Gender am Ende?

Frauen, Männer und die neue Vielfalt

Männer- und Frauen-Verhalten wird nicht (nur) von der Biologie bestimmt.
Männer- und Frauen-Verhalten wird nicht (nur) von der Biologie bestimmt. © picture alliance / dpa / Jan Woitas
Von Gaby Mayr · 17.10.2016
Der Ausdruck wurde von den Sozialwissenschaften eingeführt. Er soll beschreiben, dass Männerrollen und Frauenverhalten nicht nur von der Biologie bestimmt werden. Doch inzwischen ist "Gender" zum Kampfbegriff in Politik und Wissenschaft geworden. Steckt mehr dahinter als nur Besitzstandswahrung?
ProfessorInnen, die zu Genderfragen forschen, werden beschimpft, und bei den grün-schwarzen Koalitionsverhandlungen in Baden-Württemberg wurde mühsam darum gerungen, ob das Wort "Gender" in den Vereinbarung vorkommen darf. Nein, das Wort blieb draußen.
Die Auseinandersetzung ist andauernd und erbittert, denn es geht um viel! Um Bequemlichkeiten, um Privilegien, um die Macht.
Zwar bestreitet heute in Deutschland niemand mehr, dass Frauen studieren können. Aber es ist vermintes Terrain, ob der Staat im Namen der Gleichberechtigung dafür sorgen muss, dass mehr Frauen in Vorstände aufrücken, und ob Väter genauso gut für ihre kleinen Kinder sorgen können wie Mütter.
Rechte und manche Konservative kämpfen angestrengt um die Alleinstellung traditioneller Familien, um Frauen- und Männerbilder aus dem 19. Jahrhundert, und sie erhalten dabei Schützenhilfe von einigen Wissenschaftlern.
Auf der anderen Seite ziehen die Festumzüge der Homosexuellen am Christopher Street Day immer mehr Menschen an, Weltkonzerne beteiligen sich mit eigenen Trucks an den Paraden, und die Genderforschung liefert vielfältige Ergebnisse, wie Geschlechterdifferenzen konstruiert werden.

Das Manuskript zum Feature in voller Länge:
Die Nabelschnur ist kaum durchgeschnitten, da wird den erschöpften Eltern das Geschlecht ihres Kindes mitgeteilt. So ist es Tradition.
Heute, in Zeiten von Schwangerschaftsvorsorge per Ultraschall, wissen die werdenden Eltern meist schon lange vor der Geburt, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird.
Das Geschlecht, so scheint es, ist die wichtigste Information über einen neu geborenen Menschen. Das Geschlecht prägt das Leben. Blau oder pink. Das heißt nicht selten auch: Nummer eins oder Nummer zwei.
Bernd Meier, Journalist aus Bremen: "Wir waren in München, meine Frau ist Patentante von Zwillingsmädchen. Und da bin ich mit gewesen, und wir waren zur Einschulung in dieser kleinen Volksschule. Und als dann die 40 Kinder, die dort etwa saßen, mit ihren Tüten in den ersten Reihen, auf die beiden Klassen verteilt wurden, und es wurden aufgerufen die Schüler der Klasse 1A zunächst. Ein Junge wurde aufgerufen, noch einer, noch einer, noch einer. Und ich dachte mir: Sollte das in Bayern so sein, dass die noch die Kinder verteilen, eine Jungsklasse und eine Mädchenklasse? Nein, so war es nicht. Als acht oder neun Jungs dort standen, kamen die Mädchen dran. Ein Mädchen nach dem andern, bis die Klasse vollständig war. Und nach genau dem gleichen Muster wurde die Klasse 1B nach vorne gerufen."
Der Journalist aus Norddeutschland wunderte sich - und fragte die Schulleiterin: Wie kommt das denn, dass Sie hier zuerst nur die Jungs aufrufen und dann erst die Mädchen? Ja, sagt sie, die stehen alle bei uns in dieser Reihenfolge im Computer.
- Geschlechterordnung im Computerprogramm.
- Aber auch: Unterschiedliche Auswirkungen von Stadtplanung auf Frauen und Männer.
- Und: Wie geht medizinische Forschung mit Geschlechterunterschieden um?
- Welche Rolle spielt das Steuerrecht für die Berufstätigkeit verheirateter Frauen und warum verdienen Männer im Durchschnitt mehr als Frauen?
- Außerdem: Vorstellungen vom Körper - vom Frauenkörper und vom Männerkörper.
Das sind einige Themen, mit denen sich Wissenschaft beschäftigt: Die "Gender Studies" untersuchen Geschlechterverhältnisse auf allen möglichen Gebieten. "Gender" ist Englisch für Geschlecht jenseits des biologischen Geschlechts - es meint seine Bedeutung in Wirtschaft und Politik, in Gesellschaft und Kultur.
Katharina Pühl, gelernte Philosophin und jetzt bei der Rosa Luxemburg-Stiftung zuständig für Genderfragen: "Sicherlich geht es nicht darum zu sagen, dass biologische Grundlagen nicht auch ein Thema sind, wenn wir über Geschlechter reden. Aber in der Geschlechterfrage geht es ja um sehr viel mehr. Es geht um Ungleichheiten."
Etwa 0,4 Prozent der Professuren an deutschen Hochschulen beschäftigen sich - ganz oder teilweise - mit Genderfragen. Das scheint nicht viel angesichts der Bedeutung von Geschlecht. Trotzdem werden die Gender Studies massiv angegriffen.
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München-Schwabing: In einem Jugendstil-Mietshaus ist das Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität untergebracht. An den Wänden des Treppenhauses hängen Schwarzweiß-Fotos von Größen des Fachs. Im dritten Stock liegt das Büro von Paula Villa.
Die Soziologieprofessorin hat einen Morgentermin vorgeschlagen - es sind Ferien, Schule und Kita haben geschlossen, die Kinder sind nur für wenige Stunden versorgt. Villa lehrt und forscht zum Verhältnis der Geschlechter. Wer besucht ihre Veranstaltungen?
"Es ist ein Querschnitt aus Studierenden der Sozialwissenschaften, Politikwissenschaft beispielsweise, Kommunikationswissenschaft und Kultur-, Geisteswissenschaften. Ich hab kontinuierlich einen kleinen interessanten Anteil von Studierenden aus den Naturwissenschaften, vorrangig aus der Medizin, immer wieder auch Biologie. Es gibt auch viele Männer, die bei mir studieren, bei uns am Lehrbereich sind's 70/30 weiblich/männlich."
Dass Gender-Themen nur etwas für Frauen seien, behaupten Gegner der Gender Studies gerne. Dabei ist der Männeranteil in Gender-Veranstaltungen ähnlich wie, sagen wir, in Psychologievorlesungen. Und natürlich gibt es auch männliche "Gender-Professoren".
Trotz des hohen wissenschaftlichen Anspruchs: Die Soziologieprofessorin mit Schwerpunkt Gender Studies sieht sich heftigen Attacken ausgesetzt.
"Das wird alles diffamiert und diskreditiert, oder es wird jedenfalls versucht, über eine Sprache, die eben so spricht mit 'Lehrstuhlbesetzerin', und 'sogenannte' Wissenschaftlerin, und wo ich, wie viele Kolleginnen und auch Kollegen, adressiert werde als eine, die eigentlich gar nichts an der Uni zu suchen hat, eigentlich gar nicht Wissenschaft macht."

Die rüdesten Angriffe erreichen die Professorin, oft anonym, auf elektronischem Weg: per Mail, über Blogs und auf Facebook. Aber auch in der realen Welt wird die Wissenschaft, die sich mit den Geschlechterverhältnissen beschäftigt, infrage gestellt - von politischen Gruppen und Parteien. Der Streit ist so zugespitzt, dass die Berliner Landeszentrale für Politische Bildung vor der jüngsten Abgeordnetenhauswahl ihren Wahlomaten mit einer entsprechenden Frage bestückte:
"An Berliner Hochschulen soll es weiterhin Geschlechterstudien (Gender Studies) geben. - Stimme zu - neutral - stimme nicht zu."
Kein anderes Wissenschaftsgebiet polarisiert derart, dass es zur Parteiprofilierung dient.

"Das hat schon viel damit zu tun, dass es kulturell offenbar legitim erscheint, Frauen abzuwerten"

Sabine Hark ist Professorin für Geschlechterforschung an der Technischen Universität Berlin. Wir sind in der Lobby vor einer Bibliothek verabredet. Die Hochschullehrerin ist mit dem Fahrrad durchs dichte Berliner Verkehrsgewühl gekommen. Sie nennt zwei Gründe für die massiven Attacken auf die Gender Studies: "Das hat schon viel damit zu tun, dass es kulturell offenbar legitim erscheint, Frauen abzuwerten. Das übersetzt sich durchaus auch in die Wissenschaft. Dann ist es so, dass viele zunächst glauben, naja, was kann's denn da schon zu wissen geben? Es gibt doch Männer und Frauen, und wie die so sind, das wissen wir doch alle. Bei der Geschlechterforschung kommen die Abwertung von Frauen und die Vorstellung von 'Geschlecht ist so alltäglich, das braucht man nicht wissenschaftlich zu untersuchen', zusammen, die diesen extremen, negativen, abwertenden Beiklang haben."
Als Professorin an einer Technischen Universität bietet Sabine Hark Lehrveranstaltungen an, die etwa den Zusammenhang zwischen Technikentwicklung und Geschlecht behandeln. Auch der Alltag der Studierenden beeinflusst das Lehrprogramm: Informatikstudierende wollen zum Beispiel wissen, warum viele Computerspiele so sexistisch sind - weibliche Figuren kommen entweder gar nicht vor, oder sie sind sehr sexuell aufgeladen.
Zusammen mit Paula Villa hat Sabine Hark das Buch "Anti-Genderismus" herausgegeben, eine Auseinandersetzung mit den Gender-Gegnern in Europa. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit "Männern und Frauen in der Wissenschaft":
"Wir versuchen zu verstehen, warum wir in bestimmten Fächern immer noch so wenige Frauen haben. Warum die Karrierewege zwischen Männern und Frauen in der Wissenschaft so unterschiedlich sind."
Erst seit gut einhundert Jahren dürfen Frauen in Deutschland studieren. Gegen den Widerstand von Männern erkämpften sie sich den Zugang zu den Universitäten. Der Physiker Max Planck, Namensgeber einer führenden deutschen Forschungsgesellschaft, meinte damals:
"Amazonen sind auch auf geistigem Gebiet naturwidrig (...). Im Allgemeinen kann man nicht stark genug betonen, dass die Natur selbst der Frau ihren Beruf als Mutter und als Hausfrau vorgeschrieben hat."
Heute ist die Hälfte der Studierenden weiblich. Studentinnen stellen die Mehrheit in den Kulturwissenschaften, aber auch in Jura, Medizin und Biologie. Und weil weibliche Studierende im Durchschnitt gute Noten erreichen, werden mittlerweile vor allem Frauen als Richterinnen und bei der Staatsanwaltschaft eingestellt. Denn die Justiz besetzt ihre Stellen strikt nach Noten - nach Leistung, könnte man auch sagen.
An den deutschen Hochschulen, in der Wissenschaft ist dagegen spätestens nach dem Doktorgrad Schluss mit dem Aufstieg der Frauen. Nur ein Fünftel der Professuren haben Wissenschaftlerinnen inne, bei den besonders gut ausgestatteten C4-Professuren ist es sogar nur gut ein Zehntel.
"Da stellen wir halt schon sehr deutlich noch fest, dass es Kompetenzvorstellungen, Kompetenzzuschreibungen gibt, die Männer bevorzugen. Dass Männern nach wie vor mehr Kompetenz zugeschrieben wird als Frauen, und das gilt dann eben auch in der Wissenschaft."
In Experimenten wurde nachgewiesen, wie Männer und Frauen ohne jeden sachlichen Grund unterschiedlich bewertet werden: Bewerbungen unter Männernamen wurden eher weiter bearbeitet, identische Bewerbungen unter Frauennamen eher aussortiert.
Entwicklungsbiologin und Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard hat die Folgen der gläsernen Decke für Frauen in der Wissenschaft schon 2004 auf den Punkt gebracht:
"Es ist ja ganz klar, dass Frauen es genauso gut können wie Männer, ich glaub, da gibt´s auch gar keine Debatten mehr. Aber sie haben doch einen etwas erschwerten Zugang, besonders zu leitenden Positionen, und das finde ich sehr schade. Es gehen der Forschung furchtbar viele Talente verloren, wenn Frauen nicht wirklich die gleichen Chancen haben."
Warum der Aufstieg von Frauen in der Wissenschaft so oft scheitert, bleibt also ein Thema für die Genderforschung. Die allerdings wird auch von Wissenschaftlern bekämpft. Zum Beispiel von Axel Meyer, Evolutionsbiologe an der Universität Konstanz. Meyer schreibt in seinem Buch "Adams Apfel und Evas Erbe":
"Dieses Buch [ist] auch ein Plädoyer für rationales, ja materialistisches Denken gegen hierzulande weit verbreiteten Hokuspokus wie etwa Anthroposophie, Homöopathie oder Genderstudies."
Ein Treffen zum Interview klappt nicht, wir müssen uns per Studioleitung unterhalten. Seine Arbeit beschreibt der Mittfünfziger so:
"Uns interessiert, die genetische Basis von Anpassung zu finden und die Genetik von Artenentstehung zu verstehen. Also sequenzieren wir Gene und Genome von Tieren, hauptsächlich von Fischen, machen genetische Experimente undsoweiter."
Zum Thema "Gender" kann der Evolutionsbiologe mit seinen Arbeiten eigentlich keinen Beitrag leisten. Denn selbst bei einfachen körperlichen Merkmalen ist eine Verbindung zu den Genen schwer herzustellen - schreibt Meyer:
"Von unterschiedlichen Gensequenzen bis zur unterschiedlichen Augenfarbe oder Körpergröße ist es ein weiter Weg, der bisher oft nur in Ansätzen verstanden ist."

Trotzdem nutzt Professor Meyer seine Möglichkeiten für Attacken: Gegen Gender Studies. Und gegen Gender Mainstreaming - das ist ein in vielen Ländern angewandtes Verfahren, wonach bei gleicher Qualifikation - und nur bei gleicher Qualifikation - Angehörige desjenigen Geschlechts bevorzugt eingestellt werden sollen, das in dem Bereich unterrepräsentiert ist. So wie es das Gleichberechtigungsgebot im Grundgesetz fordert.

"Frauen sind einfach super darin, sich als Opfer zu verkaufen"

Axel Meyer dagegen ist überzeugt, dass Männer benachteiligt werden - und sich nicht wehren: "Ich glaube, dass es zu wenig Männer gibt, die einfach sagen: Es reicht."
Der Konstanzer Evolutionsbiologe präzisiert: "Frauen sind einfach super darin, sich als Opfer zu verkaufen und Quoten für Aufsichtsratsvorsitzplätze zu haben oder für Professorinnen zu haben. Aber nicht für weibliche Müllfrauen oder für weibliche Soldatinnen. Sie müssen die Schizophrenie in dieser feministischen Ideologie schon sehen. Und die stößt natürlich Männern auf. Nur, die meisten Männer sehen sich nicht gerne als Opfer, und ich würde den Frauen unterstellen, dass sie sich gerne in dieser Opferrolle präsentieren."
Während des Interviews betont der Biologieprofessor mehrfach, wie wichtig ihm Statistiken sind. Hier also eine Zahl. In "seinem" Bundesland Baden-Württemberg sind 85 Prozent der Professuren mit Männern besetzt. Über Meyers Fachbereich Biologie an der Uni Konstanz teilt die dortige Pressestelle mit:
"Von 19 W3-Professuren sind - im August 2016 - gerade nur zwei mit Wissenschaftlerinnen besetzt, und das bei einem Frauenanteil von 59 Prozent bei abgeschlossenen Promotionen."
Über derartige Zahlen geht Axel Meyer flugs hinweg.
"Sie glauben gar nicht, wie viel Druck wir haben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von allen Seiten, Frauen einzustellen."
Dorothee Dzwonnek, Generalsekretärin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, widerspricht:
"Die Deutsche Forschungsgemeinschaft übt keinen Druck auf die Hochschulen oder Forschungseinrichtungen aus, mehr Frauen einzustellen. Sehr wohl aber - und mit Nachdruck - setzen wir uns für die Gleichstellung in der Wissenschaft ein."

Warum nimmt Evolutionsbiologe Meyer die Realitäten nicht zur Kenntnis? Und warum wird er geradezu ausfällig, wenn er in einer Institution wie dem Bundesforschungsministerium in höheren Positionen offenbar auf mehrere Frauen trifft:
"80 Prozent der Mitarbeiter sind Frauen. Bei Frau Schwesig im Familienministerium, 70 Prozent sind Frauen. Und ich will nicht wissen, welcher Prozentsatz lesbisch ist."
Auch Meyers eigenes Umfeld, das sogenannte MeyerLab, ist auf den oberen Etagen fest in Männerhand: Als Postdocs, das sind wissenschaftlich Beschäftige mit Doktortitel, arbeiten dort sechs Männer und eine Frau. Die Assistenzprofessuren sind mit zwei Männern besetzt - und Null Frauen.
Nachfrage beim Bayerischen Kultusministerium, warum bei der Einschulung an einer Münchner Grundschule die Kinder nach Geschlecht sortiert aufgerufen wurden, die Jungen vorneweg.
Antwort: "Die Schülerinnen und Schüler einer Klasse können in alphabetischer Reihenfolge ihres Familiennamens aufgelistet werden oder nach ihrem Geschlecht (...). Die Schulen entscheiden in ihrer pädagogischen Verantwortung, zu welchem Zweck sie welche Listen verwenden."
Bei "Gender" geht es heute nicht mehr nur um das Geschlechterverhältnis von Mann und Frau. Es geht um weitere Fragen: Was ist eine Frau? Was ist ein Mann? Und gibt es etwas jenseits einer strikten Zweiteilung der Geschlechter?

Pühl: "Die Trennung, dass es da doch eine vermeintlich eindeutige Biologie gäbe, die klar zwei und nur zwei und nicht mehr und keine anderen Geschlechter zulässt, ist ja angezählt."
Mann - Frau. Ernährer - Hausfrau. Nummer eins - Nummer zwei. In einigen Regionen der Welt kennt man schon lange mehr als zwei Geschlechter. Und auch bei uns ist das Leben nicht mehr so eindeutig.

Villa: "All diese Gegensätze sind im Alltag für die meisten Menschen sehr viel unklarer und sehr viel mehr Verhandlungssache und sehr viel mehr gestaltungsoffen als vielleicht Viele meinen."

Hark: "Diese Grenzziehungen werden brüchig, sie sind schwieriger aufrecht zu erhalten."
Zwei Frauen Hand in Hand. Zwei Männer, die sich küssen. Männer, die Kinderwagen schieben. Frauen, die Karriere machen. Transgender, die Geschlechtergrenzen überschreiten. Die Geschlechterwelt ist vielfältiger geworden.

Pühl: "Ich glaube schon, dass Gender oder Geschlechterverhältnisse so ein Aufreger sind, weil es aus dem vermeintlich so Alltäglich-Selbstverständlichen - das ist doch so, weil man Mann oder Frau ist - herausgeholt worden ist. Und insofern geht es immer um Deutungshoheiten und damit auch um Machtfragen."
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In Baden-Württemberg ist die Geschlechterwelt noch am ehesten so, wie sie im Westdeutschland der Nachkriegszeit war: Besonders viele Frauen sind nicht erwerbstätig, es gibt besonders wenige Kitas, und bei meinem Besuch in Stuttgart habe ich keinen einzigen Mann mit Kinderwagen oder Tragetuch gesehen.
Nun regiert in Stuttgart seit 2011 der Grüne Wilfried Kretschmann, zunächst mit der SPD, seit Mai 2016 mit der CDU. Die Grünen haben als erste Partei mit der Gleichstellung auch in den eigenen Reihen ernst gemacht, mit Doppelspitzen und abwechselnder Besetzung ihrer Listen mit Frauen und Männern. In ihren Programmen fordern sie Gleichstellung von Männern und Frauen, von Lesben, Schwulen und Transgender.
"Wir stehen nach wie vor klipp und klar für diese Position, was man übrigens auch im Koalitionsvertrag wiedersieht."
Brigitte Lösch ist grüne Landtagsabgeordnete und zuständig für sexuelle Minderheiten. Bei den Koalitionsverhandlungen mit der CDU war Lösch nicht dabei, aber sie sagt, sie sei zufrieden mit dem Ergebnis. Der Begriff "Gender" kommt im Koalitionsvertrag allerdings nicht mehr vor.
"Sie wissen, dass das Thema Gender zu einem Kampfbegriff geworden ist, zu einem ideologischen Kampfbegriff. Und um da differenzierter rangehen zu können und natürlich auch aus Rücksicht auf den Koalitionspartner, haben wir den Begriff 'Gender' im Koalitionsvertrag nicht verwendet."
Ein falsches Zurückweichen in Zeiten massiver Angriffe auf die Gleichstellungspolitik?
Natürlich sind Inhalte wichtig - Sprache und Symbole sind es allerdings auch. Das wissen die Gegner der Gleichstellungspolitik. Ein jüngerer CDU-Bundestagsabgeordneter aus Baden-Württemberg reagierte umgehend, als eine Twitter-Meldung aus der grün geführten Staatskanzlei in geschlechtergerechter Sprache formuliert war - also mit einem Sternchen, das anzeigen soll: Menschen jeder sexuellen Orientierung sind angesprochen! Der CDU-Nachwuchs-Mann in strengem Ton:
"Lassen Sie bitte endlich diese grüne Genderschreibweise in Landesregierungs-Tweets bleiben!"
Das sogenannte Gendersternchen ist seit 2015 nach einem Parteitagsbeschluss für die Grünen verbindlich.
Für den grünen Ministerpräsidenten ist der Streit um Gleichstellung dagegen offenbar kein besonderes Anliegen. Sein Sprecher: "Er guckt sich das an und belächelt es."

Wenn die Aussage dann tatsächlich kam, dass man das belächelt, dann finde ich das sehr schade. Alles was mit Frauenpolitik, mit Gender zu tun hat, das ist eine Top-Down-Geschichte, und da gehört Frauenpolitik und Genderpolitik für mich mit dazu, und zwar als wichtiges, prioritäres Thema.
Für den Koalitionspartner CDU bin ich mit Inge Gräßle verabredet, Europa-Abgeordnete und Vorsitzende im Haushaltskontrollausschuss. Gräßle war an den grünschwarzen Koalitionsverhandlungen beteiligt, allerdings nicht bis zuletzt - als "Gender" aus dem Koalitionsvertrag gestrichen wurde.
"Solche Dinge werden ja immer dann erst in letzter Stunde gemacht, wenn der Kreis sehr klein ist. Mir ist das dann auch hinterher aufgefallen, dass das als großer Sieg gefeiert wurde."
Die Mittfünfzigerin kommt verspätet zum Interview ins Café Künstlerbund in der Stuttgarter Innenstadt, sie entschuldigt sich mehrmals: Probleme mit dem Auto. Außerdem ist sie im Moment sehr eingespannt, sie muss die Versorgung der alten Eltern organisieren. Ihre Partei macht es ihr auch nicht leicht:
"Gender ist für mich ein alter Bekannter. Als Landesvorsitzende der Frauenunion in Baden-Württemberg ist es eine meiner Aufgaben, die Frauen in der Partei und auch in der Gesellschaft permanent nach vorne zu bringen und daran zu erinnern, dass diese Hälfte der Bevölkerung existiert und dass sie nicht nur gefragt sein will, wenn es um ehrenamtliche Tätigkeiten und Kuchen backen und Dabeisitzen geht, sondern dass sie gleichberechtigte Mitsprache und Einfluss haben will."

"Die jungen Männer fürchten, dass die Frauen ihnen die Butter vom Brot nehmen"

Für CDU-Politikerin Gräßle heißt "Gender": Frauenrechte. Aber "Kinder" denkt sie immer mit. Die Männer in ihrer Partei fühlen sich als Väter dagegen selten angesprochen:
"Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Debatte führen wir praktisch ausschließlich mit Frauen. Mit Männern nur dann, wenn sie selbst betroffen sind qua Familienorganisation - das ist nach wie vor eher selten der Fall."

Gegen gleiche Chancen positionieren sich vor allem junge CDU-Männer:
Grässle: "Die Junge Union ist nach wie vor ein Hauptgegner, was natürlich auch daran liegt, dass die jungen Männer fürchten, dass die Frauen ihnen die Butter vom Brot nehmen."
Tatsächlich ist von Frauenmacht im Südwesten wenig zu spüren: Im Landtag zum Beispiel sitzen 75 Prozent Männer.
"Ich leide sehr darunter, dass wir die Basics, die Grundlagen permanent erklären müssen. Zurzeit haben wir sowieso noch einen Tabubruch auf breiter Front beim Gender-Thema, weil natürlich die AfD dieses Thema massiv aufgegriffen hat. Die Art und Weise, wie sie damit umgeht führt zu Tabubrüchen. Plötzlich sagen auch unsere Männer wieder Dinge, die sie vor drei Jahren noch nicht gesagt hätten."
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Eine Veranstaltung der Alternative für Deutschland im niedersächsischen Harburg. Jörg Meuthen, Parteivorsitzender und Mitglied des baden-württembergischen Landtags spricht, auch zu "Gender". Es gehört zu den Schlagworten an denen sich AfD-Redner regelmäßig abarbeiten, so wie "Flüchtlinge" und "Angela Merkel". Trotz der Bedeutung des Themas für seine Partei stellt der Vorsitzende zu Beginn des Interviews vor der Veranstaltung klar:
"Sie haben mit mir keinen ausgewiesenen Gender-Experten vor sich. Meine Zeit ist mir dazu auch zu kostbar, mich damit in aller Tiefe zu befassen."
Für Professor Meuthen, der bis zu seinem Umstieg in die Politik an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl unterrichtete, ist dennoch unstrittig:
"Gender Mainstreaming ist eine Politikform, die wir für komplett absurd halten."
Auch Meuthen ist also, wie dem Evolutionsbiologen Meyer aus Konstanz, die Besetzung von Stellen ganz wichtig.
"Weil da ist natürlich ein staatlicher Zwang dahinter, der dann zu mehr oder minder abstrusen Maßnahmen führt, die sich dann übrigens auch zu einer Diskriminierung gegen Männer auswachsen können, und das ist ja nun etwas, was sehr häufig auch geschieht."
Meuthen nennt als Beispiel die Berufungsverfahren auf Professorenstellen während seiner Zeit als Hochschullehrer:
"Ich habe immer wieder erlebt, dass der Faktor Frau hier eben sehr, sehr stark sich auswirkte in den Verfahren."
Nachfrage beim Rektor der Hochschule, Professor Paul Witt, zum "Faktor Frau" bei Berufungen:
"Bei Professorenberufungen werden Frauen bei gleicher Eignung bevorzugt (aber nur bei gleicher Eignung!). Das liegt daran, dass der Frauenanteil an Professoren unter 50 Prozent liegt. Wir haben einen Frauenanteil von 18 Prozent."

Konkurrenz um ordentlich dotierte, unkündbare, mit einem gewissen Renommee versehene Positionen

Was die Gender-Gegner antreibt, wird auch hier wieder deutlich: Es geht um Abwehr von Konkurrenz. Konkurrenz zum Beispiel um ordentlich dotierte, unkündbare, mit einem gewissen Renommee versehene Positionen. Allein die Aussicht, dass es um bisher unstrittige Zugänge nun Wettbewerb geben könnte und dass Posten und Privilegien nicht mehr nur innerhalb der eigenen Gruppe verteilt werden, erzeugt Widerstand. Auch Häme und Aggression.
Die alten Mechanismen werden dabei einfach nicht wahrgenommen.
Meuthen: "Ich kenne keine Männernetzwerke."
Zum erbittert ausgefochtenen Streit um Gender gehört auch beim AfD-Vorsitzenden die Sprache. Sprache heißt immer: Sichtbarkeit. "Die Studenten" ist Plural von "der Student". "Die Studentin" komme in dem Plural nicht vor, lautet eine verbreitete Kritik. "Die Studierenden" - das klingt nach einer einfachen Lösung, die Männer und Frauen anspricht. Sie hat sich, jedenfalls an Hochschulen, vielerorts durchgesetzt. Jörg Meuthen sieht Geldverschwendung im Namen von Gender am Werk:
"Wenn das Studentenwerk Freiburg für 60.000 Euro in Studierendenwerk umbenannt wird, wer zahlt das? Und das ist ein Projekt, das im Landeshaushalt da mit 60.000 Euro pro Studentenwerk zu Buche schlägt."
Nachfrage beim baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst.
"Die Summe, die Herr Meuthen genannt hat, entbehrt jeder Grundlage. Es gibt überhaupt keinen Betrag, der im Landeshaushalt für die Umstellung der Begrifflichkeit in 'Studierendenwerk' eingestellt wurde. Die Landesregierung hat die Studierendenwerke ausdrücklich angehalten, bei der Umstellung ganz pragmatisch vorzugehen (...). Briefbögen, Visitenkarten, Schilder sollen erst dann ausgetauscht bzw. erneuert werden, wenn sie aufgebraucht oder kaputt sind."
Jörg Meuthen nennt ein weiteres, ganz persönliches Beispiel:
"Es stört mich, dass ich zum Beispiel wie bei Facebook nur als PolitikerIn annonciert werden kann, bei Facebook bin ich PolitikerIn, mit großem Binnen-I."

Das sogenannte Binnen-I wurde vor Jahren eingeführt, zuerst bei der Tageszeitung "taz" und bei den Grünen, um zu signalisieren, dass Mann und Frau gleichermaßen angesprochen werden.
"Mit Verlaub, Sie hören es an der Stimme, Sie sehen's, da wir miteinander sprechen, Sie stehen einem Mann gegenüber."
Was will der AfD-Vorsitzende damit sagen? Dass er es als Mann nicht erträgt, seinen Namen in einer Rubrik zu lesen, deren Überschrift Frauen genauso anspricht? Geht es den Anti-Gender-Kämpfern in Wahrheit darum, dass Männer in jedem Fall - in der Sprache, bei Symbolen und bei den Jobs - die Nummer eins bleiben?
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Der Streit um Gender tobt - dabei geht es auch ganz anders. Am Christopher Street Day, dem Feier-Tag der Homosexuellen in aller Welt, ist in Stuttgart ein Truck von Daimler mit dabei. Nichts Besonderes für Ursula Schwarzenbart, seit über zehn Jahren verantwortlich für die weltweite Personalentwicklung und für Vielfalt - Diversity - im Konzern.
"Wir haben unterschiedliche Dimensionen von Vielfalt im Unternehmen. Als global agierendes Unternehmen hat man natürlich nicht nur Genderthemen, sondern insbesondere auch das Thema Internationalität wie auch Generationen."
Alle Beschäftigten sollen sich angesprochen und akzeptiert fühlen, so die Daimler-Devise. Aus wohlverstandenem Eigeninteresse, natürlich. Denn mittlerweile ist unstrittig, dass vielfältig zusammengesetzte Teams und Unternehmen leistungsstärker sind.
"Insgesamt betreiben wir das Thema, weil es wirtschaftlich Sinn für unser Unternehmen macht, und vor diesem Hintergrund können wir das sehr unaufgeregt betrachten, auch das Gender-Thema."

Der Konzern will alle ansprechen - zum Beispiel die "Kolleginnen und Kollegen" oder die "Studierenden".
"Es ist für jeden Menschen wichtig, dass er sich angesprochen fühlt, und da wir nun mal zwei Geschlechter auf dieser Welt haben, finde ich es sehr berechtigt, wenn man über größere Gruppen spricht, dass man sowohl die weibliche wie die männliche Form wählt."

Firmendelegationen aus Deutschland sind mit ihren Riegen hellhäutiger Anzugträger nicht mehr dem aktuellen Stand

Daimler hat ein deutlich technisches Profil, früher gab es kaum Frauen in leitenden Positionen. Seit 2006 gibt es eine Zielvereinbarung, deren Anteil jedes Jahr um einen Prozentpunkt zu erhöhen. Das hat geklappt, momentan liegt der Anteil der weiblichen Führungskräfte bei 16 Prozent. Die Vereinbarung gilt bis 2020.
Mit seiner strikten Politik der Vielfalt war Daimler in Deutschland vorne dran. Das ist auch gut fürs internationale Parkett, wo Firmendelegationen aus Deutschland mit ihren Riegen hellhäutiger Anzugträger nicht mehr dem aktuellen Stand moderner Unternehmensführung entsprechen. Aber auch bei Daimler ist Vielfalt kein Selbstläufer:
"Das ist kein harmonisches Thema, das ist kein Spaziergang, das ist eher ein Marathon. Wir haben auch schon Personen aus dem Unternehmen leider herausbegleiten müssen, weil sie sich überhaupt nicht mit dem Kodex, der in diesem Hause wichtig ist, anfreunden konnten."

Dennoch: Die Zukunft liegt in der Vielfalt. Und Gender ist nicht am Ende. Im Gegenteil.
Geschlechtergerechte Einstellungspolitik wird sich trotz Anfeindungen weiter durchsetzen - denn unterschiedliche Sichtweisen sind besser als nur ein Blickwinkel.
Und sonst? Männer besetzen nicht nur deutlich mehr Spitzenpositionen, sie sterben auch früher. Sie bevölkern Gefängnisse und liefern sich tödliche Autorennen. Jungs sind heute im Durchschnitt schlechter in der Schule, aber bei den Amokläufern sind sie unter sich. Sie wachsen in eine Gesellschaft hinein, die ihnen auf vielfältige Weise signalisiert: Als Junge bist du die Nummer 1. Das führt nicht selten zur Selbstüberschätzung. Und schlimmstenfalls, wenn die Enttäuschungen und Kränkungen im Leben überhand nehmen, womöglich zu Gewaltausbrüchen. Auch das viel Stoff für die Gender Studies.