Geisterdörfer am Ende der Welt

María Sonia Cristoff war Tage und Wochen im patagonischen Binnenland unterwegs und hat Geisterdörfer besucht. Der Erdölboom hat sie einst aufblühen lassen – und dann auf der endlosen Ebene vergessen.
Patagonien scheint aus vielen Gründen der Fluchtpunkt aller Reisen zu sein: Es liegt ganz unten auf allen Weltkarten, auf denen definitionsgemäß der Norden immer oben ist. In Patagonien hört, vom hiesigen Standpunkt aus betrachtet, die bewohnbare Welt auf. Ein karger Landstrich von immenser Ödnis, windig und kahl, so leer, dass er irgendwelche Geheimnisse bergen muss. Der ideale Ort, um das Unbekannte zu suchen.

Bruce Chatwin, dieser fleißig lauschende und erzählende Reisende, ist dort sehr geschäftig gewesen und hat einige dieser Geheimnisse zutage gefördert. Vielleicht hat er manche davon auch erst selbst geschaffen, das weiß niemand so genau.

Seitdem ist Patagonien endgültig zum geografischen Mythos geworden. Die argentinische Journalistin María Sonia Cristoff, 1965 in Patagonien geboren, sucht indessen nicht nach Geheimnissen: Ihr Blick ist nüchtern, er gilt vor allem den Lebensbedingungen dort, nicht den Fiktionen. Sie hat diese Gegend, die kleine Hafenstadt Trelew, als Heranwachsende verlassen, um nach Buenos Aires zu gehen, wo es Bücher gab und Kultur.
Ihre Serie von Reportagen befasst sich mit den Geisterdörfern, den „pueblos fantasmas“, die einst der Erdölboom hat aufblühen lassen und dann auf der endlosen Ebene vergessen hat. Dort, im patagonischen Binnenland, hat sie sich aufgehalten, Tage und Wochen, sie lieferte sich „vollständig dem betäubungsähnlichen Zustand aus, den ein Überschuss an Licht, Wind oder Stille in einem erzeugen können“. In diesem Zustand wird sie gewissermaßen zur Bauchrednerin der Lebensgeschichten, die sich an Orten wie Las Heras, El Cuy oder Canon Seco, abspielen.

Fast alle diese Geschichten sind Zeugnisse von der Mühe, unter schwierigen Bedingungen die eigene Würde zu wahren, oder auch nur das schiere Überleben zustande zu bringen. Es sind Zeugnisse der destruktiven Umwälzungen, bei denen es um nichts als Rohstoffe und Profite ging. Mit den Firmen verschwand die Infrastruktur, der bescheidene Komfort. Die alten – indianischen – Traditionen waren da schon lange erledigt. Es sind Lebensläufe verlassener Kinder, gescheiterter oder auch nur bescheidener Träumer, von Verrückten und tapferen Idealisten.

Cristoffs Bilder aus Patagonien sind nicht freundlich. Sie zeigen keine großartige Landschaft, sondern vor allem eine große Abgeschiedenheit: das, was am Straßenrand zurückbleibt, wenn die Überlandbusse ohne anzuhalten vorbeifahren.

Besprochen von Katharina Döbler

María Sonia Cristoff: Patagonische Gespenster. Reportagen vom Ende der Welt
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Berenberg Verlag, Berlin 2010
288 Seiten, 25,00 Euro


Deutschlandradio Kultur ist Medienpartner bei www.litprom.de – der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. mit der Weltempfänger-Bestenliste, auf der Sie derzeit auch dieses Buch finden.