„Gelassenheit“

Rezensiert von Dr. Thomas Kroll |
Konkrete Wege zur Gelassenheit zeigen die Autoren erst am Ende des Buches. Zuvor nehmen beide den Leser mit auf eine Zeitreise und schlagen einen Bogen von den Griechen bis in die Gegenwart.
Allabendlich eine gute Zigarre, dazu ein Glas Wein – das war meines Vaters jugendlicher Traum vom Glück nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft. Sicher, ein Bild des Genusses. Auch eine Vision des Gelassenseins?

Gelassensein, so Dieter Voigt und Sabine Meck anfangs ihres Buches, „lässt sich erfahren, aber nicht beschreiben und nur schwer erklären. Das Wort steht für ein Geheimnis, für den Sinn unseres Lebens – für das Höchste, was wir erreichen können.“

Glück hat man; gelassen muss man werden. Bevor die Autoren im zehnseitigen Schlusskapitel konkrete Wege zur Gelassenheit aufzeigen, nehmen sie die Leser mit auf eine Zeitreise. Die ist der Theorie gewidmet und macht dem Buchtitel gemäß mit Geschichte und Bedeutung des Begriffs „Gelassenheit“ vertraut.

Die alten Griechen waren auf der Suche nach Wohlgemutheit und seelenvoller Gemütsruhe. Davon zeugt u.a. das Meeresgleichnis, das Epikur zugeschrieben wird: „Wie man die Ruhe des Meeres daran erkennt, dass nicht der kleinste Lufthauch die Fluten bewegt, so sieht man den ruhigen und friedlichen Zustand der Seele daran, dass keine Leidenschaft da ist, die ihn zu stören vermag.“

In der Bibel entdecken die Autoren weitere für ihr Thema relevante Spuren. Kohelet – „Windhauch, das ist alles Windhauch“ – ist in ihren Augen ein Meister dessen, was wir heute unter Gelassenheit verstehen. Die eigentliche Quelle für die spätere Wortschöpfung „Gelassenheit“ sehen sie in Jesu Worten: „Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen.“ (Mt 19,27)

Das deutsche Wort „Gelassenheit“ sowie „das ihm eigene innewohnende Verständnis sind ein Kind der christlichen Mystik des Spätmittelalters.“ Die einzigartige und im Grunde unübersetzbare sprachliche Neuschöpfung geht vermutlich auf Meister Eckhart zurück. Für ihn ist Gelassenheit die Freitreppe zu Gott. Seine mystische Sichtweise auf die Welt und ein davon inspirierter Lebensstil bringen grundsätzliche Fragen mit sich, denen Voigt und Meck einzelne Kapitel widmen: Was sind Grenzen und Möglichkeiten unseres Bewusstseins? Wozu dienen wissenschaftliche Erkenntnis und mystisches Erfahren? Und: Welche Zusammenhänge bestehen „zwischen Intelligenz, Bildung, Erziehung und Besitz auf der einen und Gelassenheit auf der anderen Seite?“

Dem emeritierten Soziologieprofessor und der freien Wissenschaftsjournalistin ist ein gut lesbares und leicht verständliches Buch gelungen. Neben philosophischen und theologischen Aspekten kommen kulturhistorische und psychologische nicht zu kurz. Für die interdisziplinäre Bearbeitung des Themas werden zahlreiche Quellen herangezogen, auch die moderne Literatur. „Gelassen stieg die Nacht an Land, lehnt träumend an der Berge Wand“ – faszinierende Metaphern zu Beginn von Mörikes Gedicht Um Mitternacht.

Zurück zur Praxis: Um gelassen zu werden, um Gelassenheit zu fördern, ist konzentriertes Arbeiten an sich selbst, ist alles Üben im Alltag hilfreich, das bewusst und beharrlich geschieht. Wer sich von außen leiten lässt, so die Autoren, läuft Gefahr, von Hektik und Scheinbedürfnissen beherrscht zu werden. Wege wie Schweigen, Achtsamkeit, Wahrnehmen des Atems und der Gedanken führen dagegen ins Innere und zielen letztlich auf Selbsttranszendenz, auf Selbstlassen. Meister Eckart erklärt: „Lässt der Mensch von sich selbst ab, was er dann auch behält, sei’s Reichtum oder Ehre oder was immer, so hat er alles gelassen.“ So gesehen, hat mein gealterter Vater immer wieder eine Chance – bei einer schmackhaften Zigarre und einem Glas guten Weins.

Dieter Voigt / Sabine Meck: Gelassenheit. Geschichte und Bedeutung,
Primus Verlag: Darmstadt 2005,
208 S., 16,90 Euro