Genesung durch Wissenschaft

Der Kulturwissenschaftler Aby Warburg war sechs Jahre lang in psychiatrischer Behandlung, drei davon im Privatsanatorium von Ludwig Binswanger. Davide Stimilli und Chantal Marazia haben Warburgs komplette Krankengeschichte herausgegeben und zeigen mit ihrem Buch "Die unendliche Heilung", welche Rolle die wissenschaftliche Arbeit bei der Genesung hatte.
Die Schriften des Kunsthistorikers Aby Warburg sind heute bedeutender denn je – das Interesse an der von ihm entwickelten Bildwissenschaft reicht längst weit über die Grenzen seiner eigenen Disziplin hinaus. In dem von Davide Stimilli und Chantal Marazia herausgegebenen Band, der Warburg in Denkerpose auf dem Titel zeigt, geht es aber keineswegs um das geistige Erbe des Forschers, sondern um dunkle Jahre seines Lebens: Im November 1918 droht Warburg, seine Familie und sich selbst umzubringen. Sechs Jahre lang muss er sich daraufhin psychiatrisch behandeln lassen – drei davon im Privatsanatorium des damals schon bekannten und von der Bildungselite hofierten Psychiaters Ludwig Binswanger in Kreuzlingen. Die komplette Krankengeschichte haben der Germanist Stimilli und die Wissenschaftshistorikerin Marazia nun veröffentlicht. Kritiker sprechen von "sensationellen", von "atemberaubenden" Dokumenten. Die "Süddeutsche Zeitung" listet das Buch unter den wichtigsten aktuellen Neuerscheinungen im Bereich Sachbuch.

Woher rührt das Interesse an der Krankheit eines Forschers, die man auch diskret zur Privatsache erklären könnte? Im Fall Warburg erklärt es sich vor allem aus der Tatsache, dass er selbst seine Heilung mit seinem Werk verknüpft hat: Durch einen Vortrag, den er 1923 vor Publikum im Sanatorium hielt, habe er die Kraft zur Selbstheilung gewonnen – so hat Warburg es dargestellt und so haben es viele seiner Deuter, beispielsweise der Literaturwissenschaftler Ulrich Raulff, gesehen. Warburg hat in diesem heute legendären Vortrag ein Schlangenritual von Indianern Neu-Mexikos als Bannung von Urängsten im Symbol gedeutet. Dass er so eigene Ängste bewältigt, dass das Werk den Wahn besiegt habe – diese Schlussfolgerung hat so etwas wie einen heroischen Mythos der Kulturwissenschaft begründet.

Was bietet nun das Buch? Unbekanntes Material jedenfalls nicht. Alle hier versammelten Dokumente liegen im Universitätsarchiv in Tübingen, wo sie bereits eingesehen und ausgewertet wurden. Es ging nur niemand so weit, die komplette Krankenakte zu veröffentlichen. Stimilli und Marazia liefern nun die vollständigen Protokolle des Psychiaters Binswanger. Außerdem: autobiographische Fragmente, die Warburg in Kreuzlingen diktiert hat. Aufzeichnungen und Briefe seines Assistenten Fritz Saxl, der dort mit ihm gearbeitet hat. Protokolle der Wärter, die Warburg betreut haben.

Es ist eine schmerzhafte Lektüre: Warburg, der die Krankenschwester würgt – wirre Selbstgespräche führt – den Faltern im Zimmer – seinen "Seelentierchen" – sein Leid im "Inferno von Kreuzlingen" klagt. Und man fragt sich bei dieser Lektüre unwillkürlich, warum die Familie Warburg diese äußerst intimen Dokumente in dieser Form zur Veröffentlichung frei – und man muss sagen: preisgegeben hat. Denn neue Erkenntnisse zum Werk ihres berühmtesten Familienmitglieds liefert dieses Buch nicht. Zwar behaupten die Herausgeber, Warburgs Selbstheilung belegen zu können – aber ob Warburg nun durch seine Arbeit am Vortrag oder durch die hier im Detail dokumentierte Therapie Binswangers geheilt wurde, kann aus diesen Texten nun einmal nicht abgeleitet werden. Nur, dass Warburg selbst den Vortrag als Wendepunkt seiner Krankengeschichte sah – und das wusste man vorher schon. Mit Warburgs Vortrag, dem angeblichen Schlüssel zur Heilung, setzen sich Stimilli und Marazia im Übrigen weder im Vor- noch im Nachwort auseinander. Dass mittlerweile Aufsatz-Fragmente bekannt sind, in denen Warburg schon vor dem Ersten Weltkrieg über das Schlangenritual geschrieben hat, findet keine Erwähnung.

Ein sinnvoller Zugang zu diesem Band bietet sich einzig dem, der an der Arbeit Binswangers interessiert ist – an der eindrücklichen Dokumentation einer Beziehung zwischen Arzt und Patient. An der Darstellung von Diagnostik und historischen Behandlungsverfahren. Es ist Ludwig Binswanger, der auf dem Cover dieses Bandes in Denkerpose am Schreibtisch, mit der Hand an der Stirn, zu sehen sein sollte – nicht Warburg. Denn hier geht es um die Arbeit des Arztes, nicht um die des Patienten.

Rezensiert von Alexandra Mangel

Chantal Marazia, Davide Stimilli (Hrsg.): Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte
Diaphanes Verlag
272 Seiten, 28,90 Euro