Gehry schon vor 45 Jahren

Rezensiert von Adolf Stock · 31.05.2006
Völlig zu Recht hält Verleger Ernst Wasmuth seinen neuen Bildband für ein ganz besonderes Buch. Zwar sind die 170 Fotografien nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs, aber sie reichen völlig aus, um die landläufigen Klischees über die Ost-Berliner Architektur gründlich durcheinander zu bringen.
"Das ist die Faszination einer untergegangenen Welt, deren Anfänge ich als Junge in den 50er Jahren noch miterleben durfte, als ich sogar die Ruinen der Sperlingsgasse noch gesehen habe. Es ist der Reiz einer untergegangen Welt, es ist der Reiz auch dieser Archivfotos, die ja nicht gemacht wurden, um irgendwelche Leute zu erbauen, sondern die dokumentarischen Charakter hatten."

Völlig zu Recht hält Verleger Ernst Wasmuth seinen neuen Bildband für ein ganz besonderes Buch. Zwar sind die 170 Fotografien nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs, aber sie reichen völlig aus, um die landläufigen Klischees über die Ost-Berliner Architektur gründlich durcheinander zu bringen. Und so ist dieser Bildband ein Glücksfall für all jene, die es genauer wissen wollen, wie es damals war, als in Ost-Berlin geplant, gebaut und abgerissen wurde.

Auf den ersten Fotos sieht man das zerstörte Berlin. Wo schon der Schutt beseitigt ist, stehen einzelne Häuser und Ruinen wie Bühnenkulissen in einer weiten Trümmerlandschaft. Auf den späteren wird dann der Wiederaufbau von Ost-Berlin dokumentiert. Ein Foto beispielsweise zeigt das Modell der geplanten Stalinallee. Doch nicht die Straße, wie wir sie heute kennen, sondern eine großzügige Avenue im Stil der Bauhaus-Moderne, wie sie der Architekt Hermann Henselmann eigentlich bauen wollte. Das scheiterte an der SED, die sich damals lieber an russischen Vorbildern orientierte.

Ein neu erfundener nationaler Stil prägte Anfang der 50er Jahre die Architektur des Wiederaufbaus und damit auch die Stalinallee. Die sozialistische Meile wird mit ein paar stillen, melancholischen Aufnahmen dokumentiert. Auf einem Foto von 1955 sieht man einen kleinen Jungen mit Schiebermütze, wie er vor der Kulisse des stalinistischen Häusergebirges mutterseelenallein Dreirad fährt.

Andere Fotos sind reine Utopie. Die Ausstellungshalle, die Henselmann 1961 für den Alex plante, wurde nie gebaut. Doch das Modell kommt so futuristisch und modisch daher, als hätte sich Frank Gehry schon vor 45 Jahren nach Ost-Berlin verirrt. Eva-Maria Barkhofen, Leiterin der Architekturabteilung der Berlinischen Galerie, ist gerade auf solche Schätze stolz.

"Und was wir natürlich noch aus der früheren Zeit, aus der unmittelbaren Nachkriegszeit unglaublich bewundert haben - weil es einfach nicht mehr bekannt war - ist, dass dort Modelle, Zeichnungen, Entwürfe aus Wettbewerben und aus bestimmten Projekten, dass die erhalten sind in Fotodokumenten, die es im Original nicht mehr gibt."

Schon in den 60er Jahren bauten Henselmann und seine Kollegen wieder modern. Sein Haus des Lehrers am Alexanderplatz, jenes berühmte Hochhaus mit der bunten Mosaik-Bauchbinde und dem angrenzenden Kuppelsaal, gehört zu den besten Bauten der Nachkriegsmoderne im Ostteil der Stadt. Aber auch das gehört für den Verleger Ernst Wasmuth längst zur Vergangenheit.

"Man blickt auf die sechziger Jahre, auf den Palast der Republik, die Konstruktionsphase und alles mögliche zurück, man blickt auf ein Stück geschlossenes Kapitel deutscher Geschichte, wie es sich in seinen Bauformen und in seinem Urbanismus ausgeprägt hat."

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Zum einen, weil die Geschichte der Ostbauten noch weiter geht, auch wenn sie heute von Denkmalpflegern und der Abrissbirne geschrieben wird, und zum andern, weil gerade die streng chronologische Abfolge der Bilder beweist, dass sich die Topographie der Stadt nicht immer geradlinig fortschreibt, sondern in kürzester Zeit radikal verändert werden kann.

Eine Fotografie von 1974 zeigt die freiliegende Stahlkonstruktion beim Bau des Palasts der Republik. Solch eine Aufnahme könnte man zurzeit wieder machen, nur dass sie diesmal nicht den Aufbau, sondern den Abriss dokumentieren würde. Und so ist man sich gar nicht mehr sicher, ob sich der Charakter von Ost-Berlin besser über den Aufbau oder über den Abriss begreifen lässt.

1949 besteht das Zeughaus Unter den Linden nur noch aus Fassadenresten. Es ist eigentlich reif für den Abriss. Doch wie die meisten Gebäude Unter den Linden wird auch das Zeughaus wieder aufgebaut. Schinkels Bauakademie ist auch schwer beschädigt, aber längst kein hoffnungsloser Fall. Elf Jahre später wird sie dann doch noch abgerissen, um Platz für den Neubau des Außenministeriums zu schaffen. Ein Gebäude, das es heute auch nur noch auf Bildern gibt, weil es gleich nach der Wende mit der Abrissbirne Bekanntschaft machte.

Benedikt Goebel hat zusammen mit Andreas Butter die vielen Bilder archivierte, dabei hat er besonders sorgfältig auf die Fotografien geschaut.

"Gerade auf den Aufnahmen aus den ersten Nachkriegsjahren, da kann ich jedem nur raten, der Entdeckungen machen will, er soll doch mal eine Lupe nehmen, und auf Litfasssäulen zu lesen was da zu lesen war und Straßenschilder entdecken, dass sie teilweise in Kyrillisch, doppelt, in verschiedenen Schriftsystemen beschriftet waren, und den Menschen mal genau in die verhärmten Gesichter schauen. Ja, es ist viel zu entdecken."

Kriminalistischer Eifer hilft beim Betrachten der Bilder, denn je genauer man hinschaut, umso mehr verknüpfen sich eine architektonische und eine soziale Welt, die längst vergangen ist und die sich dann doch in ihrem Abbild noch einmal zu erkennen gibt.

In den siebziger Jahren wurde die Architektur durch genormten Städtebau ersetzt. Die Ära der Plattenbauten begann. Das Foto mit den gestapelten Fertigteilen im Plattenwerk Hohenschönhausen lässt das Schlimmste befürchten. Und dann, kurz vor Toresschluss, kam sogar die Postmoderne bis Ost-Berlin. Das Nikolaiviertel wurde wieder aufgebaut und geriet zu einer phantasievollen Mischung aus dem hanseatischen Rostock und der lustigen Düsseldorfer Altstadt.

Wer glaubt, Bildbände seien einfacher zu lesen als dicke Wälzer mit ganz viel Text, wird hier schnell eines Besseren belehrt. Für Liebhaber der Stadt, für Urbanisten, historisch Interessierte und Flaneure ist der Band mit dem Fotografien aus Ost-Berlin einfach unentbehrlich. Ja, man hat Lust, laut auszurufen: Berlin ist nicht nur Schinkel, nicht nur modischer Sandstein, Ku'damm und Kommerz! Schauen Sie nicht an Ost-Berlin vorbei, Sie könnten ein gutes Stück Berlin versäumen!


Eva-Maria Barkhofen (Hrsg.): Ost-Berlin und seine Bauten. Fotografien 1945 bis 1990
Wasmuth-Verlag, Tübingen 2006, 196 Seiten mit 170 Abbildungen