Generation Mubarak

Von Ester Saoub · 16.11.2010
Wer in Ägypten um die 30 ist, kennt nur einen einzigen Präsidenten: Mohamed Hosni Mubarak. Der Sohn des 82-Jährigen steht auch schon in den Startlöchern, während sich Jugendliche in Ägypten in Internetforen, Blogs und auf der Straße gegen das verknöcherte Regime der Großväter auflehnen.
Die Soleiman Halaby Straße liegt mitten in der Kairoer Innenstadt. Nicht weit vom Bahnhof, in einem Viertel, dessen stuckverzierte Häuser einmal das Flair von Paris oder Berlin verbreitet haben. Damals, als Ägypten ein Ableger des osmanischen Reiches war, mit Herrschern, die Architekten aus Paris einluden, um die Parks ihrer neu gestalteten Stadt anzulegen. Seither sind weit über Hundert Jahre vergangen: Die Revolution der Freien Offiziere hat die konstitutionelle Monarchie des letzten ägyptischen Königs in die Knie gezwungen, und ist 60 Jahre später selbst zur grau verblassten Erinnerung geworden.

Heute würden aufbegehrende Massen vermutlich ganz banal im Verkehr stecken bleiben: in der Soleiman Halaby Straße jedenfalls parken die Autos in zwei Reihen zu beiden Seiten der schlaglöchrigen Fahrbahn. Lieferwagen quetschen sich durch, die Waren an unzählige Ersatzteilhändler liefern, die hier seit Generationen ihre Läden haben. Ein in die Jahre gekommener Verkehrspolizist hat sein Teeglas auf der Motorhaube eines Autos abgestellt und beißt in ein Sandwich. Als er den Mund wieder leer hat, weist er müde daraufhin, dass man hier in zweiter Reihe nicht parken darf, kassiert eine Banknote und frühstückt weiter. Schräg gegenüber, im dritten Stock eines grauen Hauses, hat das Nadim Zentrum für Opfer von Folter und Gewalt eine kleine Wohnung gemietet. Durch die einfachen Fensterscheiben dröhnt der Verkehr der Straße. Doch das kahl wirkende Büro von Dr. Mustafa Hussein ist eine Zuflucht für Menschen, denen Gewalt und Unrecht widerfahren ist:

"Ich bemühe mich, so gut ich kann, den Opfern zu helfen: Vielleicht können dann sie wieder schlafen, oder offen über ihr Problem sprechen. Ich mache ihnen auch klar, dass das, was ihnen widerfahren ist, nicht ihr Fehler war, sondern der der Polizei. Und dass es einen Weg für sie gibt, ihr Recht einzufordern. Dies alles gibt mir das Gefühl, eine Art Ausgleich zu schaffen."

Der 30-jährige Arzt und angehende Psychologe ist zierlich. Er hat dunkle Locken, eben so dunkle, sehr freundliche Augen und trägt eine schmale Brille. Seine Stimme ist leise, oft sucht er nach Worten; aber wenn er sie gefunden hat, kommt die Aussage sehr bestimmt. Mustafa hat an der Ain Schams Universität in Kairo Medizin studiert und macht derzeit seinen Magister in Psychologie. Mustafas Eltern sind beide Akademiker, er hat eine gute Schule besucht und ist finanziell abgesichert. Doch er kann sich genau an den Moment erinnern, in dem er merkte, dass in seinem Land etwas falsch läuft:

"Es war im Universitätskrankenhaus der Ain Schams. Ich habe dort Menschen gesehen, die eine Behandlung brauchen, aber kein Geld haben. In diesem Moment habe ich verstanden, wie viele hier benachteiligt werden, weil es keine Gerechtigkeit gibt. Es wird unglaublich viel Geld ausgegeben, zum Beispiel für Militärkrankenhäuser. Sie sind klimatisiert, mit Marmor oder Granit ausgestaltet und der Präsident persönlich eröffnet sie. Aber im Universitätskrankenhaus, das die Kranken umsonst behandelt, sieht es aus wie auf der Müllhalde. Ich werde nie vergessen, wie in der chirurgischen Abteilung die gerade operierten Frauen zu zweit in einem Bett lagen, weil sonst der Platz nicht reichte."

Seit drei Jahren arbeitet Mustafa neben seinem Studium im Nadim Zentrum. Einer unabhängigen Einrichtung, die formal als "Firma ohne Gewinne" angemeldet ist und von den Vereinten Nationen und verschiedenen Stiftungen finanziert wird. Er hört täglich Menschen zu, die in Polizeiwachen oder im Gefängnis geprügelt und gedemütigt wurden:

"Das Bild ist schwarz, es ist eigentlich gar kein Bild mehr da. Die Regierung, und insbesondere das Innenministerium, betrachtet uns nicht als Menschen. Und je weiter unten einer steht, je ärmer er ist, je schlechter gebildet; je einfacher er wohnt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihm Unrecht widerfährt. Es sei denn, er arbeitet selbst für die Polizei."

Die Polizei: das ist nicht nur der gutmütige und zutiefst korrupte Verkehrspolizist, das ist auch ein riesiger Sicherheitsapparat aus mehreren Geheimdiensten. Seit der Ermordung von Präsident Sadat 1981 herrscht im Land der Ausnahmezustand, der den Staatsschützern weitestgehende Freiheiten garantiert. Wenn Mustafa seinen Patienten den Rat gibt, sich ihr Recht zu erstreiten, weiß er gleichzeitig, dass dieser Versuch in vielen Fällen scheitert:

"Der Staat kann sich in jeden juristischen Prozess einmischen, und zwar mit den primitivsten Methoden: Beamte können den Kläger am Telefon bedrohen, sie können seine Frau und seine Kinder entführen, um ihn zu zwingen, die Klage zurückzuziehen. Vor ein paar Jahren gab es den Fall einer schwangeren Frau in der oberägyptischen Stadt el-Minia: Die Polizei ist in ihr Haus eingedrungen und hat sie geschlagen. Sie ist auf der Treppe gestürzt und verblutet. Und was wollten die Polizisten? Sie hatten ihren Mann schon festgenommen, und wollten nun, dass sie gesteht, wo sich ihr Schwager versteckt – denn er war der eigentlich Gesuchte."

"Die Mehrheit der Generation Mubarak hat aufgegeben: Die meisten sagen, so lange ich zu essen habe, ist alles in Ordnung. Sag einem: Träum! - und er antwortet, wovon? Sag ihm: Produzier was! - und er fragt: für wen? Sag ihm: Sei erfolgreich! - und er sagt: Ich bin satt, das reicht. Aber wenn du ihm sagst: Du hast nichts mehr zu essen, was willst du machen? Dann antwortet er: Ich werde mich gedulden!"

21. September 2010: Eine Gruppe Demonstranten aus verschiedensten Gesellschaftsschichten und Altersgruppen versammelt sich in der Kairoer Innenstadt, um gegen eine mögliche Machtvererbung zu demonstrieren: Sie befürchten, dass der 42-jährige Sohn von Präsident Mubarak, Gamal, das Amt des Vaters übernehmen könnte. Nieder mit Hosni Mubarak rufen sie, und: Nein zur Vererbung der Macht!

Frauen sind in der Unterzahl auf solchen Kundgebungen, mit gutem Grund. Immer wieder kommt es vor, dass Frauen auf Demonstrationen geschlagen werden, von weiblichen Sicherheitskräften, aber auch von Männern. Politische Aktivistinnen werden offen bedroht. Etwa indem die Mitarbeiter der Polizei bei den Eltern anrufen, um sie darüber zu informieren, dass im Falle einer Verhaftung der Tochter niemand die Verantwortung für das übernehmen könne, was dem Mädchen auf einer Polizeiwache zustoßen könne – allein unter all den Männern.

Die Öffentlichkeitsarbeit der Oppositionsbewegungen übernehmen daher eher die Männer.

Ahmad Maher:

"Ägypten hat ein Problem: Es gibt keine Planung. Mein Studium zum Beispiel hatte überhaupt keinen Bezug zur Realität. Wir haben zum Beispiel gelernt, dass für jede Stadt, die gebaut wird, erst die Bevölkerungsentwicklung untersucht werden muss: Wie viele Menschen werden in 20 Jahren hier wohnen? Wie viele Straßen brauchen wir dann? Probleme an Kreuzungen kann man durch Unterführungen lösen oder durch Brücken. Ampeln müssen in einer bestimmte Abfolge schalten, damit sie zueinander passen und der Verkehr fließt – das alles kann man berechnen, aber in Ägypten passiert nichts dergleichen.
Der Verkehr wird hier an allen Ecken eingeschränkt und gleichzeitig brechen alle die Regeln, einfach mit Bestechungsgeldern. Es gibt hier auch keine politische Planung, überhaupt keine zentrale Verwaltung. Die fehlende Planung ist das größte Problem hier. Alles, was gemacht wird, sind nur Beruhigungsmittel, denn das Wichtigste für die Herrschenden ist die Stabilisierung ihres Regimes, sie wollen an der Macht bleiben, nicht Probleme lösen oder einen fortschrittlichen Staat aufbauen."

Wir treffen uns in einem Café, in dem nur junge Leute sitzen: Mädchen mit bunten Kopftüchern essen Donuts, ein Paar sitzt leise redend in der Ecke, ein junger Mann beugt sich über seinen Laptop. Alle stammen mindestens aus der oberen Mittelschicht, denn hier kostet der Milchkaffee mehr, als eine Durchschnittsfamilie am Tag für Essen ausgibt.

Ahmad Maher hat eine gute Schule besucht und studiert. 2005 gründete er die Jugendorganisation der Bewegung Kifaya, wurde festgenommen und saß zwei Monate im Gefängnis. Als Grund für seine Festnahme nannten die Sicherheitskräfte "Präsidentenbeleidigung" und "Anzetteln einer unerlaubten Versammlung". Verurteilt wurde Ahmad nie. Während der Haft kam ihm zuweilen der Gedanke, alles hinzuschmeißen:

"Ich habe durch die Haft meinen Job verloren. Ich war erschöpft, habe mich gefragt: Warum werde ich geschlagen und gefoltert, und niemand merkt eigentlich, was ich mache. Sie haben mich zwei Tage lang geschlagen. Am Anfang hatte ich große Angst. Doch dann habe ich verstanden, dass sie mich einschüchtern wollen. Sie haben mich wie einen Terroristen behandelt: mir die Augen verbunden und die Hände gefesselt. Doch das hat mich gerade ermutigt. Es war wie im Film: Erst kommt der böse Cop, schimpft und schlägt, dann kommt der gute, und sagt: Was hat man denn mit dir gemacht, komm, lass uns reden, Freunde sein. Ich habe durchschaut, dass dieser Auftritt inszeniert war. Plötzlich wurde mir klar, dass der Geheimdienstoffizier sehr viel Geld damit verdient, dass er mich am Demonstrieren hindert. Es ist sein Job, bestimmte Leute zu schützen, und meiner, genau diese Leute zu bekämpfen. Denn ich bin davon überzeugt, dass das Problem des Landes die Korruption ist, die nächste Diktatur hier heißt Korruption."

Es blieb nicht bei dieser einen Festnahme: Immer wieder wird Ahmad Maher abgeführt, bleibt einige Stunden oder ein paar Tage in Haft, und wird wieder freigelassen. Wie viele seiner Mitstreiter. Die Regierung bekämpft die Opposition, indem sie sie einschüchtert und gleichzeitig ihre Arbeit behindert.

Im Oktober verabschiedete das Informationsministerium ein Gesetz, dass das massenhafte Verschicken von Text-Botschaften auf Mobiltelefone nur noch eingetragenen Parteien erlaubt. Damit wurde den Aktivisten der Generation Mubarak ein wichtiges Kommunikationsmedium genommen. Denn wer keine Partei gründet, keine Mitgliederlisten führt, ist darauf angewiesen, viele Menschen schnell und unbürokratisch erreichen zu können.

Ahmad Maher: "Wir sind Jugendliche, wir haben keine Parteien, kein Büro, sondern Facebook ist unser Standort. Wenn wir eine Versammlung einberufen wollen, haben wir keinen Ort dafür. Also treffen wir uns bei Facebook in einer Yahoo-Gruppe oder über Skype. Wenn jemand verhaftet worden ist, dann können wir diese Nachricht über Twitter ganz schnell überall in Ägypten und auf der ganzen Welt verbreiten."

Mustafa Hussein meint: "Ich und meine Generation haben zunächst geglaubt, es sei Frage des Geldes. Wenn ich hier in Ägypten einen gut bezahlten Job finde, brauche ich nicht auszuwandern. Aber inzwischen haben einige meiner Freunde geheiratet und Kinder bekommen, sie arbeiten viel und verdienen gut, wollen aber trotzdem weg. Warum? Die Lebensqualität stimmt nicht, auch nicht für die Wenigen, die das Glück haben, genug zu verdienen. Sie können sich nicht verwirklichen. Wer sich hier selbst verwirklichen will, der muss erst das Regime ändern, das ist der einzige Weg."

Shady al-Ghazali: "Wir werden durch alte Regierungsformen und veraltete Ideen regiert, die nicht mehr funktionieren. Wir brauchen ein neues Denken, nicht das, mit dem der Präsidentensohn Gamal Mubarak wirbt, sondern ein wirklich neues Denken. Wir sollten wirklich verstehen, was Demokratie bedeutet, was Liberalismus und was Kapitalismus. Nur mit den Jungen kann man diese Theorien wirklich umsetzen. Aber wir brauchen Zeit. Und solange wir von der Generation unserer Großvätern regiert werden, können wir nicht anfangen. Die Alten müssen das Regime verlassen, damit wir die ersten Schritte auf dem richtigen Weg gehen können."

Auch die Generation Mubarak geht nicht zur Wahl und engagiert sich in den seltensten Fällen in Parteien. Sie sind aktiv aber unabhängig, "freischaffende Oppositionelle" nennt sie Shady al-Ghazali Harb. Ihre vielen kleinen Gruppen tragen Variationen der Worte Demokratie, Freiheit und Wandel im Titel, und sind untereinander vernetzt. Was sie eint, ist die Ablehnung des Systems. Eine politische Alternative allerdings, oder die Vision eines idealen Ägypten, können sie nicht formulieren. Noch nicht. Auf die Frage, was sich in ihrem Land ändern sollte, nennen sie Dinge, die jeder Mensch für sich ändern kann:

Mustafa Hussein: "Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll ... doch: das Ansehen der Regimekritiker sollte sich ändern. Es ist schwierig, das Regime zu verändern, aber ich wünsche mir, dass normale Bürger die Aktivisten nicht als Außenseiter betrachten, als Leute, die Probleme suchen und deshalb ihrerseits von der Polizei verfolgt werden. Ich glaube, wenn dieses Stigma weg wäre, könnten sich Tausende der Bewegung anschließen."

Mubarak – heißt wörtlich übersetzt: gesegnet. Und gesegnet ist sie, die Generation Mubarak: mit Bildung, Weltoffenheit, Fantasie und Mut. Ihre Sprechchöre klingen wie Gedichte oder Sprechgesang, ihre Webseiten bringen die Leser zum Lachen und wenn die Staatssicherheit ihnen den einen Kommunikationsweg abschneidet, bahnen sie sich einfach einen neuen. Vielleicht macht all dieses die Regierung so nervös: Improvisierende Tänzer sind viel schwerer zu stoppen, als marschierende Soldaten.
Straßenszene in Kairo
Straßenszene in Kairo© Deutschlandradio / Cornelia Sachse
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