Geht das Abendland unter?

Von Claus Koch |
Ein Wort, das Beruhigung aussagt, Ende der kriegerischen Stürme und Revolutionen. Ein langsamer, manchmal schmerzhafter Abschied in anständiger Form, Abschied auch vom Staat, seiner höchsten Kulturleistung, vom großen Wollen, von glänzender Herrschaft.
Heute ist es ein fast verschollenes Wort. Nur noch wenige, rückwärts gewandte Geister können es unbefangen aussprechen. Es bezeichnet mehr eine Haltung und eine Geschichtserinnerung als einen fest umrissenen Raum und seine Bewohner. Sicherlich, Europa ist gemeint, aber nicht das heutige Europa des gemeinsamen Marktes und der konturlosen politischen Union. Als der Kern dieser Union nach dem letzten Weltkrieg gelegt wurde, mochten zwar einige an Abendland denken, aussprechen wollte es kaum einer der damaligen Politiker.

Das neue Europa sollte als ein Verbund von Interessen heranwachsen, die Vorstellung von einem Reich, die ja immer mit dem Abendland verbunden war, wollte man meiden. Für die Deutschen war das Wort unmöglich geworden, seit in den zwölf braunen Jahren ein germanisches Reich zum Leitstern erhoben wurde, der das Abendland überstrahlen und beherrschen sollte. Über den Ruinen des Dritten Reichs war das Abendland zur bösen Schimäre geworden.

Schön hatte das Wort geklungen, als man zugleich noch vom Morgenland sprechen konnte. Goethe hat in seinem west-östlichen Divan dem Abendland seine Farbe gegeben:

"Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Okzident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände."

Christlicher Dom und Minarett nebeneinander: Die Einheit der Welt in ihrem monotheistischen Religionen. Freilich, erst vom christlichen Abendland aus bekam der universalistische Erdkreis seinen Namen und seine Bedeutung. Nur in dieser kleinen Region, in der Staaten gegründet und Nationen gebildet wurden, konnte die universalistische Idee von der Bewohnerschaft des Planeten entstehen, wurde eine Weltgemeinschaft denkbar. Und ohne Universalismus kein Abendland. Diese vergangene Definitionsmacht des europäischen Abendlandes wird noch weiter bestehen, wenn wir längst den Eurozentrismus verloren gegeben haben und sich die Welt im Markt und neuen Kraftzentren ordnet.

Einen schillernden, zugleich melancholischen und gefährlichen Klang bekam das Wort kurz nach dem ersten Weltkrieg, als der deutsche Kulturphilosoph Oswald Spengler seine wuchtige Schrift vom Untergang des Abendlandes veröffentlichte. Er sah die Weltgeschichte als einen Ablauf von Kultur prägenden Imperien, dessen achtes und letztes das nunmehr vergehende Abendland sein sollte. Zwar pessimistisch über die europäische Zukunftskraft, begriff Spengler Preußen als letzten Nachfolger der Römer, er verstand dies zugleich als Appell. Die noch immer faustisch gestimmten Deutschen könnten vor allen anderen eine imperiale Schutzordnung garantieren, eine technokratische Diktatur aus der Krise. In jenen 20 Jahren der Zwischenkriegszeit holten sich vor allem Neukonservative und Rechte ihre starken Tat-Parolen aus dem Untergang des Abendlandes. Die Nazis konnten Spenglers Weltpanorama nur halb akzeptieren. Der Mann, der sich ihnen nicht zur Verfügung stellte, war ihnen zu pessimistisch, ja fatalistisch. In der Tat war er es, der dem einst poetisch strahlenden Wort die Tönung der Aussichtslosigkeit gab.

Es sind erst wenige Europäer, aber sie werden seit dem Irak-Krieg Amerikas ständig mehr, die sich durch die amerikanische Hybris an die Untergänge ihrer eigenen Imperien erinnert fühlen. Es scheint ihnen, dass die letzte Weltmacht, die Spengler von 80 Jahren nicht zum Abendland zählte, ihren Höhepunkt überschritten habe und ihrerseits dem Abend zugehe.

Verblendet wäre es aber, gegen die verwirrten Zuckungen des neuen Abendlandes Amerika noch einmal das alte und ehemalige aufrichten zu wollen. Auch wenn noch einiges vom Geist des christlichen antiken Abendlandes in uns steckt, auch wenn der Eurozentrismus eine unerhörte Geschichtsleistung war: Das politische Erbe dieser Epoche können wir nicht retten, nicht antreten. Wenn schon das Morgenland eine Schimäre war, eine schöne Schimäre – auch das Abendland bleibt ein Gebilde des Wahns. Darauf lässt sich nichts bauen. Es lässt sich nichts mehr daran ändern, dass das abendländische Europa von Amerika und von Amerikanismus überwältigt worden ist – und zwar so gründlich, dass es nicht mehr restauriert werden kann. Das gehört heute zur Ausgangslage. Daran ändert auch nichts, dass das letzte Imperium nunmehr ins Wanken gerät. Wenn die Amerikaner mit der Schwäche belastet sind, dass sie allzu rasch ihre Vergangenheit vergessen und aus ihr nichts lernen können, die Europäer bleiben von der ständigen Bereitschaft zur Illusion verschont. Wir haben das Abendland gänzlich hinter uns. Leider und Gott sei Dank.

Claus Koch, in München geboren, studierte Philosophie, Ökonomie und Geisteswissenschaften und war zunächst in einem Wirtschaftsverlag tätig. Seit 1959 arbeitet er als freier Journalist für Presse und Rundfunk, seit 2003 gestaltet er den Mediendienst "Der neue Phosphorus". In den sechziger Jahren redigierte Koch die Monatszeitschrift "atomzeitalter", später war er Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift für Sozialwissenschaft "Leviathan" und Mitarbeiter mehrerer sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen "Ende der Natürlichkeit - Streitschrift zur Biotechnik und Biomoral", "Die Gier des Marktes - Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft" und "Das Ende des Selbstbetrugs - Europa braucht eine Verfassung".