Geist oder Wissen?

Von Stephan Hilsberg |
Wer heute nach Leipzig kommt, sieht die 1968 von der SED gesprengte Kirche wieder an ihrer alten Stelle auf dem Campus der Universität stehen. Interessanterweise gab es - als der Wiederaufbau nach der Wende möglich wurde - heftigsten Widerstand dagegen, vor allem aus der Universität selbst.
Die Herausbildung der europäischen Universität ist seit ihrem Beginn im 11. Jahrhundert eng mit dem christlichen Bildungsgedanken verbunden. Vorher gab es überhaupt nur innerhalb der Kirche schulische Institutionen. Die Kirche war gewissermaßen Geburtshelfer und Know-how-Geber für die Erfindung dieser neuen Bildungseinrichtung. Wesentliche Merkmale der europäischen Universität waren die Eigenverantwortung für Forschung und Lehre und die Selbstverwaltung, sprich Autonomie. Beide sind seitdem unverzichtbare Voraussetzungen für eine lebendige Wissenschaft geblieben und wurden auch immer von der Kirche garantiert. Man kann sogar sagen, dass sie theologisch begründet sind. Denn die Freiheit des menschlichen Geistes ist eine uns Menschen von Gott verliehene Fähigkeit. So heißt es in der Schöpfungsgeschichte: "Zu seinem Bilde schuf er ihn!"

Die Kirche ist also auch in ihrer Universität zu Hause. Und das gilt auch da, wo die Wissenschaften weit entfernt von Philosophie und Theologie agieren.

Doch die Freiheit der Wissenschaft musste Spannungen zur Institution Kirche, die ja eben keine rein religiöse Angelegenheit, sondern immer auch eine politische Institution war, zur Folge haben. Und natürlich hat die Kirche versucht, der Wissenschaft Grenzen zu setzen. Sie war ihren Emanzipationsbestrebungen im Wege. So kann man zwar sagen, dass Kirche und Universität einerseits Geist vom gleichen Geiste sind, andererseits aber auch, dass zwischen ihnen heftigste Auseinandersetzungen vorprogrammiert waren. Das ist bis heute so geblieben, und war vielleicht einer der Garanten für die gewaltige Erfolgsgeschichte, die die Universitäten in Europa geschrieben haben. Und es ist deshalb auch kein Widerspruch, dass das Engagement der Kirchen für und in den Universitäten bis heute sichtbar ihren Ausdruck in den allerschönsten Universitätskirchen gefunden hat.

Eine davon stand, bis die SED unter Ulbricht sie hat 1968 sprengen lassen, auf dem Campus der Leipziger Universität. Sie war ein Schmuckstück der Stadt Leipzig und verkörperte einen ihrer kulturellen Lebensmittelpunkte. Johann Sebastian Bach und Max Reger haben hier gewirkt. Luther selbst hat die Universitätskirche einst eingeweiht. Die Sprengung der Kirche durch die SED war daher nichts anderes als eine kulturelle, antichristliche und kommunistische Barbarei. Allerdings empfanden sich die Kommunisten dabei als an der Spitze der europäischen Aufklärung stehend. Sie nahmen die emanzipatorischen innerwissenschaftlichen Bemühungen auf, gedachten aber das Problem des Spannungsverhältnis mit der christlichen Religion ein für alle mal durch ihre Vernichtung lösen zu können. Es ist kein Zufall, dass die SED nicht nur Kirchen sprengte, sondern auch die Freiheit von Forschung und Lehre selbst außer Kraft setzte. Das kommunistische Denken beinhaltete keine neue Lösung für das Verhältnis von Universität und Kirche, sondern präsentierte sich als totalitärer Machtanspruch. Interessanterweise gab es - als der Wiederaufbau nach der Wende möglich wurde - heftigsten Widerstand dagegen, vor allem aus der Universität selbst.

Für sie war die Wiederinbetriebnahme einer Kirche in einer modernen Universität ein altmodisches Symbol, das nicht mehr in unsere Zeit passte. Auch sie wollten sich äußerlich von dem Spannungsverhältnis zur Kirche befreien. Das mag aus universitärem Blickwinkel, vor dem Hintergrund der modernen europäischen Universität, des erreichten Standes der Aufklärung und der erreichten wissenschaftlichen Emanzipation nachvollziehbar sein, doch angesichts der Sprengungsgeschichte der Kirche indiskutabel. Und Gott sei Dank zum Scheitern verurteilt.

Wer heute nach Leipzig kommt, sieht die Kirche wieder an ihrer alten Stelle auf dem Campus der Universität stehen. Durch einen genialen Kunstgriff des holländischen Architekten van Eggerat sehen wir die Umrisse des wiedererrichteten gotischen Kirchengiebels merkwürdig verrückt, quasi wie im Einstürzen begriffen. Dies stellt jenen Moment dar, als der Sprengmeister bereits die Sprengung ausgelöst hatte, und das Bauwerk in sich zusammenzufallen begann, seiner Stabilität und inneren Spannung beraubt. So wird sie jetzt dort stehen, die alte, neue Universitätskirche, und sie wird uns auf diese Weise im wahrsten Sinne des Wortes an die Zerbrechlichkeit der Kirche in der Universität erinnern, die uns einst eine Freiheit brachte, mit deren Folgen wir alle heute gut leben können, aber auch müssen.

Stephan Hilsberg, Publizist und SPD-Politiker, 1956 im brandenburgischen Müncheberg geboren, wuchs in der DDR auf. Er arbeitete dort als Informatiker. Ende der 80er-Jahre engagierte er sich in der Friedensbewegung der Evangelischen Kirche. Am Beginn der friedlichen Revolution 1989 zählte er zu den Gründungsmitgliedern der ostdeutschen SPD, war ihr erster Sprecher und später Geschäftsführer. Hilsberg gehörte der letzten und frei gewählten Volkskammer 1990 an. Anschließend war er Bundestagsabgeordneter bis 2009 und in dieser Zeit unter Anderem bildungs- und forschungspolitischer Sprecher seiner Fraktion, stellvertretender Fraktionsvorsitzender und zwei Jahre lang Staatssekretär im Verkehrsministerium. Stephan Hilsberg ist selbstständig als Autor und Publizist tätig.
Stephan Hilsberg, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion
Stephan Hilsberg© stephan-hilsberg.de
Mehr zum Thema