Geister, Götter und Familienbande

Von Maya Kristin Schönfelder · 15.10.2011
Taiwan ist ein Schmelztiegel der Kulturen und Religionen: Daoismus, Buddhismus, Christentum, Islam und Judentum gehören zum Alltag. Die freie Ausübung des Glaubens ist in der Verfassung verankert. Die Toleranz der Bürger geht so weit, dass häufig innerhalb einer Familien mehrere Religionen praktiziert werden.
Es ist Samstagvormittag in der Altstadt von Taipei, der Hauptstadt von Taiwan. Vor dem Xiahai-Tempel drängeln sich die Menschen. Wie immer während des Geister-Fests, den Wochen, die in besonderer Weise dem Ahnenkult gewidmet sind. Viele haben Blumen als Opfergabe für Xiahai, den Gott der Stadt Taipei, mitgebracht. Ein junger Mönch verkauft dicke Bündel gelbes Papiergeld mit leuchtend roter Schrift. Das legen die Tempelbesucher später zusammen mit ihren aufgeschriebenen Gebeten Xiahai zu Füßen. Sie bitten den Stadtgott um Schutz für sich und ihre Familie.

Die Toten im Jenseits gehören in Taiwan selbstverständlich dazu. Mehr als acht Millionen Menschen auf der Insel fühlen sich dem Daoismus zugehörig. Die Mehrheit der 22 Millionen Taiwanesen praktiziert daoistische Rituale im Alltag, ohne sich explizit als Daoisten zu definieren. Die Religion geht auf die Schriften des chinesischen Philosophen Laotse zurück. Dao ist danach ein alldurchdringendes Prinzip der höchsten Wirklichkeit. Im Kosmos gibt es nichts, was fest ist: Alles ist dem Wandel unterworfen und bildet eine Einheit. Die Welt der Lebenden und die Welt der Toten gehören untrennbar zusammen.

Für eine Spende bereiten ein paar Frauen direkt im Tempel Essen zu, das in kleine Schüsseln gefüllt den Tempelgöttern geopfert wird. Es dient den Ahnen in der anderen Welt als Speise und den Göttern als Zeichen, dass man ihre Macht über Leben und Tod anerkennt.

Auch in der Song-Te Road Nummer 38 mitten im modernen Geschäftszentrum von Taipei dreht sich heute alles um Götter und Geister. Wie jedes Jahr feiern die Hausbewohner gemeinsam das Ahnenfest mit einem Opferritual unter den Palmen im Innenhof. Für zwei Wochen bin ich Teil ihrer Gemeinschaft: Als Haus-Gast von Frau Ko aus dem vierten Stock, die mir die gedeckte Tafel mit den Opfergaben ihrer Nachbarn zeigt.

Miryan Ko: "Reis, Bier, Kekse, alles mögliche. Huhn, Fisch, Schweinefleisch und Früchte dürfen nicht fehlen. Auf diesen Fähnchen stehen die Etage und der Name der Familie, von der die Opfergabe stammt. Hier steht '4. Stock', und das ist mein Name. "
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Herr Tsai, der Anwalt aus dem 11. Stock, übernimmt die Rolle des Vorbeters. Die anderen Hausbewohner halten einen Weihrauchstab in der Hand und sprechen das Gebet mit, das Herr Tsai intoniert. Auf sein Handzeichen hin verbeugt sich die Gruppe synchron. Mit geübten Handbewegungen spießen die Nachbarn die Weihrauchstäbe in Crackerpackungen, Mangos und Süßkartoffeln, die im Rauch bald kaum noch zu erkennen sind. Doch es ist nicht nur der Weihrauch, der das Auge trübt. Inzwischen hat der Hausmeister der Wohnanlage Feuer in drei offenen Metallkesseln entfacht.

Frau Ko greift beherzt in einen Karton, der bis zum Rand mit Dollarscheinen gefüllt ist. Mit vollen Händen wirft sie das Geld ins Feuer. Es knistert und zischt, als der erste Dollarhaufen verbrennt. Die übrigen Nachbarn tun es Frau Ko gleich. US-Dollar, Taiwan-Dollar, Yuan, Yen, Pfund, alles wird dem Feuer geopfert. Natürlich ist das nur bedrucktes Papier, beruhigt mich Frau Ko.

Miryan Ko: "Wir nennen diese Zeremonie Tschong Ün Ji. Damit verehren wir unsere Ahnen und die Geister. Alle Hausgemeinschaften und Büros feiern gemeinsam. Auch die meisten Familien, außer gläubige Buddhisten. Doch egal welcher Religionsgruppe man angehört: In den Büros machen alle mit."

Durch das Verbrennen wird den Ahnen das Geld ins Jenseits geschickt. Je mehr man den Geistern aus dieser Welt zukommen lässt, desto gnädiger sind sie gestimmt. Geister, denen es im Reich der Toten an materiellen Gütern mangelt, tauchen nach taiwanesischem Volksglauben im Diesseits auf und holen sich, was ihnen fehlt. Während des Geister-Festivals vermeiden Taiwanesen zum Beispiel den Kontakt mit dem Meer, weil die Geister in ihrer Vorstellung dann zwischen der Welt der Lebenden und der Toten pendeln. Um im Diesseits bleiben zu können, braucht ein Geist jedoch eine menschliche Hülle. Jedes Jahr berichten die Zeitungen über Ausländer, die trotz der Warnungen in dieser Zeit im Meer schwimmen gegangen und dabei zu Schaden gekommen sind.

Die Hausgemeinschaft der Song-Te Road 38 will offenbar kein Risiko eingehen. Es dauert fast eine Stunde, bis alle Geldscheine in Asche verwandelt sind. Die leiblichen Bedürfnisse der Geister sieht man dagegen offenbar pragmatisch: Mit dem Ende der Zeremonie verschwinden die geopferten Bierpaletten, Hühnerschenkel und Reissäcke zusammen mit ihren Stiftern im Lift.

Miryan Ko: "Wie die meisten Menschen in Taiwan habe ich keine bestimmte Religion. Wir beten zu den Ahnen. Das wirkt von außen wie Buddhismus, aber wir sind keine Buddhisten. Wir feiern Zeremonien nur zu bestimmten Feiertagen: Zum chinesischen Neujahrsfest, zum Laternenfest, zum Drachenbootfest oder zum Todestag der Eltern."

Miryam Ko war bis zu ihrer Pensionierung Managerin in einem Computerkonzern. Ihr Mann Sean Chen ist Finanzexperte und dient derzeit als Vize-Premier in der Regierung von Taiwan. Nächstes Jahr feiern sie 35. Hochzeitstag. Familie ist für Frau Ko und Herrn Chen sehr wichtig. Jeden Samstag Punkt 11:30 Uhr trifft sich die weit verzweigte Großfamilie bei Seans Mutter zum Lunch, in der gleichen Wohnung, in der Sean vor über sechs Jahrzehnten zur Welt kam. Ausnahmen von diesem Samstagsritual werden nur bei Staatsbesuchen und Auslandsreisen akzeptiert. Familie geht in Taiwan selbst für Regierungsmitglieder vor. Die Verstorbenen sind dabei Teil der Familie - und gleichzeitig Zentrum der religiösen Tradition.

Sean Chen: "Ich weiß, dass die Gläubigen im Christentum keine Bildnisse anbeten dürfen. Aber in Taiwan beten auch Katholiken ihre Ahnen an. In unseren Wohnungen stehen Fotos von unseren Vorfahren, denen wir regelmäßig huldigen. Das verbindet chinesische Tradition und Religion auf harmonische Weise."

Die Religionsfreiheit des multikulturellen Landes gilt international als vorbildlich. Bei der Sektion für Religionsfragen des taiwanesischen Innenministeriums sind aktuell 27 Religionen gemeldet. Die freie Ausübung des Glaubens ist in der Verfassung verankert. Die Toleranz der Bürger geht so weit, dass häufig innerhalb einer Familien mehrere Religionen praktiziert werden. Daoismus und Buddhismus haben im Land die größte Zahl der Anhänger. Doch auch Mormonen, Baha'i, Moslems oder Juden leben ihre Religion frei in Taiwan. Es gibt allein 724 katholische Gotteshäuser sowie fünf katholische Universitäten. Vatikanstadt ist auch deshalb einer der 24 Staaten, die mit der "Republic of China" offiziell diplomatische Beziehungen pflegen, sagt Sean Chen.

Sean Chen: "In Taiwan gibt es wirkliche Religionsfreiheit. Man kann hier alle Arten von Glauben finden. Taoismus, Buddhismus, Katholizismus, selbst der tibetische Buddhismus entfaltet sich hier."

Eine zahlenmäßig große Minderheit bilden die 14 offiziell registrierten indigenen Stämme Taiwans, die im amtlichen Sprachgebrauch Aborigines heißen. Die meisten Ureinwohner des Inselstaates sind in den letzten Jahrzehnten zum Christentum konvertiert. Ihre Sprachen und Traditionen werden von der Zentralregierung besonders gefördert. Der Aborigines-Markt auf dem Rathausplatz aus Anlass des Geisterfestivals verlangt deshalb Sean Chens persönlichen Einsatz. Schließlich ist er in der Regierung unter anderem für den Verbraucherschutz zuständig. Der Vize-Premier trägt Shorts und Baseballmütze, denn eigentlich ist er auf privater Einkaufstour. Doch ehe er sich's versieht, umringt ihn ein Volkstanzensemble, das ihn in seinen Reigen aus Tanz und religiösen Ritualen integriert. "Wir sind eine Familie", singen die Ureinwohner Taiwans zusammen mit ihrem mehrheitlich chinesischstämmigen Publikum.

Die Einheit des Landes über Religion und Herkunft hinweg steht auch bei der Parade zum Geisterfest in der Hafenstadt Keelung im Mittelpunkt. Der Umzug mit Musik und Feuerwerk gehört zu den Höhepunkten der Festlichkeiten und wird live im Fernsehen übertragen. Bunt geschmückte Papierwagen mit Riesengöttern aus Pappmache folgen auf Aborigines-Tanzgruppen in Lendenschurz. Repräsentanten der katholischen Jugend jonglieren mit blinkenden Kegeln. Reife Damen in Baströckchen konkurrieren mit ihnen um die Zuschauergunst. Auch Präsident Ma ist gekommen. Vor laufender Kamera ruft er seine Landsleute zur Achtung vor den Ahnen auf.

Während der Parade führen mehrere Lokalpolitiker winkend je eine Menschengruppe in identischen T-Shirts an. Sie teilen sich einen Familiennamen, auch wenn sie nicht im westlichen Sinne zu einer Familie gehören, erklärt Miryan Ko. Die sogenannten Familiengruppen pflegen ihre Zusammengehörigkeit in eigens dafür errichteten Familientempeln, wie der für Familie Li, den mir Miryan am nächsten Tag zeigt.

Miryan Ko: "Das ist ein Schrein für die Familie mit dem Namen Li. Die meisten Chinesen in Taiwan haben solch einen Familientempel in ihrer Heimatstadt. Das Gebäude sieht zwar aus wie ein Tempel, aber der Schein trügt, es ist ein Schrein. Anders als im Westen ist hier allerdings niemand begraben. Der Schrein dient nur zur Anbetung der Ahnen."

Der Name Li ist in Taiwan ungefähr so häufig wie in Deutschland der Name Schmidt. Der Schrein dient deshalb nur den Lis mit Vorfahren in dem Viertel, in dem er steht. Miryam Ko und ihr Mann Sean Chen haben keine Familientempel in Taiwan, zu dem sie gehören. Zwar wurden beide in Taiwan geboren. Ihre Vorfahren stammen jedoch vom chinesischen Festland. Nach der chinesischen Tradition ist Heimat aber nicht der eigene Geburtsort, sondern die Region, aus der die Ahnen stammen. Häufig stehen die Familientempel dicht bei einem daoistischen Gotteshaus. Denn doppelt gebetet hält besser, sagt Miryam Ko.

Der Matsu-Tempel in Lugang in Mitteltaiwan gehört zu den schönsten des Landes. Das Gotteshaus ist der Göttin Matsu gewidmet. Ursprünglich war Matsu die lokale Schutzheilige der Seeleute und der Fischer. In Taiwan gibt es mehr als 1000 Tempel, die sich dem Matsu-Kult verschrieben haben. Matsu gilt inzwischen als Schutzpatronin von ganz Taiwan.

Wie man sich in einem taiwanesischen Tempel richtig verhält, erklärt mir Carol Yu, eine Freundin meiner Gastfamilie. Die Herausforderung beginnt schon, bevor ich den Tempel überhaupt betreten habe. Welcher der drei identisch aussehenden Eingänge ist der richtige?

Carol Yu ist 21 und studiert Internationale Beziehungen an der National Taiwan University. Sie führt mich durch die verschachtelte Tempelanlage, in deren Zentrum eine Statue von Matsu thront.

Carol Yu: "Matsu wird in der Regel von zwei Göttern begleitet. Den einen nennen wir Tien Li Eh, das bedeutet 'der, der 1000 Meilen weit sehen kann'. Der andere ist Shyn Fung Öh. Er kann alles auf der Welt hören. Die beiden gehören zu Matsu."

Immer wieder werfen die Tempelbesucher kleine rote Holzstückchen in Form eines Halbmondes vor Matsu auf den Boden. Sie dienen als Orakel, ob Matsu die Frage des Betenden überhaupt anhören will. Nur wenn ein Holzstück mit dem Rücken nach oben und eines nach unten liegt, darf man sein Problem im stillen Gebet schildern und bekommt von Matsu einen Orakelspruch.

An diesem Tag sind es vor allem junge Leute, die Matsu um Beistand bitten. Manche bringen Orchideen als Opfergabe, andere beschenken Matsu mit gelbem Papiergeld. Ob es um Liebe geht oder darum, die nächsten Prüfungen zu bestehen, bleibt ihr Geheimnis. Auch ob Matsu ihnen wirklich hilft, werde ich nie erfahren. Carol jedenfalls bittet Matsu per Orakelhölzchen um Erlaubnis, von der Meeresgöttin ein Foto zu machen. Zweimal wird Carols Anliegen abgelehnt. Schließlich ändert sie ihre Frage und bittet darum, dass ich den Tempel fotografieren kann, ohne die Statue der Göttin selbst. Matsu stimmt zu.

Carol Yu: "Wenn mich jemand fragt, ob ich glaube, dass die Götter wirklich existierten und mir helfen, dann sage ich ja. Aber im Grunde geht es um Psychologie. Man geht in den Tempel, um zu den Göttern zu beten. Damit konzentriert man seine Gedanken auf sein Ziel. Das ist die Religion, an die ich glaube. "