Gemälde, die von der Astralwelt kündigen

18.06.2013
Erfordert das umfangreiche Werk der schwedischen Malerin Hilma af Klint die Neuordnung der Kunstgeschichte? Oder bleibt sie "eine isolierte, wenn auch faszinierende Anomalie"? Auf diese Frage gibt die jetzt auf Deutsch erschienene Monografie keine Antwort – und das aus gutem Grund.
1936 entwarf Alfred Barr für seine maßgebliche Ausstellung Cubism and Abstract Art ein Diagramm. Darin veranschaulichte der Gründungsdirektor des MoMA in New York nicht einfach nur den schrittweisen Übergang von gegenständlicher zu abstrakter Kunst. Vielmehr trennte er zwei parallele Entwicklungslinien: geometrische Abstraktion einerseits und nicht-geometrische Abstraktion andererseits.

Wo hätte die Ausnahmekünstlerin Hilma af Klint in diesem Spektrum ihren Platz gefunden, hätte man sie gekannt? Das fragt David Lomas, einer der vier Autoren. Die Antwort fällt nicht leicht und das ist bezeichnend. 1916, und damit ein gutes Jahr nach Malewitschs schwarzer Ikone, malt die 1862 geborene, schwedische Malerin Hilma af Klint ein schlichtes gelbes Quadrat.

Es ist das reduzierteste Blatt in einer Serie, die dieses Grundelement einer Reihe von Variationen unterwirft. Doch af Klints Augenmerk gilt nicht formalen Analysen. Die Reinheit künstlerischer Mittel ist genauso wenig ihr Ziel, wie die Absage an Repräsentation. Das Interesse der Pionierin abstrakter Malerei gilt durchaus der Darstellung, aber jener einer höheren Welt. Denn die begnadete Zeichnerin, die mit Landschaften und Porträts, vorallem aber mit präzisen botanischen Studien ihre Laufbahn begann, erhält im Alter von 42 Jahren während einer Séance einen Auftrag: Als Medium soll sie Gemälde schaffen, die von der Astralwelt künden.

Ab diesem Zeitpunkt, es ist das Jahr 1906, entsteht in einer so ungewöhnlichen wie fruchtbaren Zusammenarbeit mit den "hohen Meistern" ihr umfangreiches Hauptwerk und es beginnt mit dem Schritt in die Abstraktion. Diesen Schritt vollzieht sie nicht nur sehr früh, sondern auch ungewöhnlich. Denn die höheren Wesen befahlen ihr weder expressive Wildheit, noch geometrische Strenge, sondern einen Symbolismus, der zwischen verschlüsselter Bedeutungsschwere und ornamentaler Auflösung hin und her springt.

Die Künstlerin hielt dieses große Konvolut unter Verschluss. Erst zwanzig Jahre nach ihrem Tod sei die Zeit dafür reif. Aber es sollten siebzig Jahre bis zur Retrospektive des Stockholmer Modern Museet verstreichen, die jetzt im Hamburger Bahnhof in Berlin Station macht und die das ungewöhnliche Werk erstmals umfassend vorstellt. Was die Ausstellung auf der Ebene der Anschauung leistet, vollzieht die begleitende Publikation auf dem Gebiet kunstwissenschaftlicher Grundlagenarbeit.

Damit ist das Feld bereitet, aber es ist noch längst nicht bemessen. Während Helmut Zander die historischen Rahmenbedingungen und Kerngedanken der theosophischen Bewegung nachzeichnet, aus der Rudolf Steiner als Leitfigur der Künstlerin hervorging, widmet sich Pascal Rousseau den Fragen von Autorschaft und Geschlechtlichkeit im mediatisierten Schaffen. David Lomas untersucht das vegetabile Ornament an der Schnittstelle von botanischer Studie zu freier Abstraktion.

Diese interessanten Beiträge zeigen, dass das starke spiritualistische Interesse um die Jahrhundertwende eng mit naturwissenschaftlichen Entdeckungen, wie den elektromagnetischen Wellen, und neuen Kommunikationstechniken verbunden ist. Aber sie machen auch deutlich, dass die Verleihung des umkämpften Pokals an den Sieger oder die Siegerin der Abstraktion nur bedingt sinnvoll ist. Denn hier würde ein Wettstreit geehrt, der nicht geführt wurde. Wir haben es nicht so sehr mit chronologischen Schritten auf das gemeinsame Ziel "Abstraktion" zu tun, als vielmehr mit getrennten Anliegen, die eine formale Parallele teilen.

Besprochen von Dorothée Brill

Iris Müller-Westermann, Jo Widoff (Hrsg): Hilma af Klint - Eine Pionierin der Abstraktion
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2013
296 Seiten, 39,80 Euro
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