Geisterstadt Fordlândia

Henry Fords missglücktes Amazonasabenteuer

30:46 Minuten
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Fordlândia wurde nach US-amerikanischem Vorbild gebaut: mit Denkmal, Kirche, Basketballplatz und Pool. © Tom Noga
Von Tom Noga |
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Nach Autobauer Henry Ford ist eine eigene Stadt mitten im Amazonas benannt: Fordlândia. Dort wollte er um 1920 Gummi für Autoreifen produzieren und den Brasilianern die US-amerikanische Lebensweise näher bringen. Aber es kam anders als geplant.
Wie man nach Fordlândia kommt? Pierre Schwarz grinst. Da gibt mehrere Möglichkeiten, theoretisch.
"Du könntest mit dem Auto hin fahren. Aber jetzt ist Regenzeit. Das kannst du also vergessen. Die Straßen sind miserabel, nicht asphaltiert. Oder du nimmst ein Linienschiff, einen typischen Amazonasdampfer aus Holz. Das dauert zwischen 15 und 17 Stunden. Oder ein Schnellboot, das dauert nur fünf oder sechs Stunden."
Luftbild, Flusslandschaft, kleine Inseln im Fluss Rio Tapajos im Amazonas-Regenwald, geplanter Staudamm Sao Luiz do Tapajos, Distrikt Itaituba, Bundesstaat Parß, Brasilien, Südamerika Copyright: imageBROKER/FlorianxKopp ibxflk04349919.jpg

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Fluss Rio Tapajos im Amazonas: Hier geht nur per Boot weiter.© imago stock&people
Na dann, also das Schnellboot. Fordlândia ist kein Ort, den es lohnt anzufahren. Wer will da schon hin? Eine Geisterstadt mitten im Amazonas, die eigentlich eine blühende Metropole hätte werden sollen. Ein Ort, an dem 25 Millionen Dollar versenkt wurden – eine ganze Stange Geld vor rund 100 Jahren. Heute wäre es das 14-fache. Ein Beispiel US-amerikanischer Großmannssucht.
Pierre Schwarz kennt die Fahrpläne der Schiffe und Schnellboote, er arbeitet als Reiseleiter. Jetzt sitzt er auf einem Poller im Hafen von Santarém, einer Stadt im Norden Brasiliens. In der Hand einen Cafezinho, eine Art gesüßten Espresso. Gerade hat er Gäste zu einem Dampfer gebracht. Der Amazonas, der Dschungel – das fasziniert viele Touristen. Und inspiriert diejenigen, die Geschäfte machen wollen. Damals und heute.

Was heute Soja ist, war damals Kautschuk

Der Hafen von Santarém besteht aus ein paar Dutzend Anlegern, die sich entlang der Uferstraße am Zusammenfluss von Rio Tapajós und Amazonas erstrecken. Schiffe werden beladen. Die größeren, indem Lastwagen über rostige Rampen hinaufsetzen, die kleineren von Hand. Hafenarbeiter schultern Säcke: Reis und Mehl, Haushaltsgeräte und Elektronik. Während die Passagiere in den Hängematten auf dem Unterdeck vor sich hin dösen.
Das einzige, was an einen modernen Hafen erinnert, ist ein Frachtterminal mit vier gewaltigen Silos. Soja, sagt Pierre. Knapp die Hälfte der weltweiten Sojaproduktion kommt aus Brasilien.
"Die Silos gehören Cargill, einem großen US-amerikanischem Exporteur von Futtermitteln. In Santarém dreht sich wirtschaftlich alles um Cargill. Die Firma verschifft Soja aus Mato Grosso do Sul. Im letzten Jahr waren es 40.000 LKW-Ladungen, jede einzelne fünf, sechs Tonnen schwer. Santarém ist der nördlichste Hafen Brasiliens, der von Containerschiffen angelaufen werden kann. Das Soja geht von hier nach China, in die USA, nach Europa."
Santarém, Pará, Brasilien; Foto: Florian Kopp / Misereor
Ein Sojahafen mit Aussicht auf mehr? - Auflugsboote und Fischerboote in Santarém am Amazonas.© Florian Kopp, Misereor
Was heute Soja ist, war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Kautschuk, gewonnen aus dem Milchsaft des gleichnamigen Baumes. Und dieser Kautschuk interessierte den US-amerikanischen Autobauer Henry Ford. Schließlich wurden daraus Reifen hergestellt. Weil der Kautschukbaum nur im Amazonasbecken vorkam, besaß Brasilien ein Monopol – und manche Städte wurden sagenhaft reich. Henry Ford befand: Das soll nicht so bleiben. Der Unternehmer hatte 1920 in seinen Fabriken bereits das Fließband eingeführt und damit das Auto zum Massenprodukt gemacht. Warum sollte er den Brasilianern so viel Geld bezahlen, wenn er genauso gut selbst in die Kautschukproduktion einsteigen konnte?
"Ford kontrollierte sämtliche Rohstoffe, die für die Produktion benötigt wurden, mit Ausnahme des Kautschuks", schreibt der amerikanischen Historiker Greg Grandin in seinem Buch "Fordlândia - Aufstieg und Fall von Henry Fords vergessener Dschungelstadt".
"Deshalb sicherte er sich das Nutzungsrecht an einem Landstrich am Rio Tapajós, gut 300 Kilometer südwestlich von Santarém, um dort eine Kautschukplantage aufzuziehen. Sein Ziel war es, die Produktion von Jahr zu Jahr zu steigern, bis, wie er es ausdrückte: 'der ganze Dschungel industrialisiert ist'. Ein epischer Kampf brach an. Ford repräsentierte die Energie, die Dynamik und Ruhelosigkeit des amerikanischen Kapitalismus des frühen 20. Jahrhunderts, Amazonien dagegen den ewigen Stillstand, eine ursprüngliche Welt, die sich bis dahin als unbezwingbar erwiesen hatte."

Aus der Musterstadt wurde eine Geisterstadt

"Wenn du nach Fordlândia fährst, ist das eine Zeitreise: in eine amerikanische Stadt aus den 1930er-Jahren. Heute stehen nur noch Ruinen von damals. Fordlândia ist eine Art Geisterstadt", erklärt Pierre Schwarz.
Das Schnellboot nach Fordlandia kommt und setzt sich in Bewegung. Die Sitze an Bord sind in Viererreihen angeordnet. Passagiere? Vielleicht 30, maximal.
Nach einer Viertelstunde passiert das Schnellboot den kleinen Ort Alter do Chão. Palmdächer ragen aus dem Wasser. In der Trockenzeit dienen sie als Sonnenschutz. Dann liegen die Sandbänke um im Rio Tapajós frei – ein beliebtes Ziel für Rucksackreisende aus aller Welt.
Hinter Alter do Chão endet die von Menschen bewohnte Welt. So weit das Auge reicht: grün. Das olivfarbene Wasser des Rio Tapajós. Und das leuchtende Grün des Regenwaldes: undurchdringlich und geheimnisvoll. Darüber ein azurblauer Himmel, der sich immer wieder verdunkelt, von violett zu pechschwarz, und dann seine Schleusen öffnet.

Der Kautschuksamen wurde gestohlen und ausgeführt

Auch Henry Fords Emissäre haben Mitte der 1920er-Jahre diesen Weg genommen auf ihrer Suche nach geeignetem Land. 20 Stunden dauerte ihre Reise mit dem Dampfer. Der Kautschuk-Boom in Brasilien war zu jener Zeit aber schon vorbei. Weil der englische Naturforscher Henry Wickham Samen des Baumes außer Landes geschmuggelt hatte.
"Die Samen bildeten die genetische Basis für den Aufbau von Kautschukplantagen in den britischen, französischen und holländischen Kolonien in Südostasien. Dort konnten die Bäume in engen Reihen gepflanzt werden, weil es keine Insekten und Pilze gab, die sich von ihnen ernährten. Die Plantagen lagen in der Nähe von internationalen Häfen, was die Transportkosten verringerte. Und die Arbeitskosten waren geringer."
Aber Henry Ford hielt an seinem Plan fest. In Brasilien gab es bereits ein Ford-Werk, das er beliefern wollte. Und er bekam das Land, das seine Emissäre auserwählt hatten und das später als Fordlandia in die Geschichte eingehen sollte.
Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt Henry Ford, wie er sein erstes Auto fährt. Im Hintergrund: eine amerikanische Flagge.

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Henry Ford revolutioniert mit der Einführung der Fließbandproduktion die Autoindustrie - mit Fordlândia scheiterte er.© picture alliance / dpa / Newscom
Das Schnellboot nähert sich. Schemenhaft erscheint am Horizont ein Gebilde. Ellipsenförmig und auf drei Stelzen ruhend überragt es den Regenwald. Ein Wasserturm, wie er für amerikanische Kleinstädte üblich ist. Er muss einmal hellblau gewesen sein, aber die Farbe ist verblichen. Ebenso die Inschrift, der verschnörkelte Namenszug Ford, das Logo der Automarke.
Der Bootsmann fährt eine Leiter aus: Drei Passagiere klettern hinab, fünf neue hinauf.
An der Anlegestelle wartet Guilherme Lisboa: klein, glatzköpfig, stämmig, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ihm gehört die Pousada Americana, ein Gasthof.
"Seit zehn Jahren. Und von Jahr zu Jahr läuft es besser. Anfangs war Fordlândia völlig unbekannt. Heute kommen eine Menge Leute, vor allem Ausländer. Sie wissen mehr über die Geschichte dieses Ortes als viele Brasilianer. Wenn Brasilianer kommen, dann zum Fischen. Im Rio Tapajós gibt es viele Fische: Barsche, Brassen, Welse."
Das Schnellboot legt wieder ab.
Nach wenigen Minuten ist es am Horizont verschwunden. Und die Anlegestelle ist menschenleer.

Industrieruinen und verfallene Wohnhäuser

Das also ist Fordlandia. Auf den ersten Blick ein Dorf, wie man es häufig findet im Amazonasbecken: verschlafen, mit rostroten, unbefestigte Straßen, bunten kleinen Häusern, die meisten einstöckig, und einer ockerfarbenen Kirche, die auf einem Hügel thront. Nur die Lagerhallen passen nicht ins Bild. Eine steht an der Anlegestelle, die zweite im Schilf am Rio Tapajós, die dritte hinter der Kirche. Verlassen, die Scheiben blind oder eingeschlagen – wie Industriedenkmäler.
Industrieruine, riesioge, verfallene Fabrikhalle
Hier sollte der Kautschuk verarbeitet werden - so war der Plan.© Tom Noga
Am Fuß des Hügels ein terrassierter Platz. Darauf Skulpturen: ein Springbrunnen, allerdings außer Betrieb, ein Jaguar in Originalgröße. Und ein Seringueiro, ein Kautschukzapfer, der die Rinde eines Baumes anschneidet, einen Topf am Gürtel, um die Milch aufzufangen.
"Die Caboclos, Mischlinge aus Indios und Weißen, wussten wie man mit den Bäumen umgeht. Sie haben Pfade in den Dschungel geschlagen und entlang dieser Pfade die Bäume angezapft, aber in geringen Mengen, um den Fortbestand nicht zu gefährden. In der freien Natur wachsen die Bäume im Schatten anderer, zum Schutz vor Insekten und Pilzen. Deshalb sind auch alle Versuche der frühen Kautschukbarone gescheitert, die Bäume auf Plantagen zu züchten. Im Wald werden sie riesig, aber auf den Plantagen blieben sie mickrig. Und wenn einer von Parasiten befallen wurde, war schnell die ganze Plantage vernichtet."
Henry Ford machte Tabula rasa: Er ließ einfach den Wald komplett abholzen – eine Fläche, die dem Bundesland Thüringen entspricht. Mit dem Verkauf des Holzes, so das Kalkül, würde sich Fordlândia selbst finanzieren. Eine der vielen Fehleinschätzungen der Autobauer aus Michigan. Das Holz verrottete – niemand wusste, wie man es in diesem feuchtwarmen Klima trocken hielt.

Am Reißbrett entworfene Eintönigkeit

"Lass uns eine Runde durchs Dorf drehen. Das eigentliche Dorf und die Vila Americana, wo die leitenden Angestellten gewohnt haben, die Ärzte und Verwalter. Sollen wir?"
Guilherme deutet auf einen klapprigen Geländewagen. Zu Fuß ist es zu weit.
Eine Holzskulptur zeigt einen Kautschukarbeiter, wie er die Milch auffängt.
Die Kautschukarbeiter schufteten wie Sklaven. Ein Denkmal erinnert an sie.© Tom Noga
Der Wagen rumpelt einen Hügel hinauf. Oben schachbrettartig angelegte Straßen, gesäumt von kleinen Häusern, manche mit, andere ohne Fenster. Dazwischen gackernde Hühner, grasende Kühe und Schweine, die sich im Schlamm suhlen. Hier haben die Arbeiter mit ihren Familien gelebt – in den Dreißigern waren es 5.000 Menschen.
"Damals sah hier alles viel gepflegter aus, die Straßen waren eben. Hier herrschte strenge Disziplin – wie in einer Kaserne. Die Caboclos taten sich schwer mit dem amerikanischen System, das alles sofort gemacht werden sollte und perfekt."
Bilder von einst zeigen am Reißbrett entworfene Einförmigkeit: ein Haus wie das andere, alle in Reih und Glied, die Vorgärten manikürt und die Straßen mit breiten Gehwegen. Ein amerikanisches Kleinstadt-Idyll. In Fordlândia sollte der US-amerikanische Lebensstil gepflegt werden. Die Ford'schen Arbeitersiedlungen aus Michigan exportiert in den brasilianischen Dschungel – das war seine Vision. Dahinter steckte ein typisch amerikanischer Gedanke: dass der American Way of Life nicht nur per se der beste sei, sondern auch überall auf der Welt willkommen.
Ein Mensch käuft in Shorts über eine unbefestigte Straße, im Hintergrund ein Fluß
Einst wohnten über 5000 Menschen in Fordlandia, heute sind es noch 600.© Tom Noga
Im Zentrum der Siedlung eine Grundschule. Mit Fußballplatz, Basketballfeld und Turnhalle. Erbaut im Jahr 1931, wie eine Inschrift verkündet.
Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden: Die Kinder toben durch die Gänge. Mittendrin Gelsonita Bareta, eine der Lehrerinnen. An einer Wand das Bild eines hageren, streng blickendes Mannes.
"Das ist Henry Ford. Dieses Bild ist das Einzige, das übrig geblieben ist. Aber wir haben noch Bücher aus der Zeit, als Fordlândia gegründet wurde, aus dem Jahr 1931."
Gelsonita stammt von Arbeitern auf der einstigen Plantage ab – wie die meisten Menschen in Fordlândia. Ford bot nicht nur freie Unterkunft, sondern zahlte auch überdurchschnittlich. Und so strömten die Menschen herbei, vor allem junge Männer aus dem armen Nordosten Brasiliens, aber auch ganze Familien.
"Meine Oma kam mit ihren Eltern aus dem Bundesstaat Maranhão. Sie war damals 13. Sie hat mit ihrem Bruder Bäume gefällt für den Bau der Häuser. Später hat sie für die Amerikaner als Bedienung gearbeitet, dann als Gartenhilfe und schließlich als Köchin im Hotel Zebú. Sie hat uns erzählt, dass es am Anfang schlimm war. Die Leute haben geschuftet wie Sklaven – diesen Teil der Geschichte verschweigen die Bücher. Hier war ja nichts als Wald und sie mussten den Wald roden. Erst mit der Zeit wurden die Arbeitsbedingungen etwas besser."

Umerziehungsversuche führen zum Aufstand

Gelsonita zieht einen Stuhl heran und lässt sich hineinfallen. In Fordlândia sind Kulturen aufeinander geprallt, erzählt sie. Von den Brasilianern wurde erwartet, dass sie sich dem von Prüderie und Arbeitsethos geprägten Weltbild der US-Amerikaner unterwarfen. Rauchen und Alkohol waren verboten, es gab keine Bars und für eine Stadt mit einem Überschuss an jungen Männer vermutlich noch schlimmer: keine Bordelle. Das einzige Vergnügen waren die Tanzveranstaltungen am Wochenende – mit amerikanischer Musik. Angesichts solcher Zwangsbeglückung kam es im Dezember 1930 zur Revolte.
"Meine Oma hat mir viel von damals erzählt, auch von diesem Aufstand. Den Arbeitern wurde in den Kantinen Essen vorgesetzt, das sie nicht kannten, Spinat zum Beispiel. Sie waren gewohnt, Fisch zu essen, mit Reis, Bohnen und gebratenem Maniokmehl. Aber das Essen war nur der Auslöser, der eigentliche Grund war, dass die Arbeiter schlecht behandelt wurden. Viel wurden weggeschickt, wegen Kleinigkeiten. Weil sie eine Anweisung nicht befolgt hatten, nicht ein- oder ausgestempelt oder die Nachtruhe nicht eingehalten hatten. Ab einem bestimmten Glockenschlag mussten alle zu Hause sein. Wer sich draußen erwischen ließ, wurde weggeschickt."
alte Maschinen in einer großen Fabrikhalle
Mit dem Maschinenpark kann heute keiner was anfangen - der Dschungel wird ihn sich wohl einverleiben.© Tom Noga
Wo Gelsonitas Großmutter zuletzt gearbeitet hat, quietscht heute ein Schild im Wind. Die Inschrift ist noch zu entziffern. Zebú Hotel. Es steht auf einer Bergkuppe, fünf, sechs Kilometer entfernt von der Siedlung der Arbeiter. Die Brasilianer nannten diesen Teil von Fordlândia Vila Americana. Hier lebten die Leiter des Projekts und die höheren Angestellten – allesamt US-Amerikaner. Und die blieben unter sich. Unter den Brasilianer kursierte damals ein Witz: Was können die Amis nach einem Jahr in Fordlândia auf Portugiesisch sagen? Uma cerveja – ein Bier. Und nach zwei Jahren? Duas cervejas.
"Guck mal, das Haus dort, das war mal richtig schön. Und jetzt? Die letzten Besitzer sind ausgezogen und die Leute haben alles zerlegt. Jetzt stehen nur noch die Mauern. Vom Krankenhaus auch. Alles ausgebaut, bis nichts mehr übrig war."
Die Mauern sind von Unkraut überwuchert – ein paar Jahre noch, dann werden sie im Dschungel verschwunden sein.

Die sagenhafte Pleite des Henry Ford

Guilherme schlägt den Weg frei zu einem betonierten Becken: der Pool der Vila Americana. Mit Aussicht auf den Rio Tapajós, damals. Heute versperren Bäume den Blick. Auch aus dem Boden des Schwimmbecken sprießt üppiges Grün. Guilherme schreitet die Maße ab.
"Dreizehn mal sieben Meter. Hier vorne vielleicht drei Meter tief und an der flachsten Stelle da hinten einen."
Er blickt sich um: Viel ist nicht geblieben von der Vila Americana, seit Henry Ford die Plantage im November 1945 aufgegeben hat. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Alliierten die industrielle Herstellung von synthetischem Kautschuk vorangetrieben, durch die Kapitulation Japans waren die Handelsrouten in Südostasien wieder offen. Die Preise für Kautschuk rutschen in den Keller. Henry Ford verkaufte Fordlandia an den brasilianischen Staat und hatte sogar noch Glück. Denn der Erlös deckte die ausstehende Lohnforderungen, mehr aber nicht. Eine sagenhafte Pleite. Verlust damals: 25 Millionen Dollar. Heute sicherlich das Zehnfache.
"Willst Du noch zum Friedhof? Ist aber weit. Ich glaube, das haben die extra gemacht, damit die Toten nicht zurückkommen."
Der Friedhof liegt in einer Senke, im Schatten riesiger Mangobäume. Ein Gärtner zupft Unkraut. Guilhermes Gruß erwidert er nicht.
"Ohne unseren Freund wäre das hier längst wieder Urwald. Er sorgt dafür, dass dieser Ort bewohnbar bleibt."
Der Friedhof ist riesig, jedenfalls für eine Stadt von früher 5000 und heute vielleicht noch 600 Einwohnern. Die Grabsteine sind schlicht, ohne die in Südamerika üblichen Ornamente. Dazwischen einfache Holzkreuze: die meisten ohne das Geburtsdatum des Toten, viele sogar ohne Namen. Das sind die Gräber der Arbeiter, die beim Bau Fordlândias ums Leben gekommen sind, sagt Guilherme.
"Jeden Tag ist einer gestorben. Hier zum Beispiel: 31.8. Noch einmal der 31.8. Die beiden sind am selben Tag gestorben. 6.9., 11.9. – alle im Jahr 1929. Die Leute sind an Schlangenbissen gestorben, an Gelbfieber, Typhus oder Malaria, den Krankheiten des Dschungels."

Henry Fords Abenteuer bezahen viele mit dem Tod

Wie viele Menschen Henry Fords Traum von der Eroberung des Dschungels mit dem Leben bezahlt haben, ist nicht bekannt. In seinem Buch schreibt Greg Grandin, dass allein im Jahr 1929 90 Tote auf dem Friedhof begraben worden seien und im Jahr darauf die dreifache Menge. Nicht mitgezählt sind Menschen, die verschwunden oder ertrunken sind, die von Jaguaren, Piranhas oder Krokodilen getötet wurden.
"Hier liegen nur Brasilianer. Die Amerikaner wurde alle in den USA beerdigt."
Auf einem Hügel steht eine verfallene Villa
Opulentes Anwesen: die "Vila Americana", ehemalige Residenz der US-Amerikaner.© Tom Noga
Abends in der Pousada Americana. Guilherme Lisboa hat eine Flasche Whiskey gekauft. Ein Freund kommt zu Besuch: Vágner Ribeiro.
Vágner ist Historiker. Er ist in Fordlândia aufgewachsen und hat in Belém studiert, der Hauptstadt des Bundesstaates Pará.
"Die meisten wollen nach dem Studium nicht nach Fordlândia zurück, weil die sozio-ökonomischen Bedingungen hier schlecht sind. Ich schon, ich will etwas dazu beitragen, dass dieser Ort aus seiner Lethargie erwacht."

Das Erbe von Henry Ford

In Fordlândia arbeitet Vágner als Lehrer und träumt davon, die alten Lagerhallen, in denen teils noch die Maschinen von einst stehen, in ein Museum umzufunktionieren, in ein Museum für Industriegeschichte, aber nicht nur.
"Du wirst hier niemanden finden, der schlecht über Ford spricht. Das ist unsere Geschichte, auch wenn sie nicht immer schön ist. Und die müssen wir erforschen und erzählen. Wir müssen von den Menschen erzählen, die in und für Fordlândia leben oder gelebt haben, von den Gebäuden hier. Es ist unsere Pflicht, das an künftige Generationen weiterzugeben."
Natürlich kennt Vágner Ribeiro Greg Gandins Buch über Fordlândia. Hat ihm gut gefallen, auch wenn es die Geschichte aus amerikanischer Sicht erzählt. Und klar, die Geschichte Fordlândias lässt sich lesen als Kampf zwischen Fortschritt und Bewahrung, zwischen Moderne und Natur, zwischen einem alle Fesseln sprengenden Kapitalismus und dem Regenwald im Amazonasbecken, dem größten funktionierenden Ökosystem der Erde. Ein Kampf, den Henry Ford verloren hat, mit Fordlândia als Kollateralschaden. Weil die Menschen hier zurückgelassen wurden, ohne Perspektive, ohne Zukunft. So kann man das sehen, sagt Vágner Ribeiro. Aber wenn man den Blickwinkel wechselt, sieht die Sache anders aus.
"In den einschlägigen Kriminalstatistiken in Brasilien kommt Fortlândia nicht vor. Wir haben weder Gewalt noch Kriminalität, Drogen, steigende Armut oder Prostitution. Wir respektieren und grüßen einander: Guten Morgen. Guten Abend. Wir sagen bitte, wenn jemand etwas für uns tun soll. Dies ist das Erbe von Henry Ford. Unser Erbe besteht nicht aus wirtschaftlichen Gütern sondern aus sozialen Werte."
Die überschaubaren wirtschaftlichen Güter wird sich der Dschungel in absehbarer Zeit einverleiben. Ob die sozialen Werte auch außerhalb der Geisterstadt Fordlândia Bestand haben, muss sich dann zeigen. Henry Ford würde wohl heute staunen. Ausgerechnet ihm, der den Regenwald abholzen ließ und die Brasilianer zwangsweise umerziehen wollte, werden heute positive Werte zugeschrieben, soziale Umgangsformen, die anderswo selbstverständlich sind: Freundlichkeit, Respekt, Ehrlichkeit.
Das sagt womöglich mehr über den heutigen Zustand der brasilianischen Gesellschaft aus als über den Unternehmer Henry Ford.
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