Gehen auf dem Pflaster der Gedächtnisse

Von Esther Dischereit · 23.09.2007
Wenn ich am Hackeschen Markt in Berlin-Mitte über die Straße laufe, sehe ich vor mich, auf den Boden. Wenn ich nicht vor mich sehe, könnte es sein, ich würde unachtsam auf einen der messingfarbenen Steine treten, mit denen der Straßenbelag unterbrochen ist.
An diesen Stellen sind oft mehrere davon zu sehen, kleine Gruppen. Familiengruppen. Es sind Erinnerungssteine, auf denen der Name von Thea Schneebaum und Gerd Salinger vermerkt ist, Jahrgang, Deportiert, Ermordet. Wenn man den Namen des Konzentrationslagers weiß, steht er dabei. Die Steine sind da platziert, wo die Menschen gewohnt haben.

Eines der Häuser ist eingerüstet. Im Durchgang befinden sich das Anne-Frank-Zentrum und das Museum der ehemaligen Blindenwerkstatt von Otto Weidt - der mit der Herstellung von Besen und Bürsten jüdischen Angestellten Hilfe und Unterschlupf bot. Die Metallstange des Baugerüsts liegt auf einem Erinnerungsstein auf, obwohl es keine Sache gewesen wäre, die Metallstange Zentimeter davon entfernt auf dem gewöhnlichen Pflaster aufzusetzen. Die Erinnerungssteine - sie wurden "Stolpersteine" genannt - sind kaum zu sehen. Leute sehen sie im alltäglichen Geschehen oder nicht und laufen darüber hinweg.

In meiner Straße sind im Juli 2007 neue messingfarbene Steine aufgetaucht. Sie sind blank, glänzend, frisch poliert. Es sind noch nicht viele Menschen darüber gegangen. Ach, dachte ich, jetzt rücken mir die Toten ganz nah, ich umlaufe die Stelle sorgsam. Das Erinnern nimmt mit diesen vier Steinen in der Nachbarschaft Platz.

Ich brauche mich nicht sorgen, dass ich es aushalten müsste, über tausende von Erinnerungssteinen zu gehen. Es wird diese Initiative nicht geben, die ausgelöschten Leben tausendfach in den Straßen zu markieren. Es sind Tupfen, fast verschwindende - Unterbrechungen im gewohnten Bild.

Die Aktion der Steine hat die offizielle Unterstützung der jüdischen Vertretungen nicht gefunden. Das macht nichts, das ist in anderen Belangen auch so. Die liberale Synagogengemeinde Berlin in Zehlendorf wird auch nicht finanziert und dennoch wächst die Zahl der Besucherinnen und Besucher beständig.

Auch die Leo Baeck-Sommeruniversität mit ihrem Jewish Studies Program an der Humboldt Universität ist solch ein Zeichen, dass das jüdische Leben außerhalb seiner offiziellen Repräsentanzen nach Ausdrucksformen sucht und sie findet. Die Studierenden beschäftigten sich mit den Formen jüdischer Identitäten im Deutschland der Gegenwart - Identitäten, ein Pluralwort….ein transatlantisches Gespräch und ein Versuch, die Entwicklung jüdischer Identitäten in einen globalen Zusammenhang zu stellen. Sie haben sich in Deutschland und Europa mit der Geschichte des Exils, der Migration und Europäisierung verändert.

Wie wird das Jüdische in der nicht-jüdischen Öffentlichkeit wahrgenommen? In periodischen Abständen müssen Politiker korrigiert werden, die einen verharmlosenden oder beleidigenden Vergleich gezogen haben; die bedrohliche Formen des herrschenden Finanzkapitalismus der Schimäre des Weltjudentums anlasten und ähnliche Antisemitismen, die alt sind und beständig. Das wird von wieder anderen gerügt. Zu Recht. Neonazis treten offener und dreister auf. Antworten bleiben nötig und schmecken bitter.

Ich komme zurück zu den Steinen der Erinnerung: einer davon ist unmittelbar vor dem Eingang eines heutigen türkischen Gemüsemarkts verlegt. Eine Jugendinitiative - Theater Grenzen-los - in einem von zahlreichen Migranten aus der Türkei und aus arabischen Ländern bewohnten Stadtteil in Berlin inszeniert das Leben der Shoah-Überlebenden Hedi Epstein. Diese Initiative wird wiederum wegen ihres vorangegangenen Theaterstücks "Intifada im Klassenzimmer" bzw. "Moabit 21" des Antisemitismus beschuldigt.

Die Lage Israels und der Antisemitismus in Europa entwickeln sich für Juden in der Tat zu einer Bedrohung. Ein kritischeres Verhältnis zur israelischen Politik einzufordern, bringt Nicht-Juden nicht selten den Vorwurf des Antisemitismus ein, jüdischen Stimmen hingegen den des jüdischen Selbsthasses.

Nach wie vor sieht sich der israelische Staat als das Zentrum jüdischer Existenz überhaupt: "...nie die zentrale Rolle vergessen können, die der Staat Israel für unsere Identität spielt." Sagte Ministerpräsident Ehud Olmert in seiner diesjährigen Neujahrsansprache – Olmert grüßt aus Jerusalem als der "ewigen und ungeteilten Hauptstadt des Staates Israel und des jüdischen Volkes".

Allmählich wird jedoch in Europa offenbar, dass in der Diaspora unabhängige polyphone jüdische Stimmen zu hören sind. Sie sind im kulturellen Leben als eigenständige Positionen in Kunst und Wissenschaft vertreten und wollen sich nicht von der Billigung durch offizielle Instanzen abhängig machen. Sie betrachten ihren Zustand nicht als vorübergehend oder "aushäusig".

Wer spricht heute als legitime Stimme der Juden in der Diaspora? Trägt der Begriff überhaupt noch? Das ist eine der Fragen, um deren Beantwortung es aktuell geht. Es wäre hilfreich, wenn in der öffentlichen Anerkennung diese Entwicklung nachvollzogen würde und jüdische Kulturen Unterstützung finden könnten. Und zwar im Kontext dessen, wie die Multikulturalität dieser Gesellschaft sichtbar wird und weniger unter dem Gesichtspunkt, was die Repräsentanzen dazu sagen.

Esther Dischereit, 1952 in Heppenheim/a.d.B. geboren; Studium in Frankfurt am Main; Ausbildung zur Pädagogin; Kuratorin für den Deutschen Gewerkschaftsbund, Berlin: contemporary art/new media; 1995 Fellow am Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Ab 1996 Gastlesungen an der University of Massachusetts, Amherst, Washington University of St. Louis, Cornell-University, Ithaca, MIT, Boston, University of California, Berkeley, Princeton University u.a. in USA und Kanada. Esther Dischereit erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Jüngste Arbeiten: Theater: "Heimat 24", Potsdam, 2005; Film: "Ein Kleid aus Warschau", Drehbuch zus. mit Michal Otlowski Warschau/Berlin 2007. Bücher: "Der Morgen an dem der Zeitungsträger", Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt a.M., (2007), "Im Toaster steckt eine Scheibe Brot", Vorwerk 8, Berlin (2007)