Gekappte Wurzeln

Von Karin Lamsfuss · 24.07.2010
"Du sollst Vater und Mutter ehren", sagt das vierte Gebot. Doch es gibt erwachsene Kinder, die sich damit schwer tun. Sie erlebten Lieblosigkeit, mangelnde Fürsorge, fehlende Wertschätzung und sehen als Erwachsene keinen anderen Weg, als den Kontakt zu den Eltern abzubrechen.
Anna wuchs in einer Vorzeigefamilie auf. Gut situiert, angesehen, sehr christlich, ein starker Zusammenhalt. Nach innen jedoch eher kühl und distanziert. Über 30 Jahre lang sehnte sie sich nach Fürsorge und Wertschätzung. Vergebens.

Anna: "Am meisten hätte ich mir familiäre Liebe gewünscht. Vor allem auch körperlicher Art. Einfach mal in den Arm genommen zu werden, über den Kopf gestrichen zu bekommen und gesagt zu bekommen 'ich hab dich lieb' und 'du bist wertvoll, du gehörst zu uns, du hast einfach Wert in deinem Leben!'"

Anna ging es als Erwachsene sehr schlecht. Nach außen hin funktionierte sie, machte Karriere, aber immer wieder kamen ihr Selbstmordgedanken. Sie begann eine Psychotherapie. Dort wurde ihr geraten, den – so die Therapeutin – krankmachenden Kontakt zu den Eltern abzubrechen.

Anna: "Sie waren sehr betreten, aber da sich bei uns ja eh nie Emotionen zeigen durften, zeigten sich da natürlich auch keine Emotionen, das heisst ein kleines Augenzucken meines Vaters oder meiner Mutter, ein paar Tränchen, die in die Augen schossen, aber mehr Reaktion war einfach nicht. Und sonst einfach die Antwort 'Dann müssen wir das jetzt so akzeptieren'. Und es passte einfach zu dieser gefühllosen Begegnung, die wir einfach die ganzen Jahre über gehabt hatten."

Anna ging es zunächst besser, denn sie musste den alten Schmerz nicht mehr spüren. Doch umso mehr spürte sie Schuldgefühle - gerade als streng gläubige Christin.

Anna: "Viele haben auch gesagt 'das kannste doch deinen Eltern nicht antun' – diese Vorwürfe kamen natürlich auch immer wieder, mit denen ich mich auseinandersetzen musste. Und das waren schon sehr harte Auseinandersetzungen, aber ich hab mich wirklich dazu immer wieder entschieden, dass ich gesagt habe, wenn ich dann wieder Kontakt aufnehme und wenn dann wieder Kontakt möglich ist, dann soll er auch wirklich echt und vom Herzen kommen und nicht aus einer Verpflichtung heraus, aus einer Gesetzmäßigkeit heraus oder aus einem Dogmatismus, den mir andere auferlegen."

Der Psychoanalytiker Dr. Elmar Struck leitet in Bonn die katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen. Immer wieder kommen erwachsene Kinder in seine Beratung, die keinen anderen Weg als Kontaktabbruch sehen, um sich vor verletzenden Mustern in der Familie zu schützen.

Struck: "Es ist für gläubige Christen schwieriger, weil dem Bild Eltern-Kind ja ein Bild unseres Glaubens zugeordnet wird, das sozusagen die Elternschaft und die Kindschaft ein Abbild der Vaterschaft Gottes über uns ist. Wie ja überhaupt ein Glaube dann leichter Eingang in die kindlichen Seelen findet, wenn die Eltern sozusagen von dem abbilden, was Gott sich vielleicht für die Schöpfung ausgedacht hat. Dass ein Stück Elterlichkeit, Paternalität, Maternalität etwas widerspiegelt vom Grundgedanken der Schöpfung."

Das vierte Gebot "Vater und Mutter ehren" klingt einerseits antiquiert, andererseits, so Elmar Struck, ist es fest in unserer christlichen, abendländischen Kultur verwurzelt. Dagegen zu verstoßen ist immer ein brachialer Akt:

Struck: "Das heißt, dass wir unseren Eltern, dafür, dass sie uns das Leben geschenkt haben, dass sie uns aufgezogen haben, einen gewissen Dank, eine Anerkennung, eine Ehrfurcht schulden. Das steht in den zehn Geboten; wenn man das Gesamt der Gebote versteht, wird auch erwartet, dass Eltern etwas dazu tun, dass sie diese Ehrfurcht und Ehre verdienen! Dass sie also ihre Kinder in einer angemessenen Weise erziehen. Nun sind manche Kinder durch Erfahrungen in belastenden Elternhäusern so traumatisiert, muss man sagen, dass sie von daher schon gar nicht in der Lage sind, so etwas wie Ehrfurcht, Anerkennung, Respekt den Eltern entgegen zu bringen. Wie soll ich denn meinen Vater oder meine Mutter respektieren, wenn ich missbraucht werde?"

Dienstag Abend irgendwo in der Nähe von Düsseldorf. Treffen der Selbsthilfegruppe "Verlassene Eltern". Etwa 20 bis 30 Eltern stellen sich hier einmal im Monat die selbe Frage: Warum? Warum haben uns unsere erwachsenen Kinder den Rücken gekehrt? Sie haben ihre Kinder weder missbraucht, noch geschlagen, noch vernachlässigt, beteuern sie.

Frank: "Was als roter Faden durchgeht, ist, dass die Kinder alle mit sehr viel Liebe großgezogen worden sind, dass die Eltern versucht haben, ein Optimum für die Kinder zu geben, dass man versucht hat, so viel wie möglich Steine aus dem Weg zu räumen und anscheinend das vielleicht zu viel war."

Frank leitet die Selbsthilfegruppe "Verlassene Eltern" gemeinsam mit seiner Frau. Kaum ein Mitglied will mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit gehen. Zu groß ist die Angst, geächtet zu werden als Vater oder Mutter, die versagt haben. Brigitte traut sich trotzdem.

Brigitte: "Mein Sohn hat uns quasi die Freundschaft gekündigt und wollte mit uns nichts mehr zu tun haben, er hat dann seine Sachen genommen und ist dann abgehauen und zu Freunden gegangen. Da war er weg, und auf einmal bekamen wir Post vom Anwalt! Er möchte unterhalten werden. Er möchte unterstützt werden, wir sollten ihm sein Leben finanzieren. Und das ging dann bis zum Oberlandesgericht (...) Und dann hat er alle Prozesse verloren und dann haben wir eben nichts mehr gehört."

Seit 27 Jahren hat Brigitte keinen Kontakt mehr zu ihrem Sohn. Außer Korrespondenz über den Anwalt gibt es kein Lebenszeichen. Die Gründe liegen für Brigitte völlig im Dunkeln.

Brigitte: "Warum, warum? Andere Leute, die schlagen ihre Kinder und haben ein tolles Verhältnis, und wir haben den auf den richtigen Weg geführt, mit Abitur und dann diese Undankbarkeit! Ich meine Dankbarkeit erwartet man ja gar nicht, man führt sie ins Leben, damit sie stark und gewappnet sind, und dann erlebt man so was!"

Im Laufe der vielen Jahre hat sich Brigitte mit ihrer Situation abgefunden.

Brigitte: "Traurigkeit? Ja! Manchmal auch wütend! Weil wenn man da so andere Leute sieht, die dann so harmonisch zusammen gehen mit ihren Jugendlichen, mal umarmt werden oder so, dann kommt das alles wieder hoch! Warum? Warum?"

Was auch immer die wahren Gründe sein mögen: Es stehen sich zwei unversöhnliche Parteien gegenüber: Entwurzelte erwachsene Kinder und hilflose, traurige Eltern. Zwischen ihnen: eine offenbar unüberwindbare Mauer.

Der Weg führt, so der Psychoanalytiker Elmar Struck, nicht primär über das Verzeihen, sondern vor allem erst mal über das Verstehen. Dazu müssen die Eltern zunächst aushalten, was ihre Kinder ihnen zu sagen haben.

Struck: "Im Grunde muss dieses Leid wahrgenommen werden. Und nicht abgewertet werden durch nachträgliche Rechthaberei. (...) Es ist dann nötig, das eigene Leid überhaupt wahrzunehmen, auszusprechen und es als Motor für eine Änderung in der Einstellung und im Verhalten zu nutzen. Das gelingt manchmal, aber nicht immer."

Für Elmar Struck geht es niemals über die Klärung irgendeiner "Schuldfrage". Vielmehr über das Anerkennen von Leid. So ist einer der wichtigsten Schlüsselsätze von Eltern an ihre Kinder: "Ich habe dir weh getan, und das tut mir Leid."

Nach sieben Jahre Funkstille hat Anna wieder einen Schritt auf Ihre Eltern zugemacht. Zu dieser Zeit steckte sie in einer schweren Krise: Die Ehe war gescheitert. Sie brauchte dringend Hilfe – und besann sich wieder ihrer Wurzeln.

Anna: "Ich griff zum Telefon, hatte meinen Vater am Telefon und sagte 'Hallo, hier ist Anna', und er brach sofort in Tränen aus. Ich hab ihn die ganzen Jahre vorher nie weinen gesehen, dann hab ich kurz geschildert, in welcher Situation ich stecke, und sie waren sofort bereit, mich in allem zu unterstützen. Sie haben gesagt 'Wir kommen sofort, wir helfen dir, wir sind immer für dich da', sie waren eigentlich wie umgewandelt. Und da ist mir klar geworden, dass in diesen sieben Jahren auch ganz viel mit ihnen passiert ist."

Dem ersten Treffen sah sie mit sehr gemischten Gefühlen entgegen.

Anna: "Sie waren für mich erschreckend gealtert von ihrem Äußeren her, beide ganz grau geworden, aber mein Vater kam sofort auf mich zu und umarmte mich. Was er sonst nie gemacht hat. Umarmte mich, ließ mich gar nicht mehr los, meine Mutter genau so, und es war auch eine Emotionalität zwischen uns möglich, die in den ganzen Kindheitsjahren, die ich bei ihnen gewohnt habe, nie möglich gewesen ist."

Was genau in den sieben Jahren geschehen war, kann Anna auch heute noch nicht genau beschreiben. Manchmal erscheint es ihr wie ein Wunder: Sie können miteinander sprechen, aneinander verzweifeln, sich wieder einander annähern. Manchmal verstehen sie sich, manchmal nicht. Aber all das darf sein, und alles hat seinen Platz. Ganz normales Familienleben eben. Das Wichtigste: Sie halten sich gegenseitig aus, anstatt voreinander die Flucht anzutreten.

Anna: "Also, die sieben Jahre waren für uns ganz, ganz wichtig. Ich glaube, dass sie bei uns ganz, ganz viel bewegt haben, sowohl bei meinen Eltern als auch bei mir, und ich bin froh, dass es so stattgefunden hat, auch wenn es ne sehr schlimme Zeit für beide Seiten war. Aber letztendlich hat sie uns so verändert, dass wir fast neu anfangen konnten."

Sieben Jahre gekappte Wurzeln – nicht nur für die Eltern, auch für Anna war das eine unglaublich harte Zeit. Eine, die sie ohne ihr tiefes Gottvertrauen niemals überstanden hätte. Und Gott – davon ist sie fest überzeugt – ist auch derjenige, dem sie es zu verdanken hat, dass sie jetzt ihren Vater und ihre Mutter wieder ehren kann.

Anna: "Also, wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass wir uns beide geöffnet haben für Gottes Begegnung. Und ich bin persönlich davon überzeugt, dass, wenn Gott hineinkommt in die ganzen Wunden der Vergangenheit, die geschlagen worden sind und ein Stück weit mit seiner Liebe begegnet, dass er eine Begegnung ermöglicht. Ohne das, glaube ich, hätten wir keine Chance gehabt, aufeinander zuzugehen."


Siehe auch:

Homepage der Selbsthilfegruppe Verlassene Eltern