Geister der Geschichte
22.06.2012
Jeden dieser acht Texte aus osteuropäischen Ländern möchte man mit einem Ausrufezeichen versehen: Sie besitzen Welthaltigkeit, Nachdenklichkeit, sprachliche Autonomie und eine immer wieder anders gelagerte bizarre Note.
Dieses kleine Taschenbuch bedeutet für seine Leser nicht nur eine Entdeckung, sondern gleich mehrere. Acht Erzählungen aus sieben Ländern sind in diesem von Katharina Raabe zusammengestellten Band versammelt – und jede einzelne davon eröffnet eine eigene Welt mit ihrer wechselhaften Historie, mit ihren eigenen inneren Gesetzmäßigkeiten, ihrer besonderen Sprache, ihrem speziellen Ton – und ihren Legenden und Mythen.
Es beginnt mit Mircea Cartarescu, dem genialen Übersetzer des irrealen rumänischen Sozialismus in die Literatur, der sprachgewaltig und zartfühlend von einer untergegangenen türkischen Donauinsel erzählt. Das Ganze hört sich mysteriös und wahnsinnig an, und doch ist es die historische Wahrheit: Ada-Kaleh wurde erst 1971 geflutet – für ein gigantisches Staudammprojekt.
Die Geschichten des Litauers Marius Ivaskevicius und der Russin Swetlana Wassilenko handeln ebenfalls von historischen Orten mit hohem Symbolgehalt, deren geisterhaft gewordene Existenz bis in die Gegenwart hinein reicht. Bei dem einen geht es um den gigantischen Grenzbahnhof Werschbolowo, der einst den Übergang zwischen Russland und dem Westen markierte; bei der anderen um eine geheime Stadt in der südrussischen Steppe, in der während des Kalten Krieges Atomraketen abschussbereit gehalten wurden. In beiden Erzählungen sind auf emotionale, aber nicht nostalgische Weise geschichtliche Ereignisse mit biografischen Einzelheiten verknüpft.
Wojciech Kurczok rechnet in einer bösen Satire mit polnischen Nationalstolz und Widerstandsgeist ab; zum Anlass nimmt er die Fußballweltmeisterschaft von 1982, als Polen es wider Erwarten ins Halbfinale schaffte. Und auch Jáchym Topol findet scharfe Worte für die heimische Dissidentenkultur von einst.
Dann wären da noch die metaphysischen Fabeln der Ungarn László Darvasi und György Dragoman – und eine sprachlich wunderschöne und erzählerisch pralle Geschichte von der Krim des Ukrainers Serhij Zhadan.
Jeden dieser Texte möchte man mit einem Ausrufezeichen versehen, denn alles, was man sich von Literatur wünschen kann, ist da: Welthaltigkeit, Nachdenklichkeit, sprachliche Autonomie und als Dreingabe eine immer wieder anders gelagerte bizarre Note.
Für das Lesen sollte man sich viel, viel Zeit lassen und nicht mehr als eine dieser Geschichten pro Tag zu sich nehmen, sonst fühlt man sich, als hätte man eine Überdosis einer unbekannten Droge erwischt.
Ja, es ist wirklich ein Sammelband der Höhepunkte, wie man ihn selten in die Hand bekommt.
Besprochen von Katharina Döbler
Katharina Raabe (Hrsg.): Das wilde Leben. East Side Stories
Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2012
193 Seiten, 8,99 Euro
Es beginnt mit Mircea Cartarescu, dem genialen Übersetzer des irrealen rumänischen Sozialismus in die Literatur, der sprachgewaltig und zartfühlend von einer untergegangenen türkischen Donauinsel erzählt. Das Ganze hört sich mysteriös und wahnsinnig an, und doch ist es die historische Wahrheit: Ada-Kaleh wurde erst 1971 geflutet – für ein gigantisches Staudammprojekt.
Die Geschichten des Litauers Marius Ivaskevicius und der Russin Swetlana Wassilenko handeln ebenfalls von historischen Orten mit hohem Symbolgehalt, deren geisterhaft gewordene Existenz bis in die Gegenwart hinein reicht. Bei dem einen geht es um den gigantischen Grenzbahnhof Werschbolowo, der einst den Übergang zwischen Russland und dem Westen markierte; bei der anderen um eine geheime Stadt in der südrussischen Steppe, in der während des Kalten Krieges Atomraketen abschussbereit gehalten wurden. In beiden Erzählungen sind auf emotionale, aber nicht nostalgische Weise geschichtliche Ereignisse mit biografischen Einzelheiten verknüpft.
Wojciech Kurczok rechnet in einer bösen Satire mit polnischen Nationalstolz und Widerstandsgeist ab; zum Anlass nimmt er die Fußballweltmeisterschaft von 1982, als Polen es wider Erwarten ins Halbfinale schaffte. Und auch Jáchym Topol findet scharfe Worte für die heimische Dissidentenkultur von einst.
Dann wären da noch die metaphysischen Fabeln der Ungarn László Darvasi und György Dragoman – und eine sprachlich wunderschöne und erzählerisch pralle Geschichte von der Krim des Ukrainers Serhij Zhadan.
Jeden dieser Texte möchte man mit einem Ausrufezeichen versehen, denn alles, was man sich von Literatur wünschen kann, ist da: Welthaltigkeit, Nachdenklichkeit, sprachliche Autonomie und als Dreingabe eine immer wieder anders gelagerte bizarre Note.
Für das Lesen sollte man sich viel, viel Zeit lassen und nicht mehr als eine dieser Geschichten pro Tag zu sich nehmen, sonst fühlt man sich, als hätte man eine Überdosis einer unbekannten Droge erwischt.
Ja, es ist wirklich ein Sammelband der Höhepunkte, wie man ihn selten in die Hand bekommt.
Besprochen von Katharina Döbler
Katharina Raabe (Hrsg.): Das wilde Leben. East Side Stories
Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2012
193 Seiten, 8,99 Euro