Generation Prekär

"Der Fahrstuhl nach oben funktioniert nicht"

Der Jenaer Arbeitssoziologe Klaus Dörre
Der Jenaer Arbeitssoziologe Klaus Dörre © dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler
Moderation: Susanne Führer · 02.12.2013
Eine Zunahme von prekären Jobs könne man innerhalb der Altersgruppe der bis 24-Jährigen feststellen, meint Arbeitssoziologe Klaus Dörre. Etwa 23 bis 25 Prozent junger Menschen würden im Niedriglohnsektor arbeiten. Wer einmal arm ist, bleibe arm und habe nur die Hoffnung auf einen Aufstieg.
Susanne Führer: In der vergangenen Woche wurde der Sozialbericht für Deutschland veröffentlicht. Ergebnis: Noch nie waren so viele Menschen erwerbstätig und trotzdem wächst die Armut. Denn nicht nur die Anzahl der Jobs ist gestiegen, gewachsen ist auch der Niedriglohnsektor. Gilt das auch für die junge Generation? Wie sieht ihr Start ins Berufsleben aus? Darüber will ich nun mit Klaus Dörre sprechen, er ist Professor für Soziologie an der Universität Jena.
Guten Tag, Herr Dörre!
Klaus Dörre: Ich grüße Sie!
Führer: Man könnte ja sagen, es geht uns prima hier. In Spanien und Portugal sind 50 Prozent der jungen Menschen arbeitslos, in Deutschland gibt es die Generation Y, die sich die Jobs aussuchen kann und dabei immer noch auf die Work-Life-Balance achtet.
Dörre: Im internationalen Vergleich mag das ja sogar ein bisschen stimmen. Aber es verstellt den Blick darauf, dass wir es doch mit einer stark gespaltenen Generation zu tun haben. Zunächst mal ist es so, dass die Mehrzahl der jungen Leute inzwischen nach der Berufsausbildung und nach dem Studium tatsächlich in eine sogenannte atypische, nicht standardisierte Beschäftigung einmündet, also befristet, Teilzeitarbeit, geringfügig, Leiharbeit, das sind die Formen. Oder auch eine Solo-Selbstständigkeit.
Und da gibt es dann noch mal eine deutliche soziale Polarisierung. Also auf der einen Seite haben wir dann gut qualifizierte junge Leute, die den Sprung in bessere Verhältnisse tatsächlich relativ rasch schaffen. Und wir haben die Verliererseite der Generation, weniger gut qualifiziert, für die dann die unsichere Beschäftigung zu einem Dauerzustand wird, unterbrochen von Phasen der Erwerbslosigkeit. Und das ist schon ein deutlich problematischeres Bild, als man es auf den ersten Blick gewinnen könnte.
Führer: Sie sagen, eine gespaltene Generation. Also da gibt es dann die Hochschulabsolventen, das sind wahrscheinlich die, die dann ziemlich schnell gut bezahlte und feste Stellen bekommen, und die anderen - aber insgesamt gilt doch trotzdem, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland sehr gering ist. Also, von wie vielen Menschen sprechen wir da?
Dörre: Das, was wir in Deutschland haben, ist etwas, was wir als prekäre Vollerwerbsgesellschaft bezeichnen. Wir haben eine Rekordzahl von Erwerbstätigen, 41,5 Millionen, und gleichzeitig sinkt aber das Volumen der geleisteten Arbeitsstunden pro Kopf. Und das ist auch bei den jungen Leuten so.
Wenn man jetzt mal Quantitäten nimmt: Wir haben circa 23 bis 25 Prozent Menschen im Niedriglohnsektor, und das ist bei den jungen Leuten nicht deutlich anders. Wobei man halt sehen muss: Solange man in einem Qualifizierungsverhältnis ist, also tatsächlich erst noch eine Qualifikation aneignet, ist das was anderes, als wenn man sozusagen schon nach der Ausbildung in solche Verhältnisse einmündet.
Führer: Na ja, eben. Insofern ist ja die Frage, wie aussagekräftig das ist, wenn junge Menschen wenig Geld verdienen.
Dörre: Das kann man schwer quantifizieren. Aber ich glaube, dass man schon sagen kann, dass gut ein Fünftel der jungen Generation sich in unsicheren, prekären Verhältnissen bewegt. Und da die Chance dann auch ziemlich groß ist, dass man in solchen Verhältnissen bleibt.
Führer: Aber ist es nicht normal, dass man mit 18 noch nicht die lebenslange Festanstellung bekommt.
Dörre: Ja. Die Frage ist, ob es sich gewissermaßen verstetigt oder nicht. Und das können Sie natürlich durch eine Momentaufnahme, wenn Sie auf die junge Generation schauen, können Sie das nicht feststellen. Was wir aber sehen, ist eine deutliche Zunahme auch innerhalb der Altersgruppe der bis 24-Jährigen eine deutliche Zunahme von atypischen und prekären Jobs.
Mittlerweile ist es so: Das waren vielleicht mal 24 Prozent vor zehn Jahren, die ein solches atypisches Beschäftigungsverhältnis durchlaufen haben. Jetzt sind es in manchen Bundesländern schon deutlich über 50 Prozent. Also, Sie sehen schon das deutliche Anwachsen. Und um jetzt rauszufinden, was mit dem Betreffenden geschieht, müsste man dann gewissermaßen in die Zukunft schauen können, und müsste sehen können, wie sich die Berufskarrieren entwickeln.
Und da stellen wir fest, wenn man etwa auf Hochschulabsolventen schaut, dass, abhängig von der Fachrichtung nach fünf Jahren die meisten doch in bessere Verhältnisse gekommen sind. Wobei es dann deutliche Unterschiede gibt etwa zwischen Volks- und Betriebswirten auf der einen Seite und Politologen oder Soziologen auf der anderen Seite. Letztere sind dann meist immer noch 1000, 1500 Euro unter dem Level, was sozusagen im Beruf ansonsten verdient wird, während es bei den Ökonomen sehr schnell eine Angleichung der Gehälter gibt.
Führer: Aber Herr Dörre, Sie haben ja gerade gesagt, die Frage ist eben, ob sich das verstetigt, also diese befristeten und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnisse. Wenn ich Sie recht verstanden habe, dann gibt es da jetzt relativ wenige Langzeituntersuchungen. Sitzen Sie denn an so einer? Dass man dann Zahlen bekommen könnte, sagen wir mal, in fünf Jahren?
"Es gibt Forschungsbedarf"
Dörre: Das wäre schön, wenn wir das hätten. Aber es gibt Forschungsbedarf. Wobei, im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung beispielsweise es auch solche längerfristigen Untersuchungen gibt, aber man kann noch wenig präzise Aussagen darüber treffen, ob es gewissermaßen Aufwärtsmobilität gibt.
Das, was wir allgemein wissen, jetzt nicht nur für die junge Generation, ist, wenn man im prekären Sektor einmal ist, dann geht der Fahrstuhl nach unten sehr schnell, aber der Fahrstuhl nach oben funktioniert nicht. Im europäischen Vergleich ist es tatsächlich so, dass die Aufwärtsmobilität in Deutschland eher rückläufig ist. Und das spricht dafür, dass wir gewissermaßen doch Gruppen haben, relativ große Gruppen, die sozusagen von flexiblem Job zu flexiblem Job springen, aber im Grunde sich wie in einem Hamsterrad bewegen. Das heißt, sie treten und treten und bleiben doch auf der Stelle.
Führer: Ich spreche im Deutschlandradio Kultur mit Klaus Dörre, er ist Professor für Soziologie an der Universität Jena, über die junge berufstätige Generation. Herr Dörre, Sie haben gerade vom prekären Sektor gesprochen. Es gab ja mal ein Schlagwort, das klingt so ein bisschen schöner, nämlich Generation Praktikum. Ist das dasselbe?
Praktikantin in einem Metallbetrieb
Von Praktikum zu Praktikum?© AP
Dörre: Die Generation Praktikum war in gewisser Weise ein sehr marktgängiger Slogan. Da war nicht so viel dran. Das ist ja assoziiert mit den Kettenpraktika, also man hüpft von Praktikum zu Praktikum. Das war bezogen auf die Gesamtheit der jungen Generation eher ein Ausnahmefall.
Das hat vielleicht drei, vier Prozent betroffen, wo so was häufiger vorkam. Das, was tatsächlich typisch ist, ist, dass man nach der Ausbildung, nach dem Studium zunächst mal einen atypischen und häufig eben auch prekären, weil unsicheren Job. Das muss man als junger Mensch im Regelfall inzwischen durchlaufen, um in bessere Verhältnisse zu kommen.
Führer: Welche Folgen hat das?
Dörre: Das Management der das Umgehen mit Unsicherheit wird in gewisser Weise zu einer Schlüsselqualifikation für die Gesellschaft. Also faktisch kann man sagen, dass der Arbeitsmarkt im Grunde ja immer mehr Flexibilität von jedem und jeder Einzelnen verlangt. Das betrifft die Arbeitszeiten, das betrifft die Fähigkeit, sich auf neue berufliche Situationen, Kolleginnen und Kollegen einzustellen.
Es gibt einen enormen Beschleunigungsdruck, wenn man so will. Und das Ganze oft verbunden also mit der Unmöglichkeit zu einer längeren Lebensplanung, wenn man eben nur befristete Stellen hat und von befristetem Job zu befristetem Job hüpft. Man könnte sagen, wir sind in einer Gesellschaft, wo der Wettbewerb auf Dauer gestellt wird.
Der Wettbewerb erzeugt permanent Gewinner und Verlierer. Und wenn man oben bleiben will, wenn man siegreich sein will im Wettbewerb, dann muss man äußerste Flexibilität beweisen, häufig auch ohne Rücksicht auf die eigenen sozialen Beziehungen, auf den eigenen Körper. Die intensive Debatte über Burnout und die weniger intensive Debatte über andere psychische Erkrankungen, Depressionen, die genauso bedeutsam sind. Das ist so eine Signalwirkung, dass da häufig eine soziale Schwelle überschritten wird bei den Flexibilitätsanforderungen.
Führer: Aber wenn man jetzt mal an diese sozialpsychologischen Folgen denkt, die Sie gerade beschrieben haben, un das in dem doch immer noch sehr wohlhabenden Deutschland. Wie mag es dann in Ländern wie Spanien und Portugal aussehen, wo, wie gesagt, die Jugendarbeitslosigkeit bei 50 Prozent liegt?
Wahrnehmung des politischen Systems sinkt
Dörre: Das vermag man eigentlich als Sozialwissenschaftler noch gar nicht präzise zu sagen, weil Sie da Bevölkerungsmehrheiten inzwischen in prekären Verhältnissen haben und eine ganze Generation, die gewissermaßen zu einer verlorenen Generation wird, weil sie überhaupt nicht in Jobs kommt, entweder auswandern muss oder sich auf ein Leben im Ausnahmezustand einstellen muss.
Das, was man als erstes beobachten kann für diese Gesellschaften, aber es ist ein europäischer Trend, ist, dass diejenigen, die überhaupt nicht mehr in Erwerbsarbeit kommen, gewissermaßen der Gesellschaft auch als politische Bürgerinnen und Bürger, als Staatsbürgerinnen und -bürger verloren gehen.
Wir stellen häufig fest, dass in diesem Bereich der Ausgegrenzten, der Dauerarbeitslosen, das politische System überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird, dass Demokratie als ein leeres Versprechen begriffen wird. Und wir stellen fest, dass auch die Bereitschaft zu formaler politischer Partizipation, also in Parteien, Gewerkschaften, überhaupt die Wahrnehmung des politischen Systems und der politischen Entscheidungen rapide sinkt.
Und das ist natürlich etwas, was gewissermaßen Alarmglocken klingen lässt mit Blick auf Bestandserhaltung der Demokratie.
Führer: Das heißt, Demokratie ist an Wohlstand geknüpft?
Dörre: Zumindest daran, dass diejenigen, die sich an ihr beteiligen sollen und wollen, Lebensbedingungen haben, die so was erlauben wie ein in die Zukunft gerichtetes Bewusstsein. Nur, wenn Sie das entwickeln können, ein in die Zukunft gerichtetes Bewusstsein, sind Sie auch interessiert an politischen Entscheidungen, die längerfristige Auswirkungen haben.
Sie können aber ein solches Bewusstsein nur entwickeln, wenn Sie ein Minimum an Arbeitsplatz, an Einkommenssicherheit haben, das es überhaupt erlaubt, ein solches Bewusstsein zu entwickeln.
Wenn Sie von einem Tag auf den anderen planen müssen und alle Energie darauf verwenden müssen, über den nächsten Tag zu kommen oder über den nächsten Monat zu kommen, dann schwindet eine politische Debatte, die möglicherweise Langfristfolgen für Gesellschaft impliziert, die verschwindet völlig aus Ihrem Horizont.
Führer: Das sagt Klaus Dörre, Professor für Soziologie an der Universität Jena. Danke für das Gespräch, Herr Dörre!
Dörre: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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