik Mozarts oder Beethovens. Wie sehen Sie das?

Gülke: So groß, so riesengroß der Nietzsche war, da ist er ein bisschen einem on dit erlegen, das stimmt einfach nicht. Sehen Sie, die Wirkungen Schumanns sind zum Beispiel in Frankreich und in Russland sehr früh immens gewesen, in Deutschland ist er zu sehr gleich so als derjenige fixiert gewesen, der, ich hätte fast gesagt, in der innersten Herzkammer der deutschen romantischen Innerlichkeit Wohnung genommen hat und diese verwaltet. Aber er ist ja unendlich viel mehr, und das hat man vergessen, wie man immer solche Differenzierungen vergisst, wenn man meint, von einem großen Mann ein Bild zu haben. Jedes Bild ist ja eine Vereinfachung.

von Billerbeck: Immer wieder wurde ja von Schumann auch das Bild eines Außenseiters gezeichnet. Er hat gegen das Verbot, Clara Schumann zu heiraten, erfolgreich vor Gericht geklagt. Welchen Beleg gibt es denn für dieses Bild, dass er ein Mann war, der sich den Konventionen der bürgerlich einengenden Gesellschaft verschließt?

Gülke: Auch das ist eben nur die Hälfte der Wahrheit. Sehen Sie, er hat ja zum Beispiel anders als fast alle anderen großen Generationsgenossen, also Chopin, Liszt, Wagner, am ehesten noch Mendelssohn, hat er ja eigentlich eine bestimmte bürgerliche Normalität auch gesucht, eine Ehe mit einer großen Künstlerin, in der er dann auch noch vorgeschlagen hat, dass ihre Mutterpflichten doch eigentlich wichtiger sein sollten als die Fortsetzung ihrer Künstlerkarriere. Also da gibt es auch einen Zug, der unglaublich bürgerlich erscheint, aber natürlich auch so etwas wie ein Widerlager ist zu den sehr unbürgerlichen Komponenten seines Lebens, und die ihn natürlich zum Außenseiter gemacht haben. Aber vergessen wir nicht den Kontext der damaligen Zeit, der die Leute ja doch aus vielen gewohnten Bahnen geworfen hat. Diese Generation, zu der Schumann gehört hat, gerade der Generation im allerengsten Sinne, wir dürfen es nicht vergessen, hat ja doch in den bildsamsten Jahren, also sagen wir zwischen dem 12. und 25. Lebensjahr zum Beispiel erlebt, dass alle die großen Künstler der sogenannten Kunstperiode, also der großen klassischen Zeit, weggestorben sind. Das war natürlich entsetzlich für die. Die standen am Beginn der 30er-Jahre eigentlich an einer Nullsituation. Und das allein hat sie schon zum Außenseiter gemacht, abgesehen davon, dass wir ja doch dort in eine politisch außerordentlich, eine gesellschaftspolitisch außerordentlich bedrängte ich hätte fast gesagt restaurative Windstille geraten, in der die Menschen in der eigenen Positionierung, auch in der politischen Positionierung, ja natürlich sehr irritiert waren.

von Billerbeck: Seine Zeitgenossen sahen Schumann ja auch als Schriftsteller und als Musikkritiker. Welche Bedeutung hat Schumanns musikpublizistisches Wirken heute? Er hat ja in Leipzig 1834 zusammen mit Friedrich Wieck, seinem Schwiegervater, die "Neue Zeitschrift für Musik" gegründet.

Gülke: Zunächst mal ist er ja einer vielleicht in Deutschland, derjenige, der am allerbesten über Musik geschrieben hat. Er ist später natürlich einfach quantitativ durch Wagner in den Schatten gestellt worden, also unter den schreibenden Komponisten, das sind ja nicht allzu viele. Aber Wagner hat ja doch sehr pro domo geschrieben, was Schumann nun kaum getan hat. Er schreibt eigentlich am besten, wenn er lobt. Er schreibt nicht am besten wie viele Rezensenten, wenn er tadeln oder verreißen kann. Er ist ein Genie der Bewunderung und auch der Bewunderung von Dingen, die ihm fernliegen müssen. Und das ist ja für einen schöpferischen Musiker nicht ganz unproblematisch. Zu einer wollen wir sagen selbstbewussten Kreativität gehören ja auch Abgrenzung und Befangenheit. Und man muss das, was man vor sich hat, am wichtigsten finden, und man ist dann nicht disponiert, einen anderen vielleicht Gleichrangigen, der in der Nachbarschaft oder in einer zeitlichen Nachbarschaft schafft, den gerecht beurteilen zu können. Der Schriftsteller Schumann hat es dem Komponierenden in Bezug auf diese Grunddisposition des Schöpferischen sicher nicht leicht gemacht.

von Billerbeck: Viele Komponisten der Gegenwart, die beziehen sich ja in ihren Werken explizit auf Schumanns Werke – Heinz Holliger hat kompositorisch auf die "Gesänge der Frühe" reagiert, Schumanns letztes Klavierwerk, György Kurtag hat Schumann mit der "Hommage à R. Sch." ein musikalisches Denkmal gesetzt. Es gibt Schumann-Annäherungen von Henze, von Rihm und von Nono. Woraus speist sich diese Ausstrahlung Schumanns auf Komponisten des späten 20. und des 21. Jahrhunderts?

Gülke: Also ich denke unter anderem daraus, dass die Komponierenden in die Geheimnisse und in die stillen Neuerungen dieser Musik und die geheimen Avantgardismen dieser Musik viel genauer hineingesehen haben, also die normale Öffentlichkeit, und übrigens auch lange Zeit die Musikforschung. Es gibt ja unendlich viele, zum Beispiel auch kompositionstechnische Neuerungen und Kühnheiten bei Schumann, das sehen komponierende Kollegen natürlich eher. Das ist das eine. Das andere, denke ich, ist das, was ich in meinem Buch das adressierende Komponieren genannt habe, das Moment der Mitteilung, welches immer das Gefühl bei sensiblen Hörern oder auch bei sensiblen Musikern oder schöpferischen Musikern erweckt. Da ist noch etwas herauszuschaffen, da ist noch etwas zu verstehen, was sich nicht gleich offenbart. Und darin ist Schumann sicher sehr groß. Er gibt einfach anderen schöpferischen Temperamenten gibt er das Gefühl, dass da noch etwas einzulösen und noch etwas bisher Unverstandenes verständlich zu machen ist.

von Billerbeck: Peter Gülke, der Musikwissenschaftler, Dirigent und nicht zuletzt Biograf Robert Schumanns war mein Gesprächspartner am heutigen 200. Geburtstag des großen Romantikers. Ich danke Ihnen!

Gülke: Bitte schön!

von Billerbeck: Bleibt mir noch der Hinweis auf zwei Biografien: "Robert Schumann. Mensch und Musiker der Romantik" von Martin Geck und das eben schon erwähnte Buch meines Gesprächspartners Peter Gülke, "Robert Schumann. Glück und Elend der Romantik".
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