Geistige Entfremdung

15.07.2011
In ihrem Buch "Dionysos und Parsifal" beschreibt Jutta Georg-Lauer das Zerwürfnis zwischen dem Philosophen Friedrich Nietzsche und dem Komponisten Richard Wagner. Während Nietzsche mit der Kunst Rausch und Ekstase verband, sah sie Wagner als Event und Religionsersatz.
Friedrich Nietzsche hat 1876 in seiner Schrift "Richard Wagner in Bayreuth" den Bayreuther "Meister" hymnisch gefeiert. In den folgenden Jahren verkehrte sich seine Meinung über ihn ins ganze Gegenteil. Vor allem den "Parsifal" empfand Nietzsche als Kniefall vor dem Christentum und "Verrat" an der gemeinsamen Sache, der Neugeburt eines Musikdramas aus dem Geist der Antike. Den symbolisierte für Nietzsche Dionysos, der Gott des Rausches. Insofern konnte der Buchtitel "Dionysos und Parsifal" nicht treffender gewählt werden.

Die Autorin Jutta Georg-Lauer, Geschäftsführerin der Nietzsche-Stiftung und Professorin für Philosophie an der Universität Mainz, hat Recht: Mit der Eröffnung der Bayreuther Festspiele 1876 und der ersten kompletten Aufführung des "Nibelungenrings" erfüllte sich der lebenslange Traum Richard Wagners von der Verwirklichung seines "Kunstwerks der Zukunft". Auch der Philosoph Friedrich Nietzsche, seit 1868 glühender Wagnerianer, pries das Ereignis vorab mit den Worten: "Hier feiern die tragischen Menschen ihr Weihefest, zum Zeichen, dass eine neue Kultur beginnt."

Nachdem er die Realität der Festspiele als nationales wie touristisches Event miterlebte, hatte er für Bayreuth nur noch Spott übrig: "Man hatte Wagner ins Deutsche übersetzt! Der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden. Die deutsche Kunst! Der deutsche Meister! Das deutsche Bier!" Bayreuth erschien ihm nicht länger als die erwartete "künstlerische Werkstatt für eine Revitalisierung der attischen Tragödienkunst".

Jutta Georg Lauer begründet den Sinneswandel Nietzsches mit der zunehmenden geistigen Entfremdung Wagners und Nietzsches sehr präzise, aber ohne jede Berücksichtigung der pikanten privaten Anlässe, die aus der "Sternenfreundschaft" eine Erdenfeindschaft werden ließ. Überhaupt blendet sie alles Biografische zugunsten einer rein ideengeschichtlich-philosophischen Studie über die Wagner-Nietzsche-Kontroverse aus. Auf knapp 150 Seiten konzentriert sie sich auf die zentralen Berührungs- und Entfremdungspunkte Wagners und Nietzsches: Das gemeinsame Ideal der attischen Tragödie und Schopenhauers Willensmetaphysik, Wagners Entwicklung vom Revolutionär zum Propheten einer kulturellen Regeneration, seinen "Parsifal", die Bayreuther Festspiele und das Verhältnis von Wort- und Tonsprache.

Das alles ist sehr kenntnisreich, aber doch in so abstraktem Gelehrtenjargon geschrieben, dass die Lektüre wohl nur studierten Philosophen wirklich leicht fallen dürfte. Auch setzt das Buch gute Wagner- und Nietzschekenntnisse voraus. Wer es gelesen hat, versteht aber immerhin jenseits alles "Menschlich-Allzumenschlichen" das intellektuelle Missverständnis Wagners und Nietzsches. Jutta Georg-Lauer konkretisiert es in der Gegenüberstellung zweier ästhetischer Positionen: Nietzsche vertrete das Dionysische, Wagner das Parsifaleske. Selbstentgrenzung stehe Selbstverleugnung gegenüber. Die Kunstbegriffe Nietzsches und Wagners seien unvereinbar: Hier Kunst als Rausch und Ekstase, dort Kunst als Event und Religionsersatz.

Die Autorin erinnert daran: Schon Nietzsche warnte vor der "Tyrannei des Zeitgemäßen". Insofern kann man ihr Buch zumindest als gelehrten Denkanstoss für die heutigen Bayreuther verstehen.

Besprochen von Dieter David Scholz

Jutta Georg-Lauer: Dionysos und Parsifal
Königshausen & Neumann, Würzburg 2011
148 Seiten, 24,80 Euro