Genderforschung

Die Wut der Frauen

Eine junge Frau auf einer Treppe tritt wütend nach unten.
Frauen sind genauso häufig ärgerlich wie Männer, zeigen es aber wohl seltener. © chromorange / dpa
Von Pia Rauschenberger · 07.02.2019
Frauen, die Wut zeigen, müssen mit negativen Konsequenzen rechnen. Denn ihr Ärger wird eher auf ihre Persönlichkeit geschoben. Bei Männern werden äußere Umstände geltend gemacht. Besteht eine gesellschaftliche Schieflage, was unsere Gefühle betrifft?
Ich brauche eine neue Kieferschiene. Ich knirsche nachts mit den Zähnen. Und damit bin ich Teil einer größeren Gemeinschaft von Menschen, die unter Bruxismus leiden. So heißt das, wenn man nachts die Zähne aufeinander reibt. So sehr, dass die Zähne und das Kiefergelenk darunter leiden. Aktuelle Zahlen der Siemensbetriebskrankenkasse sagen, dass Frauen beinah doppelt so häufig solche Kieferschienen erhalten wie Männer. Meine Zahnärztin beobachtet teilweise extreme Formen dieser Krankheit.
"Wir haben schon manche Patientinnen, die Termine absagen, weil sie Kiefergelenksbeschwerden haben und den Mund nicht so lange öffnen wollen."
Patientinnen. Frauen, die nachts mit den Zähnen knirschen, weil sie tagsüber nicht… ja, was? Ihre Gefühle ausdrücken können, ihre Wut zeigen können? Mehrere Studien aus den USA belegen, dass Frauen, die ihren Ärger zeigen, mit negativen Konsequenzen rechnen müssen, zum Beispiel nicht so gerne eingestellt werden. Das sagt eine Studie von Jessica M. Salerno und Kollegen aus dem Jahr 2018 über Anwälte.
Victoria Brescoll und ihre Kollegen haben herausgefunden, dass Ärger bei Frauen eher auf ihre Persönlichkeit geschoben wird, bei Männern eher auf äußere Umstände. Müssen Frauen deshalb ihren Ärger nach innen kehren und ihre Zähne kaputt machen? Ist die Gesellschaft schuld an meinem nächtlichen Zähneknirschen?

"Ich versuche, das immer schnell zu verdrängen"

"Wann waren Sie zuletzt wütend? Beziehungsweise, warum?"
"Oh Gott. Ich versuche, das immer schnell zu verdrängen, weil ich Wut nicht für ein sehr gutes Gefühl halte."
"Ich glaube, ich war das letzte Mal wütend, als der BVG-Bus mir vor der Nase weggefahren ist. Weil: Ich bin gerannt und wie das so ist, die Tür ging vor der Nase zu und einfach losgefahren und man denkt sich so: Die Sekunde hätte er auch noch warten können."
"Ich hab vor ein paar Stunden mein Zeugnis bekommen. Also nein, ich war nicht wütend, traurig eher. Wütend war ich länger nicht mehr. Ist gar nicht so einfach. Nein, das ist keine richtige Wut. Das ist eher Trauer."

Die Wut gegen sich selbst richten

Gar nicht so einfach, ja, dieses Wütend-Sein. Und wie viele Frauen sind eigentlich traurig, obwohl sie wütend sein könnten? Ich treffe Anita Timpe. Sie ist Psychotherapeutin und gibt Workshops zum Thema Wut.
"Frauen haben oft das Thema, dass sie entweder gar keine Wut spüren oder aber schon Wut spüren und dann nicht wissen, wohin damit – und es gegen sich selbst richten."
Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen erklärt sich Timpe durch die Erziehung zu bestimmten Rollen.

"Es gibt bei Frauen manchmal das Bild, wenn ich wütend werde, dann verlasse ich diese Rolle als liebe, nette, harmonische Frau und werde dann vielleicht nicht mehr so angenommen. Also diese Angst, die ist ja auch manchmal real. Das ist ja nicht nur eine Angst, sondern das passiert ja auch."

Frauen und Männer ärgern sich gleich viel

Wie diese gesellschaftlichen Stereotype genau funktionieren, Ursula Hess hat das untersucht. Sie ist Emotionsforscherin und Professorin an der Humboldt-Universität in Berlin.
"Das kann man auch sehr gut belegen, wenn man zum Beispiel Männer und Frauen fragt, ob Männer oder Frauen eher Ärger zeigen, und dann sind sie sich sehr einig, dass Männer eher Ärger zeigen und Frauen eher alle Emotionen zeigen außer Ärger – und dass Männer mehr Ärger zeigen."
Frauen zeigen weniger Ärger. Das heißt allerdings nicht, dass sie auch weniger ärgerlich sind.
"Wenn wir Forschung machen zum Thema Ärger, sehen wir kaum Unterschiede. Also, wenn wir Männer und Frauen ärgern, dann sind die Männer und Frauen ärgerlich und zwar in sehr ähnlicher Art und Weise."

Wer dominant aussieht, dem wird eher Ärger zugestanden

"Wenn Sie mich das jetzt so fragen, denke ich als erstes an die Ungerechtigkeit, die es noch gibt, was echte Gleichberechtigung angeht. Darauf bin ich grundsätzlich wütend."
Frauen sind wütend - aus ganz verschiedenen Gründen. Aber sie zeigen es nicht. Das heißt, irgendwo auf dem Weg geht der Ärger der Frauen verloren, im Gegensatz zu den Männern. Und es ist noch etwas komplizierter, sagt Ursula Hess. Wenn eine Person nämlich dominant aussieht, dann wird ihr eher zugestanden, Ärger zu zeigen.
"Und so als Gruppe sehen Frauen in der Regel weniger dominant aus. Und haben die tatsächlichen morphologischen Signale, die wir mit Dominanz verbinden, überlappen sehr stark mit denen, die wir mit Männlichkeit verbinden. Also zum Beispiel viereckiges Kinn oder relativ kleinere Augen oder Augenbrauen, die auch ein bisschen mehr vorstehen, hohe Stirn."

Wer so aussieht, darf also eher ärgerlich sein. Ursula Hess hat in einem Experiment Bilder von dominant aussehenden Männern und Frauen gezeigt und von solchen, die submissiv aussehen, das heißt: eher unterwürfig.
"Und dann haben wir den Versuchspersonen das Bild gezeigt und haben gesagt, hier das ist Anne oder Mark. Und Anne oder Mark haben gerade gehört, dass ihr Auto vandalisiert wurde."
Ein guter Grund, um wütend zu sein, für alle. Das wurde allerdings nur bei den dominant aussehenden Personen erwartet. Da gab es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Gut für die dominante Frau, könnte man jetzt denken. Bei ihr wird immerhin erwartet, dass sie Wut zeigt. Aber, nur zu einem Preis.
"Wir hatten auch so ein Likeability, wie sympathisch findet man die Person. Und da stellte sich tatsächlich heraus, dass drei Personen ungefähr ähnlich sympathisch empfunden wurden, die beiden Männer und die submissive Frau. Und eine Person wurde anders beurteilt, und das war die dominante Frau. Und die wurde deutlich weniger sympathisch empfunden."

Wut zu zeigen, ist nicht erwünscht

"Und wie zeigen Sie Ihre Wut, wenn Sie sie zeigen?"
"Indem ich brülle. Ja, und hinterher schäme ich mich ein bisschen."
"Ich zeige ungern meine Wut öffentlich."
"Ich glaube, ich habe auch was Lautes gerufen. Also jetzt auch nichts Wildes oder so. Aber: Oh man oder so."
Es wird noch ein bisschen komplexer: Frauen, die ihren Ärger vornehm zurückhalten, werden auch eher negativ bewertet. Das haben Ursula Hess und Kollegen in einer Studie 2015 herausgefunden. Wenn Frauen sich in einer Situation, in der sie Wut und Trauer zeigen könnten, nur eine Sekunde später emotional reagieren, erleben Versuchspersonen diese Frauen als weniger emotional kompetent, obwohl Frauen eigentlich emotional intelligenter wahrgenommen werden als Männer.
"Da könnte man sagen: naja gut. Wenn die emotional intelligenter sind, dann sind ihre spontanen Reaktionen schon irgendwie die richtigen. Und wenn Männer emotional weniger intelligent sind, dann müssen sie also nochmal eine Runde nachdenken, bevor sie emotional reagieren."
Also: Es wird zwar angenommen, dass Frauen Wut empfinden. Wut zu zeigen, wird aber nicht erwünscht. Wenn Frauen generell ihre Emotionen zeigen, dann am liebsten immer sofort, spontan, das gilt dann als authentisch. Ich finde: Das ist ein ziemlich enger emotionaler Korridor, in dem sich Frauen da bewegen. Vielleicht ein Grund, um einfach mal wütend zu sein.
Das findet auch die Psychotherapeutin Anita Timpe, weil "das an sich ein wertvolles und wichtiges Gefühl ist. Und wenn man damit gut umgehen kann, dass das dann auch wirklich hilft, Situationen im eigenen Leben zu verbessern."
Anita Timpe rät, die Wut erstmal zu akzeptieren und dann bewusst rauszulassen, um eigene Grenzen zu setzen. Vielleicht kann ich dann ja bald auch die Kieferschiene im Badezimmerschrank lassen.
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