Gelebte Spiritualität als Weg zur Gewaltlosigkeit

Rezensiert von Susanne Mack · 19.07.2006
Die Lebensleistung des Mahatma Gandhi wurzelt in einer tief empfundenen Spiritualität. Gandhi war bekennender Hindu, und für ihn war der Hinduismus nicht nur eine Religion, sondern gleichzeitig Philosophie und eine Anleitung zu politischem Handeln. In einem schmalen Büchlein sind verschiedene Zeitungsartikel Ghandis über Hinduismus aus den 20er und 30er Jahren versammelt.
"Warum ich ein Hindu bin" - Mahatma Gandhi, der führende Kopf der indischen Unabhängigkeitsbewegung, fühlt sich zu einer Erklärung genötigt und veröffentlicht sie 1927 in der Zeitschrift "Young India". Denn Gandhi hat Verehrer in aller Welt: Christen, die wissen: Gandhi schätzt das Christentum. Und die sich wundern, denn tausende christliche Missionare sind in Indien unterwegs und sie erreichen - fast nichts. Mahatma Gandhi weiß warum:

"Hätten diese Missionare Abstand davon genommen, Indien die Lehre Christi 'zu verkündigen' und einfach das Leben gelebt, das ihnen die Bergpredigt vorschreibt, dann wüsste Indien sie auch zu würdigen. Ich glaube nicht daran, anderen Menschen den eigenen Glauben zu verkünden, und schon gar nicht in missionierender Absicht. Einen Glauben kann man nicht verkünden. Er muss gelebt werden, dann wird er sich von selbst verbreiten. Im Hinduismus ist genügend Platz für Jesus, ebenso wie für Mohammed, Zoroaster und Moses. Für mich sind die verschiedenen Religionen schöne Blumen aus demselben Garten oder Äste desselben majestätischen Baumes."

Jede der großen, tief gedachten Religionen enthält in sich die ganze Wahrheit: die ganze Wahrheit über Gott und die Welt und über das Wesen des Menschen. Jeder Kulturkreis formuliert diese Wahrheit nur in einer anderen Gestalt. - Mahatma Gandhi:

"Ich bin Hindu geworden, weil ich in einer hinduistischen Familie groß geworden bin. Später gab es eine Zeit, in der ich zwischen dem Hinduismus und dem Christentum schwankte. Ich bin schließlich Hindu geblieben, weil ich erkannt habe: Der Hinduismus ist die toleranteste unter den Religionen, die ich kenne. Er ist frei von Dogmen. Es gibt ein paar heilige Schriften - die Veden, die Upanishaden, die Bhagavad Gita, und mit ihrer Hilfe kann jeder seinen eigenen Weg der Erleuchtung finden."

Gandhi selbst hat sein persönliches Glaubensbekenntnis den Upanishaden entnommen. Dort heißt es:

"Gott, der Herrscher, durchdringt alles, was da ist in diesem Universum. Erfreue Dich an allem, was er Dir gibt. Trachte nicht nach Reichtum. Und nicht nach dem Besitz der anderen."

Mahatma Gandhi ist überzeugt: Wenn alle Menschen auf der Welt diese Botschaft als ein Mantra täglich wiederholen und danach leben, dann ist die Erde ein glücklicher Planet. Denn alle psychischen Leiden - Ängste, Neurosen - aber auch alle politischen Katastrophen wurzeln, so Gandhi, in einem Mangel an echter Spiritualität. In einem Mangel an Gottvertrauen. Und darum in einem Mangel an Liebe: Liebe zu aller Kreatur: zu sich selbst, zu den Mitmenschen, aber auch zu den Pflanzen und den Tieren.

"Der Hinduismus glaubt an die Einheit nicht nur allen menschlichen Lebens, sondern an die Einheit all dessen, was lebt. Der große Glaube an die Seelenwanderung ist eine unmittelbare Konsequenz aus dieser Überzeugung."

Genauso wie das Gebot, sich jeglicher Gewalt zu enthalten. Denn wer eine tiefe spirituelle Verbindung fühlt mit allen Lebewesen, der wird einer anderen Seele nichts zuleide tun.

"Gewaltlosigkeit ist allen Religionen eigen, aber im Hinduismus ist sie zu höchster Anwendung gelangt."

Allerdings, schreibt Gandhi: Ein gläubiger Hindu verzichtet nicht nur auf Gewalt-Aktionen, oft verzichtet er auf Aktion überhaupt. Die Inder fügen sich gern in ihr politisches Schicksal, denn weltliche Leiden werden als geistige Prüfungen verstanden. Motto: eine große Seele ist groß im Dulden, die Welt ist nicht so wichtig, der Geist ist alles.

In dieser Sache nun ist Mahatma Gandhi ein hinduistischer Protestant: Er will den "politischen Hinduismus", denn er ist überzeugt: Wer glaubt an Gottes Anwesenheit in aller Kreatur, wer sich stark macht für die Liebe und das Mitgefühl, der muss sich auch stark machen gegen etwas: gegen den Hunger, gegen das Kastenwesen in Indien und zuerst und vor allem gegen die Willkür der britischen Kolonialmacht.

"Denn Gott ist Ethik und Moral. Gott ist Furchtlosigkeit, Gott ist das Gewissen. Gott ist der größte Demokrat, den die Welt kennt, denn er stellt uns frei, zwischen gut und böse zu wählen. Lasst uns nach seiner Flöte tanzen, und alles wird gut."


Mahatma Gandhi: Was ist Hinduismus?
Übersetzt von Ursula Gräfe
Insel Verlag 2006,
140 Seiten, 7,50 Euro