Gene bestimmen Intelligenz - und auch wieder nicht

16.01.2012
Intelligenz ist erblich, die Gene bestimmen aber nur ein Potenzial, keinen festen IQ-Wert. Zu diesem Schluss kommt Dieter E. Zimmer und liefert mit sachlichen Kapiteln über Intelligenz den Anhängern von Thilo Sarrazin genauso Munition wie Anti-Sarrazinisten.
Ja, dieses Buch stellt klar: Intelligenz ist in großem Maße erblich; hinzu kommen Umwelteinflüsse.

"Aussagen wie 'Ich verdanke drei Viertel meiner Intelligenz meinen Genen' sind trotzdem so unsinnig wie 'Mein Durchschnittsalter ist 35 Jahre'",

unterstreicht Dieter E. Zimmer. Erblichkeit ist nämlich ein wissenschaftlicher Begriff, und zwar für eine "relative Größe, die nur ausdrückt, in welchem Verhältnis genetische und nichtgenetische Varianzquellen zueinander stehen". Und nun müsste man über Varianz reden, über Kovarianz, Korrelation, Standardabweichung und Normalverteilung. Zimmer tut das. Sein Werk, das auf Aufsätze aus den letzten Jahrzehnten zurückgreift, verfolgt vor allem diesen Zweck: Die hiesige Diskussion an den Stand der Wissenschaft an die Verhaltensgenetik heranzuführen.

"Dieses Buch hat einen Anlass, den ich bedauere", beginnt Zimmer und referiert die Argumente, mit denen wichtige SPD-Politiker nach der Erscheinung von Deutschland schafft sich ab den Parteiausschluss Thilos Sarrazins betrieben haben.

"Weder Intelligenz noch irgendeine Charaktereigenschaft sind genetisch vorgezeichnet, Biologie spielt im Leben des Menschen keine Rolle",

fasst Zimmer die Überzeugung "der SPD-Spitze" krass überpointiert zusammen und wettert gegen anonym bleibende "Kulturisten", die hinter naturwissenschaftlichen Erkenntnissen immer gleich "Rassismus" wittern. Sobald Zimmer allerdings zur Sache selbst kommt, hören die Überzeichnungen auf, der Ton wird sachlich und konzentriert. Zimmer führt in die - für Fragen der Erblichkeit bedeutende - Zwillingsforschung ein. Er verfolgt die Geschichte des IQ-Tests (die Menschheit wird immer klüger) und verteidigt ihn als "ein unverzichtbares Diagnose- und Forschungswerkzeug" in der klinischen Psychologie. Er erklärt das Altern der biometrischen Intelligenz. Das zentrale Kapitel heißt "Das g-hirn". g bezeichnet die intellektuelle Grundfähigkeit, auf der alle weiteren Leistungen basieren und die von drei Variablen abhängt: dem Hirnvolumen, der Gehirnschnelligkeit und der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses. Zimmer glaubt, dass die Hirnforschung einst genau zeigen kann, was g ist und damit den Kern der Intelligenz.

Irgendwann taucht Sarrazin noch einmal auf. Zimmer weist ihm Widersprüche nach. Einmal führe Sarrazin den relativen Misserfolg muslimischer Migranten auf Erbfaktoren zurück ("Gene"), dann wieder auf die kulturell-religiöse Prägung. Zimmer nimmt beide Thesen ernst, hält sie nach der Datenlage aber für empirisch unbeweisbar. Im Kapitel "Heikel, heikler, am heikelsten", in dem es um die explosive Frage geht, ob "Rasse" und Intelligenz korrelieren, sagt Zimmer selber nichts und stellt nur kontroverse wissenschaftliche Zitate nebeneinander.

Und das Endergebnis? Erblichkeit spielt naturgemäß eine wichtige Rolle. Intelligenzsteigerungen durch Förderung sind in der Kindheit möglich, erhalten sich aber meist nur in bescheidenem Maße bis ins Erwachsenenalter. Was die Gene indessen vorbestimmen, ist kein fester IQ-Wert, sondern ein Potenzial:

"Sehr günstige Umstände erlauben seine volle Ausschöpfung, sehr ungünstige lassen ihn verkümmern."

Vorhersehbar ist, dass sowohl Sarrazinisten als auch Anti-Sarrazinisten bei Dieter E. Zimmer gleichermaßen neue Munition für ihre Scharmützel erbeuten werden. Das Biologie keine Rolle spielt im Leben des Menschen, das war, ist und bleibt natürlich Quatsch.

Besprochen von Arno Orzessek

Dieter E. Zimmer: "Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung"
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012
316 Seiten, 19,95 Euro
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