Gekonnt durch die Midlife-Crisis
Cunninghams fünfter Roman erzählt von einer Midlife-Crisis, deren Ende bezaubernd offen bleibt: beginnt alles ganz neu, ein bisschen neu, oder bleibt es dann doch beim Alten? "In die Nacht hinein" ist sehr klug, sehr schön und sehr lesenwert.
Michael Cunningham, geboren 1952, lebt in New York und Provincetown und unterrichtet Creative Writing. Mit seinem preisgekrönten, verfilmten Roman "Die Stunden" – eine grandiose Hommage an Virginia Woolf - wurde er weltberühmt. Nun hat er seinen fünften Roman veröffentlicht, der zeitgleich auch auf Deutsch erschienen ist.
"In die Nacht hinein" erzählt von einer Midlife-Crisis, deren Ende bezaubernd offen bleibt: beginnt alles ganz neu, ein bisschen neu, oder bleibt es dann doch beim Alten? Peter Harris ist Mitte vierzig und betreibt erfolgreich eine Galerie für zeitgenössische Kunst in New York. Mit seiner Frau Rebecca, der Gründerin und Herausgeberin einer Kunstzeitschrift, bewohnt er ein schickes Loft in SoHo; beider Tochter, eine mürrische junge Frau, ist längst aus dem Haus. Inmitten der Vorbereitung einer neuen Ausstellung, der Akquise eines neuen Künstlers, dem Verhandeln mit einer verwöhnten Kundin, quält ihn die Frage nach dem Sinn seines saturierten und doch nie befriedigten Lebens, nach dem Sinn der Kunst, mit der er handelt und die ihm zunehmend banal und alltäglich vorkommt, kurz: die Frage nach Erfolg oder Scheitern - als Vater, als Ehemann, als Kunsthändler, als Mensch.
In dieser Situation zieht vorübergehend Rebeccas jüngerer Bruder Missy bei den beiden ein: das Sorgenkind der Familie, drogenabhängig und scheinbar lebensuntüchtig, manipulativ, schön wie ein junger griechischer Gott und für Peter auf unerwartete Weise verführerisch. Spielte Virginia Woolf für "Die Stunden" eine gewichtige Rolle, ist hier nun Thomas Mann bedeutsam. Missy liest Manns "Zauberberg"; kurz wird angespielt auf den "Tod in Venedig": die Geschichte des alternden Künstlers Aschenbach, der sich in dem choleraversuchten Venedig der Leidenschaft zu dem Knaben Tadzio - und damit der grenzenlosen Wollust des moralischen wie physischen Verderbens – hingibt. Davon träumt auch Peter kurzfristig.
"Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang" - das Motto des Romans entstammt Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien. Nicht nur dass sich Peter wünscht, charismatisch, verehrt, brillant und umworben zu sein (statt einfach sympathisch, geschickt, erfolgreich und umwerbend). Noch größer ist seine Sehnsucht nach absoluter Schönheit, die allein ihm einen Sinn und die Erfüllung des Lebens zu verheißen scheint und die er vergeblich in der Kunst zu finden sucht. Nun meint er, ihr für einen Moment in Missy zu begegnen - und trifft damit auch auf "des Schrecklichen Anfang". Das, ebenfalls mit Rilke gesagt, vielleicht nichts anderes meint als: "Du musst dein Leben ändern." Wenn sich Peter am Ende entscheidet, die Wahrheit zu sagen über das, was er wirklich fühlt, ist das vielleicht der erste mutige Schritt auf einem neuen Weg. Vielleicht.
Cunningham erzählt gewohnt brillant: fast durchgehend in erlebter Rede, völlig aus der Sicht Peters, dessen Gedanken wir neben dem, was er sagt und tut, immer auch mitlesen; all die Selbsttäuschungen, Selbstzweifel, die kleinen Fluchten und Alltagslügen. Die Sprache (hervorragend ins Deutsche gebracht von Georg Schmidt) ist klar und genau; die Charaktere sind überzeugend lebendig, die Analysen menschlicher Verhaltensweisen und menschlicher Gefühle scharfsichtig. Ein sehr kluger, sehr schöner, sehr lesenwerter Roman.
Besprochen von Gertrud Lehnert
Michael Cunningham: In die Nacht hinein
Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt
Luchterhand Literaturverlag, München 2010
320 Seiten, 19,99 Euro
"In die Nacht hinein" erzählt von einer Midlife-Crisis, deren Ende bezaubernd offen bleibt: beginnt alles ganz neu, ein bisschen neu, oder bleibt es dann doch beim Alten? Peter Harris ist Mitte vierzig und betreibt erfolgreich eine Galerie für zeitgenössische Kunst in New York. Mit seiner Frau Rebecca, der Gründerin und Herausgeberin einer Kunstzeitschrift, bewohnt er ein schickes Loft in SoHo; beider Tochter, eine mürrische junge Frau, ist längst aus dem Haus. Inmitten der Vorbereitung einer neuen Ausstellung, der Akquise eines neuen Künstlers, dem Verhandeln mit einer verwöhnten Kundin, quält ihn die Frage nach dem Sinn seines saturierten und doch nie befriedigten Lebens, nach dem Sinn der Kunst, mit der er handelt und die ihm zunehmend banal und alltäglich vorkommt, kurz: die Frage nach Erfolg oder Scheitern - als Vater, als Ehemann, als Kunsthändler, als Mensch.
In dieser Situation zieht vorübergehend Rebeccas jüngerer Bruder Missy bei den beiden ein: das Sorgenkind der Familie, drogenabhängig und scheinbar lebensuntüchtig, manipulativ, schön wie ein junger griechischer Gott und für Peter auf unerwartete Weise verführerisch. Spielte Virginia Woolf für "Die Stunden" eine gewichtige Rolle, ist hier nun Thomas Mann bedeutsam. Missy liest Manns "Zauberberg"; kurz wird angespielt auf den "Tod in Venedig": die Geschichte des alternden Künstlers Aschenbach, der sich in dem choleraversuchten Venedig der Leidenschaft zu dem Knaben Tadzio - und damit der grenzenlosen Wollust des moralischen wie physischen Verderbens – hingibt. Davon träumt auch Peter kurzfristig.
"Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang" - das Motto des Romans entstammt Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien. Nicht nur dass sich Peter wünscht, charismatisch, verehrt, brillant und umworben zu sein (statt einfach sympathisch, geschickt, erfolgreich und umwerbend). Noch größer ist seine Sehnsucht nach absoluter Schönheit, die allein ihm einen Sinn und die Erfüllung des Lebens zu verheißen scheint und die er vergeblich in der Kunst zu finden sucht. Nun meint er, ihr für einen Moment in Missy zu begegnen - und trifft damit auch auf "des Schrecklichen Anfang". Das, ebenfalls mit Rilke gesagt, vielleicht nichts anderes meint als: "Du musst dein Leben ändern." Wenn sich Peter am Ende entscheidet, die Wahrheit zu sagen über das, was er wirklich fühlt, ist das vielleicht der erste mutige Schritt auf einem neuen Weg. Vielleicht.
Cunningham erzählt gewohnt brillant: fast durchgehend in erlebter Rede, völlig aus der Sicht Peters, dessen Gedanken wir neben dem, was er sagt und tut, immer auch mitlesen; all die Selbsttäuschungen, Selbstzweifel, die kleinen Fluchten und Alltagslügen. Die Sprache (hervorragend ins Deutsche gebracht von Georg Schmidt) ist klar und genau; die Charaktere sind überzeugend lebendig, die Analysen menschlicher Verhaltensweisen und menschlicher Gefühle scharfsichtig. Ein sehr kluger, sehr schöner, sehr lesenwerter Roman.
Besprochen von Gertrud Lehnert
Michael Cunningham: In die Nacht hinein
Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt
Luchterhand Literaturverlag, München 2010
320 Seiten, 19,99 Euro