Gemeinsam einsam

Von Andre Zantow · 05.06.2012
Am kommenden Freitag beginnt das erste sportliche Großereignis im ehemaligen Ostblock - die Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine. Im Vorfeld gab es allerdings auch Szenen wie in einer Ehekrise. Die EM-Gastgeber vermittelten zeitweise den Eindruck, als fänden im Sommer zwei völlig verschiedene Turniere statt.
Ein Großraum-Büro im Zentrum Warschaus. Frisch eingerichtet, so sieht es aus - jung, modern, hell - wie in einem Möbel-Katalog. Einige Mitarbeiter haben über ihre Stuhl-Lehnen Fußball-Trikots gezogen. An den Wänden hängen ausgeschnittene Zeitungsartikel. Sie berichten über die großen Infrastruktur-Projekte für die Fußball-Europameisterschaft.

Adam Olkowicz: "Allein die Vorbereitungsmaßnahmen in Polen haben 20 Milliarden Euro gekostet. Wir haben unter anderem drei neue Stadien gebaut, über 1500 Kilometer Schnellstraßen und Autobahnen in Auftrag gegeben, dazu sechs neue Terminals auf Flughäfen gebaut und 200 neue Hotels."

Adam Olkowicz spricht gerne über die Forschritte in seinem Land. Der kleine Mann, Ende 60 kennt sie besser als jeder Zeitungsmacher. Olkowicz ist der Vize-Präsident des Polnischen Fußball-Verbandes – ein Funktionär der alten Schule. Mit dunklem Anzug, oft getragen, Krawatte und weißem Hemd steht er im Konferenzsaal des Großraumbüros. Kerzengerade. Haltung ist ihm wichtig. Die Hände faltet er vor dem Bauch zusammen, fast so, als wolle er etwas beichten.

Adam Olkowicz: "Seit 2003 denken wir daran, als Austragungsort gewählt zu werden. Die Kollegen aus der Ukraine haben dann diesen Vorschlag gemacht, dass wir gemeinsam versuchen, um die Ausrichtung zu kämpfen."

Nun - neun Jahre später - ist es soweit. Polen und die Ukraine sind Gastgeber der Fußball-Europameisterschaft. Zusammen, wobei sie das Turnier nicht gemeinsam vorbereiten. Jedes Land hat sein eigenes Organisations-Komitee. Das Polnische leitet Adam Olkowicz. Ihm sind über 200 Mitarbeiter unterstellt. Die arbeiten unter Hochdruck: Drei Wochen lang blickt die Welt auf Polen. Drei Wochen lang soll alles glatt gehen. Danach wird das Büro wieder geschlossen.

Die Mitarbeiter bereiten die Spielorte für die Fans vor, wählen die Tausenden freiwilligen Helfer aus und kümmern sich um die "Team Base Camps". So heißen die möglichen Unterkünfte der 16 teilnehmenden Mannschaften.

Adam Olkowicz: "Von 16 Mannschaften haben 13 ihr Quartier in Polen gewählt. Das ist erstmals so geschehen. Bei dem Turnier in der Schweiz und Österreich haben jeweils acht Mannschaften in einem Land gewohnt."

Bei diesem Turnier haben nur drei Mannschaften ihr Quartier in der Ukraine gewählt: Neben dem Gastgeber sind das Frankreich und Schweden. Alle anderen Teams wollten ihr Trainingsgelände und das Hotel in Polen haben. Auch die Deutsche Mannschaft hat sich für Danzig entschieden. Warum? Darüber möchte der polnische Organisations-Chef Adam Olkowicz nichts Genaues sagen.

Nur keine Provokation gegenüber dem Partner. Die EM hat längst politische Bedeutung. Sie ist ein Wettkampf geworden, zwischen einer Ex-Sowjet-Republik und einem ehemaligen Ostblock-Staat, die beide unterschiedliche Wege gegangen sind in den letzten 20 Jahren.

Polen sieht sich als überzeugtes EU-Mitglied im Herzen Europas. Die Ukraine verbindet trotz Westorientierung viel mit Russland. Die EM wirkt nun als Katalysator und zeigt deutlich die Unterschiede. Zumindest das Motto des Fußball-Turniers verspricht Einigkeit. Es heißt "Creating history together", "Gemeinsam Geschichte schreiben".

Zwei die nicht nur in der Theorie sondern auch in der Praxis gemeinsam Geschichte schreiben sind Alina und Micle. Als im Februar Tausende Polen nach Warschau kamen – zur Eröffnungsfeier ihres neuen EM-Stadions bei Minus 15 Grad - ist das polnisch-ukrainische Pärchen mit von der Partie. Sie wollen sich das rot-weiße Schmuck-Kästchen ansehen. Das Pärchen könnte auch als Maskottchen für diese EM auftreten.

Sie aus der Ukraine – er aus Polen. Obwohl Micle eigentlich gar nicht an Fußball interessiert ist, aber der 30-Jährige mit rundem Bauch und rundem Gesicht ist stolz was Polen mit eigenem Geld gebaut hat. Europäischer Standard sei das. Nun kann der Besuch aus dem Ausland kommen.

Micle: "Alle Leute auf der Welt werden von Polen hören. Letzte Ferien war ich in Spanien und ich wollte etwas zu essen kaufen und ein Mann fragte mich wo ich her komme. Ich sagte: Polen. Dann fragte er mich, wo dieses Land auf der Karte ist? Das fand ich echt komisch, denn ich weiß wo Spanien liegt. Ich hoffe, die EM kann da was ändern."

Micle gibt sich viel Mühe alles genau zu erklären. Er lernt gerade Englisch. Erkundigt sich nach seiner Aussprache. Hält dabei immer seine zierliche Freundin fest im Arm. Alina ist 23 Jahre alt und würde gerne etwas über ihr Land und die EM sagen, aber ihr Englisch genügt nicht.

"”Sorry, I don’t speak Englisch good. Sorry. No. No. I can’t.”"

Auf der Bühne des EM-Stadions steht die polnische Rockband Zakopower. Mit bunten Kostümen und lauten Gitarren heizen sie den zitternden Besuchern auf dem Spielfeld ein. Micle will nun seiner Freundin helfen und erzählt über ihre gemeinsamen Erfahrungen in der Ukraine.
Micle: "Für die Ukraine ist es sehr wichtig. Das Land ist in einer sehr schwierigen politischen Situation. Russland und die EU kämpfen um die Ukraine. Ich glaube die EM ist eine Chance für die Ukraine an Europa teilzunehmen."

Micle würde es freuen, wenn die Ukraine diese Möglichkeit nutzt. Schon alleine wegen Alina. Als Ukrainerin muss sie ständig Visa beantragen, um nach Polen zu reisen. Das ist schwierig, teuer und kostet unglaublich viel Zeit. Kein Europäischer Standard, sind sich die beiden sicher. Polen hat immer befürwortet, dass sich die Ukraine an die EU annähert.

Mit Hilfe der EM hätten die beiden Länder eng zusammenarbeiten können. Das haben sie kaum genutzt muss Joanna Mucha zugeben. Sie ist die Sportministerin in Polen und damit im Kabinett von Ministerpräsident Tusk zuständig für die Europameisterschaft. Aber beim Stichwort Ukraine muss Frau Mucha tief durchatmen.

Joanna Mucha: "Beide Länder müssen dieselben Erwartungen erfüllen, die an sie gestellt werden, wegen der EM. Beide Länder arbeiten hier eigenständig und bereiten sich getrennt auf die Europameisterschaft vor. Die Einwände, die man zu diesem Thema hören konnte, betrafen vor allem die Ukraine. Das tut uns deswegen auch Leid. Wir haben keine große Möglichkeit etwas zu beeinflussen. Was wir gemeinsam unternehmen sind zum Beispiel die Maßnahmen zur Zollabfertigung an der polnisch-ukrainischen Grenze. Ein anderer Punkt ist die gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit. Da würde ich der Ukraine und Polen die Note zwei Minus geben, das heißt wir könnten noch mehr tun."

Wer wissen will, warum Polen und die Ukraine die EM überhaupt gemeinsam austragen, muss das Regierungsviertel in Warschau verlassen und mit dem Auto über die Weichsel fahren – in den strukturschwachen Süd-Osten Polens.

In Städten wie Lublin oder Pszemysl weiß jeder Student was Polen und die Ukraine miteinander verbindet: Ihre gemeinsame Geschichte, geprägt sowohl von Grausamkeit als auch Einigkeit. Polen und Ukrainer lebten lange zusammen. Hier in Galizien – einer Region im Süd-Osten Polens und dem angrenzenden Westen der Ukraine. Einer ländlichen Gegend – mit viel Natur, maroden Landstraßen und kaum Industrie. Bis zum 18. Jahrhundert lebten die Bewohner Galiziens unter polnischer Herrschaft.

Dann begannen Preußen, Österreich und Russland ganz Polen unter sich aufzuteilen. Galizien fiel an die Österreicher. Porträts von Kaiser Franz hängen in einigen Gaststätten noch immer an der Wand. Teils aus touristischen Gründen, teils weil sich die Bewohner dem Kaiserreich wirklich noch nahe fühlen. Über 140 Jahre dauerte die Fremdherrschaft und als Hauptstadt fungierte damals Lemberg. Bis zum Ersten Weltkrieg.

Dann zerfiel das Habsburgerreich – und in Galizien begann der Machtkampf. Polen und Ukrainer, die jahrhundertelang friedlich nebeneinander gelebt hatten, begannen 1918 einen Krieg. Zehntausende starben. Bis zum Zweiten Weltkrieg behielten die polnischen Truppen die Oberhand. Dann teilte die Sowjetunion Galizien auf. Im Westen lebten mehrheitlich Polen – im Osten mehrheitlich Ukrainer.

Etwa 530 Kilometer ist die polnisch-ukrainische Grenze lang. Fünf Übergänge gibt es. Der meist frequentierte liegt in Medyka. Einem kleinen Dorf im äußersten Süd-Osten Polens - mit gut 2000 Einwohnern und schlechten Landstraßen. Jeden Tag fahren hier hunderte Polen und Ukrainer entlang, um einzukaufen und ihre Freunde und Verwandten auf der anderen Seite zu besuchen. Jetzt, im Juni, rechnen die Grenzbeamten mit Tausenden Fußball-Fans.

Marcin Pempusch: "Für mich ist es ein neues Abenteuer. Auf jeden Fall. Viele neue Erfahrungen mit unterschiedlichen Menschen, die über die Grenze kommen."

Der polnische Grenzbeamte Marcin Pempusch freut sich auf die EM. Trotz der Überstunden. Während des Turniers werden in Medyka etwa 25.000 Menschen pro Tag erwartet. Doppelt so viele wie sonst. Deswegen wurden 100 zusätzliche Kontrolleure angeheuert und Urlaubssperren verhängt.

Marcin Pempusch: "Als normaler Grenzbeamter muss ich sagen, haben wir große Fortschritte gemacht, wir sind jetzt vorbereitet! Zumindest unsere Seite. Und was ich von der Ukraine sehe – die haben sich auch verbessert. Wir sind alle gut vorbereitet."

Marcin Pempusch denkt positiv. Auch wenn er nicht genau weiß, was die Kollegen auf der anderen Seite machen. Jeder arbeitet in Medyka für sich. Das bedeutet für die deutschen Fussball-Fans, die nach Lemberg fahren – sie werden erst von polnischen Beamten kontrolliert und dann noch mal von ukrainischen.

Rechtlich ist das völlig korrekt. So will es das Schengener Abkommen. Schließlich ist Polen eine EU-Außengrenze – Europameisterschaft hin oder her. Aber sieht so eine gelungene Partnerschaft aus? Polen und die Ukraine trennt einiges. Allein die Züge müssen stundenlang umgesetzt werden, weil die Gleise in beiden Ländern unterschiedlich breit sind. Und auch die Grenzbeamten sind nicht kompatibel. Sie arbeiten hundert Meter voneinander entfernt, verstehen aber oft nicht die Sprache der Kollegen.

Deswegen gibt es für die EM extra Sprachkurse, gemeinsame Workshops und ein kleines polnisch-ukrainisches Wörterbuch. So haben sich die sich die Grenzer in Medyka etwas angenähert. Ein erster Schritt, mehr nicht. Die Idee für ein gemeinsames EM-Turnier hätten sie wohl nie gehabt. Da braucht es mehr.

Etwa 100 Kilometer östlich der Grenze, in der Ukraine, liegt Lemberg. Hier ist die Europäische Union weit weg – genauso wie Zloty und lateinische Buchstaben. In der Ukraine bezahlt man mit Griwna und schreibt kyrillische Zeichen, wie im Russischen. Trotzdem ist in Lemberg Polen allgegenwärtig.

Lemberg ist die ehemalige Hauptstadt Galiziens. Bis zum Zweiten Weltkrieg lebten hier mehr Polen als Ukrainer, im Gegensatz zum Rest Ost-Galiziens. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Sowjetunion hier mehrheitlich Ukrainer angesiedelt. Die polnischen Wurzeln sind geblieben.

Im Stadtzentrum von Lemberg liegt der Adam-Mickiewicz-Platz. Und in dessen Mitte das 21 Meter hohe Adam-Mickiewicz-Denkmal. Zwei Ehrungen für den wichtigsten polnischen Dichter – mitten in der Ukraine. Das zeigt den besonderen Status von Lemberg. Die Vergangenheit darf lebendig bleiben. Dafür sorgt auch die polnische Minderheit in der Stadt. Erst 2009 hat sie den ersten polnischen Fußball-Club neu gegründet. Der Fußball scheint einiges vor zu haben mit Lemberg. Auch 2003 ereignete sich hier etwas Historisches:

"Als man in der Oper von Lemberg den 110. Geburtstag des ukrainischen Fußball-Verbandes feierte, hat man sich gedacht, man könnte sich für die Europameisterschaft bewerben und Lemberg als Austragungsort vorschlagen."

Andriy Sadovyi ist der Bürgermeister von Lemberg – eine fußball-verrückte Stadt, meint der Politiker.

"Nach den Feierlichkeiten in der Oper musste der ukrainische Fußball-Verband noch innerhalb eines halben Jahres die polnischen Kollegen überzeugen, sich zu bewerben."

Es hat geklappt, Hartnäckigkeit zahlt sich aus – jetzt findet sie statt die EM, die Top-Teams Europas reisen nach Polen und in die Ukraine und werden nicht nur in Lemberg mit offenen Armen empfangen. Ob es sich allerdings um eine gelungene ukrainisch-polnische Mannschaftsaufstellung handelt, weiß auch der Trainer immer erst hinterher. Das Zusammenspiel in der ersten Halbzeit auf jeden Fall war eher einsam als gemeinsam.